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Am Graben

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08.11.2004
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Am Graben

Identität kann etwas Wundervolles sein. Etwas Erschreckendes; manchmal zumindest. Identität ist notwendig, weil sie zeigt, wer wir sind. Man kann nicht ohne sie, aber zu oft auch nicht mit ihr.

„Es ist Freitagabend. Du bleibst Zuhause. Am Shabbat lass ich dich nicht losziehen. Wo willst du denn auch hin?“, entgegnete Avis Mutter auf seinen Wunsch hin, sich mit Freunden treffen zu dürfen. Ein leises „Ich möchte es aber.“ brachte Avi hervor, dann ging er zur Tür hinaus.
Seine Mutter schüttelte den Kopf, zwang sich dazu, ruhig zu bleiben.
Avi ging die Schotterstraße, die an seinem Haus vorbeiführte, hinunter, blickte auf seine schwarzen Schuhe, die sich durch den grauen Staub der Straße verfärbten und war froh darüber, wie ruhig doch das kleine Dorf war, in dem er lebte. Seine Familie kam aus Rumänien. Eine jüdische Familie. Ein tolles Schicksal, dachte Avi. Weder Freunde noch Nachbarn wussten davon. Ihre Religion ging niemandem etwas an, meinte Avis Mutter. Sie war sehr vorsichtig.
Avi selbst wusste kaum etwas über Traditionen und Grundsätze seines Glaubens. In Rumänien konnte man nicht in die Synagoge gehen. Jude sein viel schwer damals in der Heimat.
Er wich vom Weg ab. Ging über ein brach liegendes Feld, zog beim Gehen Farne aus dem Boden. Avi setzte sich an seinen Lieblingsplatz, den Graben bei der alten Brücke. Stundenlang saß er da. Dort traf er auch seine Freunde – Einsamkeit und Stille. Er hatte nämlich keine wirklichen Freunde. Wie könnte er auch ein Freund eines Schulkameraden sein, wenn er ihm doch verschweigen müsste, dass er Jude war? Schweigen ist Lüge.
Tag ein, Tag aus zog es ihn wieder zu seinem Plätzchen. Er konnte dort gut nachdenken. Mittlerweile war er 17 und die Frage nach der Definition seines Selbst schien ihm immer wichtiger geworden zu sein. Noch vor ein paar Jahren war er eben „Jude“. Das war ein Wort für ihn und weiter nichts. Das hatte keine Bedeutung und ein Problem war es auch nicht. Doch heute war es anders. Jetzt konnte er nicht mehr nur ein Wort sein. Gott, was sollte das auch schon wert sein? Was sollte es nur für einen Sinn haben, ein einzelnes allein gelassenes Wort zu sein, ein Schlagwort gar, wenn für ihn doch überhaupt keine Bedeutung darin zu liegen schien? Avi konnte nicht mehr „eben Jude“ sein, wenn er sich mit damit nicht identifizieren konnte. Wie sollte es ihm möglich sein, nur ein Wort zu sein, ein Begriff wie eine Hülle, die nichts weiter verbirgt als Leere? Avi suchte nach Inhalt. Und so kam er immer wieder zum Graben, zur Brücke.
Er starrte den Fluss unten im Graben an. Sein Blick war ausdruckslos. Worin bestand der Sinn dahinter, dass er nicht sein konnte wie die anderen, weil er Jude war, und nicht sein konnte, wie er selbst, weil er nicht wissen konnte, wer er war?
Jude – diese vier kleinen Buchstaben waren es, die so viel Schicksal zu tragen hatten, so viel Historie, Tradition und Unmengen von Leid. Und mit all dem stand Avi nicht in Verbindung. Er war es nie gewesen, doch vielleicht, so dachte er, würde er es einmal können. Ja, das musste es sein. Wenn Vergangenheit und Gegenwart es nicht zu lassen, so blieb doch die Hoffnung in der Zukunft.

„Hey Avi. Mein Großvater ist im KZ gestorben – Er fiel vom Wachturm“, sagte sein Sitznachbar in der Schule in der Pause zu ihm, „Der ist gut, oder?“. Avi lächelte gezwungen.
Nach der Schule ging er nicht nach Hause. Es ging hastig die Schotterstraße hinunter zur Brücke. Kletternd über das rostige Geländer kamen ihm die Tränen. Er hatte in der Schule die Gelegenheit bekommen, um diesem einen obskuren Wort, was seine Identität bestimmen sollte, Inhalt zu geben. Avi wusste, dass er nicht hätte lächeln dürfen. Er hätte für alle, die seine Mutter doch so oft beweinte, einstehen müssen. Aber er tat es nicht. Was war er nur für ein Mensch? Schweigen ist Lüge. Sein Lächeln war Lüge.
Avis Großmutter erzählte beim Abendessen:
„Es war im alten Russland. Ich wollte meinen Vater besuchen, der in einem kleinen Ort in der Nähe von Moskau arbeitete. Ich hatte vergessen, ihm am Morgen seine Brote einzupacken. Ich fuhr mit einem Bus dahin. Es war ziemlich klapprig. Und kalt war es darin. Der Schnee lag draußen bis zu den Knien hoch. Ich saß hinter einem Betrunkenen. Ich weiß nicht, wie er darauf kam, aber irgendwann hörte ich, wie er über die Juden wetterte. Er meinte, dass es besser wäre, ein Wilder in Sibirien zu sein, als ein Jude. Juden wären die unterste Schöpfung, die Gott vollbracht hätte, schwatzte dieser Mann. Und in diesem Augenblick entlud sich all meine Wut über die Menschen, die uns überall und zu jeder hassten, mir kamen die Tränen und ich merkte, wie ich zu zittern begann. Und ich stand auf, hob mit meiner rechten Hand sachte sein versoffenes Kinn hoch und scheuerte ihm mit meiner linken voll eine in die Fresse. Plötzlich war eine Totenstille um mich herum. Die Fahrgäste standen auf, packten mich und warfen mich aus dem Bus; und das bei voller Fahrt. Ich landete im Schnee. Es war bitterkalt und ich wusste nicht wo ich war. Aber ich war glücklich.“
Die Großmutter lächelte beim Erzählen und war nicht sehr zart besaitet. Das verriet allein schon ihre Ausdrucksweise. Und dennoch hatte sie Tränen in den Augen während sie wild gestikulierend veranschaulichte, wie man sich aus dem Bus warf. Avi lächelte. Diesmal nicht gezwungen. Ganz frei. Vielleicht bräuchte er auch so ein Schlüsselerlebnis.

Am nächsten Morgen blieb er der Schule fern. Sie war bedeutungslos geworden. Jemand, der nicht wusste, wer er war, musste erst einmal über sich selbst etwas lernen, bevor er weiter Dinge über andere gelehrt wird.
Es kletterte wieder über das Brückengeländer, schaute nach unten. Es musste etwas geschehen. Entweder er würde nun springen und so seine Suche nach seinem Ich beenden oder er würde eine Tat vollbringen, die seine Identität wirklich prägt wie bei seiner Großmutter etwa. Im Judentum war seit jeher die Vergangenheit von großer Bedeutung. Avi sah nur einen Weg, sich seine Anteilnahme zu beweisen: Es müsste einstehen für die Juden, wie er doch auch einer von ihnen war. Er wollte handeln.

Er ging nach Hause, suchte sich ein paar Kleidungsstücke, Geld und Verpflegung zusammen und hinterließ eine kurze Abschiedsnotiz: „Bin dort, wo ich für uns etwas bewegen kann“. Als Avis Mutter eintraf, las sie den Zettel und schmunzelte. Sie war sich nicht bewusst, was die Notiz für eine Bedeutung haben sollte.

Avi war auf dem Weg nach Berlin. Sein Bankguthaben reichte noch für eine Bahnfahrkarte. Angekommen in der Hauptstadt sah er sich eine Weile lang um. Er hatte zu wenig Geld für ein Zimmer in einem Motel, also zog er umher bis er eine verlassene und heruntergekommene Fabrikhalle in einem der ärmeren Stadtteile Berlins fand. Was für ihn ab dem heutigen Tag zutun war, war Avi genau klar. Er plante genau, wie er vorzugehen hatte und schien sich der Konsequenzen seines Handelns bewusst.
Avi besorgte sich für sein Vorhaben Telefonbuch, Stadtplan und anderes.

Er versteckte sich hinter einem Busch im Garten einen großen Anwesens. Es war etwa 2 Uhr morgens. Avi sah das Auto vorfahren. Ein Mann Mitte vierzig stieg aus. Avi holte tief Luft, rannte los und erreichte den Mann, bevor dieser zu seiner Haustür kam. Avi stach ihm ein Messer in die Seite. Der Mann fiel zu Boden. Avi beugte sich zu ihm hinunter und flüsterte ihm ins Ohr: „Sie und Ihre Partei sind Nazis. Jeder weiß das. Es ist die Zeit gekommen, in der die Verfolger zu Verfolgten werden“. Avi zeigte ein steinernes Herz und rannte weg.

Als er wieder in der Fabrikhalle, wo er lebte, angekommen war, erfasste ihn das Grauen. Avi hatte einen Menschen getötet. Einen wirklichen Menschen. Sein Volk war schon immer ein Volk der Verfolgten gewesen, nicht der Verfolger. Er hatte nichts begriffen. Er war nicht wie seine Großmutter, er war wie der Betrunkene. Avi nahm seine Sachen und verschwand aus Berlin.

Als er am nächsten Morgen Zuhause ankam, empfing seine Mutter ihm mit einer Ohrfeige. Sie wäre fast gestorben vor Sorge. Vier Tage war er weg. Ohne ein Wort.
Avi schwieg.

Noch am selben Tag, es war Nacht geworden, ging er die Schotterstraße hinunter. Er setzte sich an den Graben und begann, bitterlich zu weinen. Als er sich nach einiger Zeit wieder gefangen hatte, ging er zur Brücke und kletterte ein letztes Mal über das Geländer.

Er beendete die Suche nach sich selbst.

Identität kann etwas Wundervolles sein. Etwas Erschreckendes; manchmal zumindest. Identität ist notwendig, weil sie zeigt, wer wir sind. Man kann nicht ohne sie, aber zu oft auch nicht mit ihr.

 

Die Geschichte ist nur eine Erstfassung. Da fehlt der Feinschliff. Um ehrlich zu sein, habe ich die Geschichte auch nicht ein einziges Mal nach dem Schreiben durchgelesen. Ich möchte von euch lediglich wissen, ob euch die Idee hinter der Geschichte zusagt.

 

Erstfassung hin oder her: Mir gefällt die Geschichte.
Die Idee ist zwar radikal, aber sehr aussagekräftig. Wüsste ich nicht, dass du Jude bist, könnte man diese Geschichte vielleicht auch missverständlich aufnehmen. Aber da sollten sich andere zu Wort melden.
Warum genau möchtest du wissen, wie gut die Idee dahinter ist?

Wenn ich genau darüber nachdenke, ich die Botschaft aber schon ziemlich düster. Ziemlich tragisch dein Protagonist...

 

Da sprichst du gute Punkte an: Radikal sollte die Geschichte sein. Auch die Botschaft sollte "düster" (wenn das das richtige Wort dafür ist) sein.
Ich will mit meiner Geschichte eine Art Tabuthema in Deutschland anschneiden: Der Jude, der auch Schuld auf sich laden kann. Man traut sich in Deutschland in der Literatur, vielleicht zurecht, nicht, einen ambivalenten Juden zu zeigen, der auch Fehler begeht.

Ich fragte das mit der Idee, weil ich plane, aus der Geschichte ein Drehbuch zu machen. Oder auch einen Roman. Oder beides.^^

 

Hallo Anubis

Das mit dem Drehbuch würde ich begrüssen! Das wäre bestimmt ein suuper Film!

Aber etwas verstehe ich an der Pointe nicht: Als die Grossmutter den Betrunkenen ins Gesicht schlug, hat sie doch genau so Gewalt angewandt wie ihr Enkel auch?

und 2.: Du solltest meiner Meinung nach die Grossmutter noch mehr ins Geschehen miteinbeziehen. Der Protagonist sollte sich in seinem ganzen Prozess noch mehr auf seine Grossmutter beziehen. Sozusagen, dass sie sein Vorbild wird und er sich deshalb am Schluss zum Entscheidenden Schritt veranlasst fühlt. Wäre jetzt mein Vorschlag, aber habe auch gerade gemerkt, dass es das so einige logische Lücken gibt. Na ja schaust e mal...


Liebe Grüsse Sabrina

 

Nun, Gewalt hat sie schon angewandt, aber erstens wurde sie provoziert und zweitens hat sie niemanden getötet.
Aber du hast Recht; die Großmutter muss noch mehr mit in die Handlung hinein.
Und umso schöner ist es, zu hören, dass dir die Idee mit dem Drehbuch gefällt.
Vielen Dank für deine Kritik,
André

 

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