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Am liebsten nach Chennai

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05.07.2020
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Am liebsten nach Chennai

Sie meldeten sich am Samstagmittag bei mir. Sie hatten meinen Namen in ihrer Kartei bei Hofmann Personal und fragten, ob ich einen Job bräuchte. Im Gefängnis hatte ich mit Holz gearbeitet, ganz früher sogar mal eine Ausbildung zum Schreiner angefangen und eine Zeitlang in einer kleinen Tischlerei im Wedding gearbeitet, aber das war lange her und seit Jahren hangelte ich mich von Zeitarbeit zu Zeitarbeit.
Am Montag fuhr ich mit dem Bus in das Industriegebiet. Die letzten dreihundert Meter ging ich über den Bahndamm und rauchte eine Zigarette. In der Lagerhalle stand ich zusammen mit zweihundert anderen vor langen Tischen, die sie aufgebaut hatten. Darauf befanden sich Dutzende Behälter. Wir sollten die Briefe herausnehmen, die Schriftstücke und die Signatur kontrollieren und auf Schäden oder Verunreinigungen überprüfen. Die aussortierten Briefe kamen in eine rote Kiste, alle anderen in eine blaue, und so ging es den ganzen Tag. Ich hatte keine Ahnung, wofür das gut sein sollte, und es war mir auch egal. Ich ließ mir Zeit, aber für eine Sichtung brauchte ich kaum länger als zehn Sekunden. Die Arbeit war für anderthalb Wochen veranschlagt, und ich hatte schon nach einer Stunde genug von diesem Ort. Die vollen Kisten wurden mit Rollwagen abgeholt, um gescannt oder vielleicht auch verbrannt zu werden, wer wusste das schon? Als von einem der Wagen einmal mehrere Kisten herunterfielen und die Briefe überall auf dem Boden und zwischen den Tischen herumflogen, lachte der ganze Tisch.
Neben denjenigen, die die Briefe sortierten, so wie ich es tat, gab es ein paar Männer, die sich abseits hielten. Sie trugen keine gleichförmigen Klamotten, keine Uniformen oder so etwas, aber trotzdem war klar, wer zu ihnen gehörte und wer nicht. Man hatte sie uns in die Halle gestellt, damit sie uns auf die Finger schauen und kontrollieren konnten, ob wir auch tatsächlich arbeiteten. Aber sie nahmen ihren Job so ernst wie ich. Meistens standen sie zusammen in einer Ecke der Halle, unterhielten sich und ließen uns in Ruhe. Ein unausgesprochenes Gesetz, das ich auch aus anderen Jobs kannte, ließ nichts anderes zu. Nur einer von ihnen, ein hagerer Typ mit Glatze und einer silbernen, schwergliedrigen Kette um den Hals, nahm die Rolle, die man ihm zugeschanzt hatte, ernst und brach diesen Pakt. Er ging umher, blaffte die Leute an den Tischen an und versuchte, uns zu einem höheren Pensum anzutreiben. Er hatte eine kehlige Stimme, die nicht so recht zu seiner ausgezehrten Gestalt passen mochte. Man hörte ihn, wenn er loslegte, auch noch zwei Ecken weiter. Soweit ich es sah, nahm ihn niemand wirklich ernst. Wenn er kam, unterbrach man sein Gespräch für den Moment, und wenn er weiterging, nahm man seine Unterhaltung wieder auf. Auf sein Gezeter ging nie jemand ein, wenn er meinte, laut werden zu müssen. Ich kannte solche wie ihn, hatte oft genug mit ihnen zu tun gehabt. Große Fresse, Amstaff-Jogginghose, immer besonders laut, aber wenn es auf die Backen gibt, die ersten, die das Maul halten. Ich wusste, dass er im Grunde nur ein armes Schwein war, aber für mich waren Typen wie er trotzdem der letzte Dreck und ich glaube, dass er das spürte, denn er ließ mich in Ruhe, egal wie schnell oder langsam ich arbeitete.

An meinem Tisch sprach kaum jemand Deutsch. Viele redeten Arabisch miteinander, ein paar Schwarze unterhielten sich auf Französisch und in meiner Nähe arbeitete auch eine Gruppe Frauen. Sie waren aus Indien oder Bangladesch, das wusste ich nicht so genau. Sie lachten, machten Scherze, und einmal da sangen sie sogar. Leise und nur für einen kurzen Augenblick, aber es klang sehr schön. Eine der Frauen fiel mir auf. Sie war etwas korpulenter als die anderen und ging mir vielleicht bis zur Schulter. Ihre schwarzen Haare hatte sie zu einem Zopf zusammengebunden. Mir gefiel, wie sie auf die Glatze reagierte, als er vorüberging. In ihren Augen spiegelte sich dann eine Mischung aus Spott und Mitleid und am Ende war er es, der den Blick abwand.
Ich sprach sie in der Pause an. Sie stand im Flur und trank Kaffee. „Is the coffee good?“, fragte ich. Wann hatte ich das letzte Mal etwas zu jemandem auf Englisch gesagt? Ich konnte mich nicht erinnern. Sie sah mich an. Ich deutete auf den Becher in ihrer Hand und sie lächelte. Dann zuckte sie mit den Achseln.
„Ist okay für Automatenkaffee, denke ich.“ Sie sprach langsam, mit kaum erkennbarem Akzent. Es war mir natürlich peinlich, dass ich angenommen hatte, dass sie kein Deutsch konnte, aber ich ging darüber hinweg, tat, als wäre nichts gewesen.
„Okay, reicht mir“, sagte ich und suchte in meiner Hosentasche nach ein paar Münzen für den Automaten. Ich zahlte, drückte auf den Knopf und stellte einen Becher unter die Maschine.
„Wir arbeiten am selben Tisch“, sagte sie, und ich nickte.
„Stimmt.“ Ich hielt ihr die Hand hin. „Günther.“
Sie griff zu. Ich war überrascht, sie hatte einen sehr festen Händedruck.
„Lasala.“
Ich nahm den Becher, trank einen Schluck und verzog das Gesicht. Sie lachte und schloss dabei ihre Augen.

Am Abend saß ich in meiner Küche. Mein Rücken schmerzte vom langen Stehen und meine Knie konnte ich auch spüren. Sie hatten gesagt, dass sie uns Stühle hinstellen wollten, aber das würde ich erst glauben, wenn ich welche sah.
Ich hatte meinen alten Atlas aus dem Regal geholt. Ein blauer stilisierter Planet und rote Pfeile waren auf dem Umschlag abgebildet. Als ich einfuhr, hatte ein Freund meine paar Sachen in Kartons gepackt und in seiner Garage aufbewahrt, und als ich wieder rauskam, hatte er mich bei sich auf dem Sofa schlafen lassen und mir geholfen, eine Wohnung zu finden. Später brach der Kontakt ab und das letzte Mal hab ich ihn vor fünf oder sechs Jahren gesehen, als er mit seiner Tochter unterwegs war. Wir haben nur ein paar Worte miteinander gewechselt und er sah mich dabei nicht mal richtig an.
Ich suchte im Inhaltsverzeichnis nach dem indischen Subkontinent, schlug die angegebene Seite auf und fuhr mit dem Finger über die Karte. Meine Fingerspitzen waren dunkel verfärbt von der Druckertinte der Briefe. Ich hatte versucht, die Farbe abzuwaschen, aber sie hielt sich hartnäckig. Ich wanderte über Mumbai und betrachtete den Golf von Bengalen, fuhr nördlich bis nach Bangladesch. Weiter als bis Stettin war ich in meinem Leben nie gekommen. Auf der PVC-Tischdecke war ein Kaffeefleck und ich kratzte mit meinem Daumennagel daran herum. Im Radio lief Sport, aber ich hörte nicht hin.

„Wo kommst du her?“, fragte ich am nächsten Tag. Sie strich mit ihren Fingern die Maserung ihres Bechers entlang. Ich lehnte an der Wand und beobachtete sie.
„Aus Indien, Chennai. Aber das ist lange her. In Deutschland bin ich seit über zehn Jahren.“
„Liegt am Meer, oder? Chennai, mein ich.“
Sie hob die Augenbrauen. „Du kennst die Stadt?“
Ich schüttelte den Kopf. „Wollte nur ein bisschen angeben. Ich war nie weiter als in Polen.“
Wir lachten. Als die Pause vorbei war, warfen wir unsere leeren Becher in den Mülleimer neben dem Kaffeeautomaten.
Nach der Arbeit fuhr ich mit dem Bus nach Hause. An einer Haltestelle stiegen eine Frau und ihr Junge aus. Sie, mit den schweren Tüten in den Händen, ihr Sohn durch dunkle Pfützen stapfend voran, durch den Regen in Richtung der Siedlungen. Ich sah ihnen nach. Tropfen schlugen gegen die Scheibe und liefen in langen Schlieren daran herab. Während ich dämmerte, immer wieder hochschreckte, wenn der Bus hielt und sich die Türen zischend öffneten, dachte ich an Lasala, die an meinem Tisch arbeitete und Briefe sortierte, viel schneller, als ich es konnte.

„Warum arbeitest du eigentlich hier?“, fragte sie. „Kenn kaum einen Deutschen, der das macht.“
Wir standen vor der Halle auf dem Parkplatz. Die Sonne war zwischen den Wolken herausgekommen und es war etwas wärmer als die letzten Tage.
„So richtig ausgesucht hab ich mir das nicht“, sagte ich. „Aber muss irgendwie meine Miete bezahlen. Und bisschen was essen will man ja auch. Früher stand ich jahrelang schwarz aufm Bau und schleppte Zement, aber die Knie machen das nicht mehr mit. Jetzt eben so was hier. Ab und an, da putz ich auch mal Flure und Büros, das ist mir egal. Hauptsache, die vom Amt steigen mir nicht aufs Dach.“
„Dachte zuerst, du gehörst zu denen, so wie du aussiehst.“ Sie deutete auf die hagere Glatze, die ein paar Tische weiter herumstolzierte.
„So tief bin ich noch nicht gesunken. Aber stimmt schon, viel Auswahl habe ich nicht.“
Sie nickte und ich war froh, dass sie nicht weiter nachfragte. Wir lehnten an der Wand, ich rauchte und eine Weile schwiegen wir.
„Hast du eine Frau?“, fragte sie irgendwann. Sie hatte die Augen geschlossen und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen.
Ich schüttelte den Kopf. „Auch keine Kinder. Was ist mit dir?“
„Zwei Kinder. Mein Sohn wird bald eingeschult und meine Tochter geht schon in die fünfte Klasse. Kleine Monster!“
Wir lachten. Sie erzählte, wie sie mit ihrem Mann im Winter vor Jahren nach Berlin gekommen war. Sie hatten einige Monate zusammen mit der Tochter in einer Ein-Zimmer-Wohnung in Hellersdorf gelebt. Die Heizung fiel nach zwei Wochen aus und als der Hausmeister nichts dagegen unternehmen wollte, war ihr Mann drauf und dran gewesen, dem Kerl an den Hals zu gehen.
„Er wollte draußen auf ihn warten, mit einem Besen in der Hand, verstehst du?“ Sie lachte und ich lachte auch, aber ich verstand, dass es nicht einfach gewesen war. Ihr Mann hieß Bharat. Er arbeitete als Pflegehelfer in einem Altenheim. Ich versuchte, mir vorzustellen, was er wohl dazu sagen würde, wenn er wüsste, dass ich mit seiner Frau in der Mittagspause Kaffee aus kleinen Plastikbechern trank und meinen Blick nicht von ihr nehmen konnte. Vielleicht wusste er es? Vielleicht hatte Lasala von mir erzählt. Von dem großen Deutschen, der nicht zu den Vorarbeitern gehörte.
„Du würdest ihn mögen“, sagte sie.

Es hatte zu regnen begonnen, und weil ich einen Schirm mitgenommen hatte, bot ich an, sie zu ihrer Haltestelle zu begleiten. Wir standen unter dem Wartehäuschen, eng gedrängt mit anderen, die wie wir auf den Bus warteten. Die Tropfen schlugen hart auf das Pflaster der Straße, so dass sich ein diesiger Nebel bildete, und das Prasseln war so laut, dass wir uns kaum verstanden, wenn wir etwas sagten. Ich begann, mir eine zu drehen. Als ich fertig war, machte Lasala eine Handbewegung und nickte mir zu. Überrascht gab ich ihr meine Zigarette, nahm ein neues Papier und krümelte etwas Tabak darauf. Ich gab uns Feuer, erst ihr, dann mir, und dann rauchten wir und sahen dem Wasser zu, das die abschüssige Straße entlangfloß, das Prasseln des Regens auf dem Dach so seltsam laut, beinahe wie in einem Traum.
Als der Bus kam und schnaufend neben uns hielt, drehte sich Lasala zu mir und wir umarmten uns hastig, so wie es zwei Bekannte tun, die sich voneinander verabschieden. Sie stieg ein, ihre Kapuze über dem Kopf, und ich verlor sie aus den Augen, weil wegen der Feuchtigkeit im Bus die Scheiben beschlagen waren. Ich stand noch zwei oder drei Minuten unter dem Wartehäuschen, obwohl der Bus längst davongefahren und der Regen in ein harmloses Nieseln übergegangen war. Ich dachte an unsere Umarmung und daran, wie sie sich angefühlt hatte, trotz der dicken Jacken, die wir trugen, und trotz des Regens, und obwohl wir uns ja nur voneinander verabschiedet hatten, wie zwei Bekannte es tun würden.

Am späten Freitagnachmittag verließen wir die Halle und unterhielten uns über das anstehende Wochenende. Sie erzählte, dass Freunde zu Besuch kommen und sie gemeinsam etwas kochen würden. Auf dem Parkplatz stand ein Mann und sah in unsere Richtung.
„Da ist Bharat“, sagte Lasala und winkte. Er kam auf uns zu, und ich versuchte, irgendeine Art angemessenen Blickkontakts aufzunehmen. Er beachtete mich kaum, warf mir nur einen flüchtigen Blick zu, bevor Lasala und er sich begrüßten. Er strich ihr über die Schulter, sie fasste eine Stelle oberhalb der Rippen, fuhr mit ihrem Daumen darüber und beide lächelten. Ich stand daneben und kam mir vor wie ein Idiot. Peinlich berührt vergrub ich die Hände in den Hosentaschen. Lasala sagte etwas und ich meinte, meinen Namen herauszuhören. Bharat drehte sich zu mir, streckte seinen Arm aus und wir gaben uns die Hand. Er hatte ein freundliches Gesicht und einen dunklen Dreitagebart. Er sah müde aus, hatte Schatten unter den Augen, aber er lächelte, als er meine Hand schüttelte, und ich glaube, dass es ein aufrichtiges Lächeln war. Er stellte sich vor. Dann standen wir nebeneinander und einen Moment lang sagte niemand mehr etwas. Ich wollte mich gerade verabschieden, als Lasala fragte, ob ich nicht auch am Abend zum Essen kommen wollte. Bharat verzog keine Miene, aber sein freundliches Gesicht wirkte eingefroren. Ich zögerte.
„Danke, das ist wirklich sehr nett“, sagte ich. „Aber ich kann leider nicht kommen. Tut mir leid.“
Lasala nickte, als wüsste sie Bescheid. Sie lächelte, aber ich meinte, in ihrem Blick so etwas wie Enttäuschung zu sehen. Sie nahm meine Hand und ich erschrak.
„Nächstes Mal!“, sagte sie bestimmt. Nächste Woche, ja?“
„Nächste Woche“, sagte ich. „Abgemacht.“ Sie ließ meine Hand los.
Zum Abschied winkte ich. An einer Straßenecke blieb ich stehen. Andere aus der Halle, die wie ich zum Busbahnhof unterwegs waren, überholten mich. Ich drehte mich noch einmal um, ging ein paar Schritte zurück und sah um die Ecke, aber da waren die beiden schon nicht mehr da.

Am Abend bekam ich einen Anruf von Hofmann Personal. Sie sagten, dass der Auftrag früher als geplant abgeschlossen wäre, und sie meinten, ich bräuchte am Montag nicht mehr zu kommen. Natürlich, die wurden pauschal für jeden Auftrag bezahlt. Wenn wir früher fertig waren, umso besser. Dann zahlten sie uns die Stunden, die wir dagewesen waren, strichen die Differenz ein und machten einen Schnitt. Und jedem von uns fehlten am Ende ein paar hundert Euro. Sie fragten, ob sie mich bei Bedarf wieder anrufen könnten. Ich legte auf.
Ich ging zu einem Kiosk drei Straßen weiter. Der Mann hinter dem Verkaufstresen gab mir ein Bier. Ich bezahlte und trank die Hälfte davon in einem Zug, dann den Rest und dann noch eine zweite Dose. Nach der vierten meinte der Mann in seinem Kabuff, der bisher kein Wort gesagt hatte, ob ich nicht gleich zehn Biere kaufen wolle, dann könnten wir uns einen Teil des Aufwands sparen. Ich nickte, drehte mich um und ging. Er rief mir noch hinterher, wo ich denn jetzt so plötzlich hinwolle.
„Am liebsten nach Chennai“, antwortete ich leise.
Noch lange saß ich an meinem Küchentisch und dachte an Lasala. An ihren Nachnamen, den ich nicht kannte, und an die Adresse, die ich nirgendwo finden würde.

Am Montagmorgen fuhr ich mit dem Bus in das Industriegebiet. Bevor ich meine Wohnung verließ, riss ich vorsichtig mit beiden Händen die Seite des indischen Subkontinents aus dem Atlas heraus. Es war nicht schwer, die Leimbindung löste sich bereits. Ich faltete das Papier in der Mitte zusammen und steckte es in meine Jackentasche.
Ich lief die dreihundert Meter frierend über den Bahndamm. Ich ging über den Parkplatz. Er war beinahe leer, nur ein paar wenige Autos standen herum.
Die Halle war abgeschlossen, kein Mensch da und der ganze Ort sah mit einem Mal so anders aus, als wäre ich niemals vorher hier gewesen. Ich lehnte mich gegen die Eingangstür und blickte über den verwaisten Parkplatz und auf die gegenüberliegende Straßenseite. Ich wartete, befühlte das Papier in meiner Tasche, während ich fror und der Wind gegen meine Jacke schlug. Eine Frau kam den Gehweg entlang. Einen kurzen Moment dachte ich, sie wäre es, doch sie ging vorbei, ohne ihre Schritte zu verlangsamen.

 

Lieber @Habentus,

vorweg: Ich habe aus Zeitgründen die Vorkritken nicht gelesen, aber ich persönlich denke immer so, dass jede zur Not sich ewig wiederholende Kritik, eben nur von anderen Kritikern doch Sinn macht, einfach, weil jeder meist eine andere Ecke einer Geschichte beleuchtet.
Also mir würden Doppelungen nie langweilig bei Feedbacks sein und das unterstelle ich auch einfach mal all den andren Challengeteilnehmern.

Ich habe mich dabei ertappt, dass ich an nur sehr sehr wenigen Stellen und das meist eher anfänglich den Impuls verspürte, anzuhalten und eine Textzeile rauszukopieren, um dazu eine Anmerkung später zu machen. Je weiter deine Geschichte weiterfloss, desto mehr befand ich mich mittendrin in deiner Erzählung.

Das ist bei meiner Beurteilung deiner Geschichte auch genau der Punkt, den ich besonders hervorheben möchte: Du hast einen sehr angenehmen Erzählstil. Es fließt dahin und ich habe mich mit deinen Worten treiben lassen, an keiner Stelle gelangweilt, du hast mich nie als Leserin verloren, im Gegenteil ich hätte jetzt bequem so einfach weiterlesen können.
Eine klare Sprache hast du, was mir gut gefällt und ich habe bei dir auch keine Tendenz entdeckt, zuviel mitteilen zu wollen, insbesondere Überflüssiges.
Nur an zwei Stellen, aber die zeige ich dir nachher auf, war es so, dass ich dachte, dass du sie entfernen könntest.

Diese sich anbahnende zarte Liebesgeschichte hast du geschickt angelegt, indem du einfach nur schilderst, wie sich die beiden näher kommen. Geschickt, weil nichts in deinem Text zu finden ist, das auf eine Liebesgeschichte explizit hinweist. Du beschreibst, was er alles tut, um mit ihr in Kontakt zu sein und gibst zarte Hinweise, dass es ihn erwischt haben könnte, aber wirklich nur angedeutet. Und der Zauber deiner Geschichte, also der Zauber der sich anbahnenden Beziehung besteht genau darin, dass es nur Andeutungen sind und genügend Raum für den Leser gelassen wird, die eigene Phantasie zu nutzen. Gut gemacht.

Beide Figuren wirken hochsympathisch und dein Text ist ein hervorragendes Beispiel dafür, dass man nicht immer kaputte, gebrochene Typen erschaffen muss, um eine gute Geschichte zu erzählen. Es funktioniert auch mit sympathischen Figuren, es kommt immer nur darauf an, wie der Autor den Sog in einer Geschichte hervorruft. Und dieser Sog ist eines der effektivsten Mittel einer guten Geschichte oder eines Romans, es ist die Sehnsucht.

Man spürt, dass dein Protagonist sehr viel tun würde, um mit Lasala enger zusammen sein zu können, für ihn ist es quasi bereits Fakt, dass er diese Frau mag oder sogar mehr als nur mag, vielleicht sogar begehrt.
Und bei ihr bleibt es, allein schon wegen der Tatsache, dass sie verheiratet ist, etwas vage, aber genau das macht deine Geschichte spannend. Während du den Leser erkennen lässt, was dein Protagonist fühlt, bleibt es bei ihr nicht sicher und so erzielst du genau diesen Sog. Man möchte als Leser, dass es dem Protagonisten gelingt, enger mit Lasala zusammen zu kommen. Du teilst seine Sehnsucht mit dem Leser. Und genau deswegen, weil wir alle (naja, Ausnahmen gibt es immer) manchmal schwer happyendsüchtig sind, geht diese Geschichte auf.

Im Gefängnis hatte ich mit Holz gearbeitet, ganz früher sogar mal eine Ausbildung zum Schreiner angefangen und eine Zeitlang in einer kleinen Tischlerei im Wedding gearbeitet, aber das war lange her und seit Jahren hangelte ich mich von Zeitarbeit zu Zeitarbeit.
Die gesamte Information, dass er im Gefängnis war, ist mir nicht wichtig, sie macht deinen Protagonisten nicht interessanter und es ist auch innerhalb des Geschehens keine Stelle, wo ihm diese Tatsache zugute kommt oder sie sich negativ auswirkt.
Ich würde es daher streichen.
seit Jahren hangelte ich mich von Zeitarbeit zu Zeitarbeit.
Und dann bliebe nur dieser Satz.
Die Arbeit war für anderthalb Wochen veranschlagt, und ich hatte schon nach einer Stunde genug von diesem Ort.
Perfekt dargestellt und diese Erkenntnis nimmt man dem Protagonisten sofort ab.
Man hatte sie uns in die Halle gestellt, damit sie uns auf die Finger schauen und kontrollieren konnten, ob wir auch tatsächlich arbeiteten.
Das grenzt ja schon an Sklavenhaltung.
Nur einer von ihnen, ein hagerer Typ mit Glatze und einer silbernen, schwergliedrigen Kette um den Hals, nahm die Rolle, die man ihm zugeschanzt hatte, ernst und brach diesen Pakt. Er ging umher, blaffte die Leute an den Tischen an und versuchte, uns zu einem höheren Pensum anzutreiben.
Gut beschrieben, ich habe sofort eine Person vor Augen und finde sie in Solidarität mit dem Protagonisten widerwärtig.
Mir gefiel, wie sie auf die Glatze reagierte, als er vorüberging. In ihren Augen spiegelte sich dann eine Mischung aus Spott und Mitleid und am Ende war er es, der den Blick abwand.
Super Szene, die so viel über sie aussagt, und gleichzeitig sagt sie aber auch etwas über den Protagonisten aus. Er ist bereits am Haken würde ich etwas volkstümlich an dieser Stelle sagen.
„Ist okay für Automatenkaffee, denke ich.“ Sie sprach langsam, mit kaum erkennbarem Akzent. Es war mir natürlich peinlich, dass ich angenommen hatte, dass sie kein Deutsch konnte, aber ich ging darüber hinweg, tat, als wäre nichts gewesen.
Ja, gut beschriebene peinliche Szene, ich kenne solche Situationen auch.
„Okay, reicht mir“, sagte ich und suchte in meiner Hosentasche nach ein paar Münzen für den Automaten.
Tolle Antwort.
Als ich einfuhr, hatte ein Freund meine paar Sachen in Kartons gepackt und in seiner Garage aufbewahrt, und als ich wieder rauskam, hatte er mich bei sich auf dem Sofa schlafen lassen und mir geholfen, eine Wohnung zu finden. Später brach der Kontakt ab und das letzte Mal hab ich ihn vor fünf oder sechs Jahren gesehen, als er mit seiner Tochter unterwegs war. Wir haben nur ein paar Worte miteinander gewechselt und er sah mich dabei nicht mal richtig an.
Auch hier, sicherlich kannst du dir bereits denken, was ich vorschlagen werde, kannst du diesen Absatz bequem löschen, ohne dass in der Geschichte etwas fehlen würde.
Ich schüttelte den Kopf. „Wollte nur ein bisschen angeben. Ich war nie weiter als in Polen.“
Wie sympathisch, so aufrichtig zu sein und treffende Antwort.
Wir lachten. Als die Pause vorbei war, warfen wir unsere leeren Becher in den Mülleimer neben dem Kaffeeautomaten.
Man könnte meinen, Himmel, wozu schreibt er solch Banalität auf, aber genau das ist es hier nicht, du schilderst nämlich eine Szene, in der sie sich beide spiegeln. Beide warfen ihre Becher in den Mülleimer. So verrückt das klingt, aber wenn du dich mal ein bisschen mit Psychologie beschäftigst, wirst du über diese Spiegelungen erfahren können, dass sie unbewusst passieren und durch sie ein empathisches Verständnis der Zugehörigkeit entstehen kann. Man ist auf gleicher Wellenlänge und sich somit sympathisch. Und das alles wird in diesem wichtigen Satz geschildert.

„So tief bin ich noch nicht gesunken. Aber stimmt schon, viel Auswahl habe ich nicht.“
Auch hier wieder diese sympathische entwaffnende Ehrlichkeit. Gut.
„Er wollte draußen auf ihn warten, mit einem Besen in der Hand, verstehst du?“ Sie lachte und ich lachte auch, aber ich verstand, dass es nicht einfach gewesen war.
Gefällt mir, dass an dieser Stelle wieder nicht klar wird, wie sie zum Protagonisten steht. Erzählt sie ihm das von ihrem Mann, weil sie ihn eigentlich wie den Glatzköpfigen mit ein wenig Spott bedenkt, weil er so dilettantisch mit dem Besen agieren wollte oder will sie eigentlich nur locker eine lustige Szene beisteuern? Das bleibt für mich offen und das ist gut so, weil das Fragezeichen bleibt, was sie wohl so gegenüber dem Protagonisten fühlen mag.
Die Tropfen schlugen hart auf das Pflaster der Straße, so dass sich ein diesiger Nebel bildete, und das Prasseln war so laut, dass wir uns kaum verstanden, wenn wir etwas sagten.
Super Regenszene. Besonders mit dem lauten Regen. Bevor da zwischen den beiden romantisches Gerede aufkommt, haut der Regen die Silben weg.
Überrascht gab ich ihr meine Zigarette, nahm ein neues Papier und krümelte etwas Tabak darauf. Ich gab uns Feuer, erst ihr, dann mir, und dann rauchten wir und sahen dem Wasser zu, das die abschüssige Straße entlangfloß, das Prasseln des Regens auf dem Dach so seltsam laut, beinahe wie in einem Traum.
Und weiter geht es mit den schönen feinsinnigen Vertraulichkeiten. Wir geben nicht jedem xbeliebigen Menschen unsere selbstgedrehte Zigarette. Schöne Szene.
Ich dachte an unsere Umarmung und daran, wie sie sich angefühlt hatte, trotz der dicken Jacken, die wir trugen, und trotz des Regens, und obwohl wir uns ja nur voneinander verabschiedet hatten, wie zwei Bekannte es tun würden.
Dieses wie sie sich angefühlt hatte "trotz der dicken Jacken" ist ziemlich beredt. Und meine Phantasie wird angeregt, wie es ihm damit wohl ergangen ist.

Feine Geschichte. Und eine, ich staune selbst darüber, bei der ich nichts wirklich zu kritisieren hatte.

Lieben Gruß

lakita

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo liebe @lakita ich habe mich wirklich sehr über deinen Kommentar gefreut, denn was gibt es für ein größeres Kompliment als deine Worte hier:

Feine Geschichte. Und eine, ich staune selbst darüber, bei der ich nichts wirklich zu kritisieren hatte.
Ich muss sagen, dass ich einige der von dir als gelungen empfundenen Stellen nachträglich und erst nach Anregungen von anderen Kommentatoren hin geändert habe. Es zeigt sich also immer wieder, wie wertvoll der Austausch hier sein kann, denn ich finde auch, dass der Text insgesamt davon profitiert hat, auch wenn ich anders als du, nicht sagen würde, dass es nichts zu kritisieren gibt. Aber vielleicht ist man selbst auch immer ein wenig kritischer.

Zu dem Hintergrund des Protagonisten und der Frage, ob sein Gefängnisaufenthalt inhaltlich problemlos gestrichen werden könnte, bin ich mir nicht so sicher. Die Frage kam auch schon in anderen Kommentaren auf, bzw. der Hinweis, dass man sich mit sowas auch immer am Rande des Klischees bewegt (abgehängt und dann natürlich auch noch Knasti ...).
Ich muss aber sagen, dass sich das ganz einfach mit meinen eigenen Erfahrungen deckt. Ich kenne die Arbeitswelt des Niedriglohnsektors und weiß auch, wer da arbeitet, zu welchen Bedingungen und was da manche Schicksale sind. Natürlich ist nicht jede Person in der Zeitarbeit (sowieso eine komplett differenzierte Arbeitswelt) ein ehemaliger Insasse. Aber es gibt sie. Jetzt wäre die Frage aber berechtigt, ob das für diesen Text eine Bewandtnis hat, oder ob es nicht problemlos rausgenommen werden könnte. Ich meine nach nochmaligem Überdenken: Nein. Denn gerade diese Szene ...

Als ich einfuhr, hatte ein Freund meine paar Sachen in Kartons gepackt und in seiner Garage aufbewahrt, und als ich wieder rauskam, hatte er mich bei sich auf dem Sofa schlafen lassen und mir geholfen, eine Wohnung zu finden. Später brach der Kontakt ab und das letzte Mal hab ich ihn vor fünf oder sechs Jahren gesehen, als er mit seiner Tochter unterwegs war. Wir haben nur ein paar Worte miteinander gewechselt und er sah mich dabei nicht mal richtig an.
... ist für mich einfach wichtig dahingehend, dass sie die Einsamkeit und den Verlust an sozialen Beziehungen des Protagonisten noch mal verdeutlicht, verbunden mit Scham und Abkehr. Ich werde mir deine Worte aber auf jeden Fall im Kopf behalten, da noch mal ein wenig drauf rumdenken und ggf. wirklich in ein paar Tagen was verändern. In jedem Fall danke fürs Aufzeigen!

Das grenzt ja schon an Sklavenhaltung.
Das wurde auch angemerkt. Ich hatte das auch noch mal verändert (in einer früheren Version war da mehr zu). Eigentlich soll das gar nicht so rüberkommen. Es gibt aber Jobs (gerade diese temporären Aufträge), bei denen das so ähnlich passiert. Da geht es dann wirklich darum, dass Zeit gespart wird, damit nicht alles an Lohn ausgezahlt werden muss, gleichzeitig aber die Auftragspauschale in Gänze eingestrichen werden kann. Arbeitsrechtlich ist das ja ohnehin oft alles durchwachsen, aber gewerkschaftlich erschlossen ist da halt auch leider wenig.
Aber: Sklavenhaltung ist das nicht. Da gibt es oft ganz viele Formen des Widerstandes und der passiven Antihaltung gegen so etwas. Und die Leute spüren das und halten sich da auch zurück. Anders ist das beispielsweise, wenn festangestellte Schichtleiter (aber nicht nur die) auf Zeitarbeitende treffen. Da gibt es dann mitunter wirklich ein ganz ekelhaftes Hierarchiegehabe.

Danke für deine Zeit und deinen sehr schön zu lesenden Kommentar, der mich wirklich gefreut hat!
Beste Grüße
Habentus

 

Lieber @Habentus ,

ich muss mich nochmals melden, weil ich befürchte, es baut sich ein Missverständnis zwischen uns auf.

Zunächst zur sozusagen kriminellen Vorgeschichte deines Protagonisten:

... ist für mich einfach wichtig dahingehend, dass sie die Einsamkeit und den Verlust an sozialen Beziehungen des Protagonisten noch mal verdeutlicht, verbunden mit Scham und Abkehr. Ich werde mir deine Worte aber auf jeden Fall im Kopf behalten, da noch mal ein wenig drauf rumdenken und ggf. wirklich in ein paar Tagen was verändern. In jedem Fall danke fürs Aufzeigen!
Oh ja, das verstehe ich absolut. Du willst seine Situation verschärft darstellen, um die Tragik, die in ihm steckt, zu erhöhen.
Lass es ruhig drin.
Was ich meinte, war, dass deine Figur auch ohne diesen Aspekt mir plastisch, zugänglich und facettenreich genug erschien, ich hätte deswegen die beiden Einschübe nicht gebraucht.

Etwas anderes wäre es, wenn Lasala es erfährt und man dann erlebt, dass sie trotzdem ihn nach wie vor freundlich behandelt und ihn schätzt. Dann sagt das noch zusätzlich etwas über sie Wichtiges aus.
Aber es ist aus meiner Sicht kein Fehler, es drin zu lassen.

Ich finde, dass ist oftmals ein Problem, wenn man ein Feedback unter eine Geschichte setzt.
Man hat unweigerlich, vielen ist es gar nicht bewusst, Sätze, Ausdrücke, Charaktereigenschaften bei den Figuren, die einem auf der Stelle sympathisch sind, ohne, dass man das genau begründen könnte. Es ist eben so.

Das alles gibt es natürlich auch umgekehrt, dass man sich nicht wohl fühlt, mit den Figuren, ihrer Art, dem Setting, wie sie reden, du weißt schon.

Und die Frage, die man sich viel intensiver stellen sollte ist die, weshalb man etwas an einer Geschichte verändert haben möchte:
a) weil sie dann deutlich mehr dem eignen Geschmack entspricht?
b) weil sie neutral betrachtet sich dadurch spürbar verbessert.

Und hier jetzt sich selbst auf die Schliche zu kommen, ob man grad aus der Motivation a) oder b) heraus argumentiert, ist die Kunst.

Und um den Kreis hier wieder zu schließen: Mein Vorschlag, die Vergangenheit des Protagonisten gar nicht zu erwähnen, stammte aus der Abteilung a). :Pfeif:

Das wurde auch angemerkt. Ich hatte das auch noch mal verändert (in einer früheren Version war da mehr zu). Eigentlich soll das gar nicht so rüberkommen.
Ich habe mit meinem Ausruf, dass dies an Sklavenhaltung grenzt, natürlich nicht diejenige Sklavenhaltung aus der früheren Zeit gemeint, sondern hier dir etwas verkürzt dies als Provokation hingeworfen.
Ich wollte damit sagen, dass mir dein Protagonist und alle weiteren Personen in der Halle arg leid getan haben.
Das war keine Kritik an den Arbeitnehmern und dass sie das mit sich machen lassen, sondern es war eine Kritik an unserem System, dass es überhaupt so etwas gibt.
Es gibt aber Jobs (gerade diese temporären Aufträge), bei denen das so ähnlich passiert. Da geht es dann wirklich darum, dass Zeit gespart wird, damit nicht alles an Lohn ausgezahlt werden muss, gleichzeitig aber die Auftragspauschale in Gänze eingestrichen werden kann. Arbeitsrechtlich ist das ja ohnehin oft alles durchwachsen, aber gewerkschaftlich erschlossen ist da halt auch leider wenig.
Ich will versuchen, es in aller Kürze zu erklären: Für mich ist dies die Form der modernen Sklavenhaltung, denn das System, wie diese Personen beschäftigt werden, beruht auf Druckausübung und Unterdrucksetzung.

Gut, wenn es so einer Gruppe gelingt, eng zusammenzuhalten. Aber man kann sich halt darauf nicht verlassen.
Du beschreibst sehr anschaulich, was in unserer Gesellschaft los ist. Zeitarbeit, keine Garantien für nix, oftmals noch nicht mal Fortzahlung im Krankheitsfall, obwohl dies Gesetz ist und von Urlaubs- und Feiertagsregeln kennen solche Firmen meist auch (angeblich) nichts.
Dieses nicht wissen, ob man grad gut genug gearbeitet hat, um vielleicht beim nächsten Mal wieder eine Arbeit zu bekommen, immer nur Leistungen vom Arbeitnehmer zu fordern, nie Sicherheiten dafür zu geben, also immer nur letztendlich Unsicherheit und Angst zu schüren, DAS ist für mich die moderne Form der Skavenhaltung.

Und du sprichst zu Recht die Gewerkschaften an, die immer weniger sich für ihre Arbeitnehmer einsetzen. Denen das alles immer weiter entgleitet, so dass es sich kaum noch lohnt, über sie organisiert zu sein.
Als ich damals meine ersten Arbeitsrechtsfälle annahm, hatten die Gewerkschaften vor den Arbeitsgerichten ein hohes Ansehen und sie haben für ihre Arbeitnehmer meist sehr gute Arbeit geleistet und viel herausgeholt. Aber mit den Jahren kamen immer mehr Arbeitnehmer in meine Kanzlei, die zwar gewerkschaftlich organisiert waren, aber kein Zutrauen mehr zu ihren Vertretern hatten. Und das ist im Laufe der Jahre immer schlimmer geworden.
Man kann sagen, dass es eine große Menge an Arbeitnehmern, oft darunter die Zeitarbeiter gibt, die nirgends ausreichenden Schutz finden, obwohl wir genügend Gesetze haben, die sie schützen. Aber es muss einen geben, der sie für sie durchsetzt.
Dieser Zustand ist für mich die moderne Form der Sklavenhaltung und ich verwende bewusst diesen provokanten Begriff, weil er aufrütteln soll. So geht man nicht mit Menschen um!

Und du hast es in deiner Geschichte brillant dargestellt.

Aber: Sklavenhaltung ist das nicht.
Siehe meine Ausführungen: eben doch!

Ich hoffe, ich habe mit diesem Exkurs zur Sklavenhaltung nicht zu sehr offtopic den Kurs verlassen.

Lieben Gruß

lakita

 

Hallo @Habentus,

für mich ein melancholischer aber nie larmoyanter Text über die oft unerklärliche Anziehung zweier Menschen. Wer kennt das nicht, ein Aufeinandertreffen mit jemandem Unbekanntem, der aus dem Nichts auftaucht, und es kommt einem so vor, als wäre da eine Basis der Verständigung, für die es nicht viele Worte braucht, man versteht sich. Für Günther ist die Freundlichkeit Lasalas, die nicht auf ihn gerichtet ist, sondern ihrem Wesen entspricht, ein Stock, den ihn jemand in seinen Sumpf reicht. Knast, prekäre Zeitarbeit, soziale Isolation, da kann einfache Freundlichkeit wie ein süßes Gift wirken, das einen Menschen komische Sachen glauben lässt.
Du spielst mit Romantik, da gibt es diesen merkwürdig befangenen Moment, wo die beiden Männer aufeinander treffen, dennoch ist das für mich keine Liebesgeschichte, von Lasalas Seite aus klar nicht, sie ist gefestigt in ihren Bindungen, so nehme ich das wahr, allenfalls kämpft der Günther mit ersten Anzeichen einer Amour fou, die er in Bier ertränkt. Dahinter spüre ich als Leser die Sehnsucht nach einem anderen Leben, danach, dass irgendwann einmal alles einfacher und wärmer ist, warum nicht träumen von Chennai, einer Stadt weit weg an einem unbekannten Meer, der Finger fühlt sich wohl auf der Reise im Atlas. Doch dieser Schritt hinaus aus freudlosen Lebensumständen ist eine flüchtige Fantasie, die an den Spitzen der harschen Realität zerplatzt. Er wird nicht mehr gebraucht, das Arbeitsverhältnis vorschnell beendet, damit andere profitieren.
Und spätestens als er nochmal zur verlassenen Halle zurückkehrt, ist auch jede Hoffnung auf ein Wiedersehen bei einem gemeinsamen Abendessen dahin. Insofern ein trauriger, ernüchternder, aber auch passender Ausklang, auch das Ende einer vagen Hoffnung auf freundschaftliche Kontakte aus seiner beengten Welt hinaus, was ihn zurückwirft in seine gewohnte prekäre Tristesse.
Mir gefällt der unaufgeregte Erzählstil, das muss nicht dramatisch ausschlagen in Konflikte, was der Text transportieren will, kann er so leise viel besser erzählen. Natürlich setzt er voraus, dass die Grundannahme geschluckt wird, indische Frau agiert losgelöst von ihrer kulturellen Herkunft, aber hey, warum nicht? Ist das nicht bei jedem fiktionalen Text so, dass ich Grundannahmen zerlegen kann, wenn ich es drauf anlege? Ist es okay, wenn T.C. Boyle aus der Perspektive eines Schimpansen schreibt, oder ist das eine Anmaßung? Was ich damit sagen will: Ich nehme mir das Lesevergnügen, wenn ich diese hyperkritische Brille aufsetze, zumal ich diese Grundannahme ich bei deinem Text weder dominant noch störend empfinde. Ich plädiere auch in der Rezeption für mehr Unaufgeregtheit, denn dann kann dein Text seine Stärke zeigen.

Kleinkram:

der den Blick abwand
abwandte oder verkürzt abwandt.
und als ich wieder rauskam, hatte er mich bei sich auf dem S. schlafen lassen und mir geholfen
hatte er mich auf seinem Sofa schlafen wäre was gerader.
Sie strich mit ihren Fingern die Maserung ihres Bechers entlang.
Was meinst du mit Maserung? Der Begriff ist mit Holz verknüpft. Meinst du die Rillen, die vom Rand zum Boden laufen?
Früher stand ich jahrelang schwarz aufm Bau und schleppte Zement
auf'm mit Apostroph? Finde in wörtlicher Rede das Präteritum immer stören, besser das Perfekt: habe geschleppt, weil es mMn so klingt, wie Leute reden.
Ich versuchte, mir vorzustellen, was er wohl dazu sagen würde, wenn er wüsste, dass ich mit seiner Frau in der Mittagspause Kaffee aus kleinen Plastikbechern trank und meinen Blick nicht von ihr nehmen konnte. Vielleicht wusste er es? Vielleicht hatte Lasala von mir erzählt. Von dem großen Deutschen, der nicht zu den Vorarbeitern gehörte.
„Du würdest ihn mögen“, sagte sie.
klasse.
strichen die Differenz ein und machten einen (guten?) Schnitt.

Sehr gerne gelesen! Peace, l2f

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo @Habentus,
ich habe deinen Text sehr gerne gelesen, an der ein oder anderen Stelle hätte ich mir etwas mehr etwas ausführlichere Szenen gewünscht bzw Szenen, die noch mehr in die Tiefe gehen, vor allem auch, damit Lasala etwas mehr Raum bekommt bzw die Annäherung der beiden. Das kann natürlich auch total an deinem Ziel vorbeigehen, weil sie vielleicht eher als Projektionsfläche dienen soll, so wie Chennai ja auch und umso mehr die echte Lasala in den Vordergrund rückt, umso weniger Projektion ist da ja wahrscheinlich möglich. Wobei ich damit nicht sagen will, dass ich sie nur als reine Projektionsfläche lese. Ich lese sie als eine freundliche Person, die im Leben steht und im Gegensatz zu Günther eben auch in - wir wissen zwar nicht viel darüber, aber ich würde trotzdem sagen: in stabilen Beziehungen lebt (sie hat einen Mann, Kinder und Freunde, mit denen sie zu Abend isst). Ihre Freundlichkeit bricht etwas in Günther auf und ich fand es schon herzzerreißend, dass er die Einladung zum Abendessen ablehnt, dann die Info kommt, dass die Arbeit früher beendet ist und er am nächsten Tag doch zum Industriegebiet geht, in der Hoffnung, sie wiederzusehen. Klar, da schwingt natürlich ein gewisses romantisches Interesse Günthers mit, aber für mich ist das nicht der Kern der Geschichte. Ich lese eher, dass es um Verbindung und Isolation im allgemeinen geht, darum hälst du da diese Karotte vor meine Nase als Leserin (das Abendessen mit Freunden) und lässt sie mich aber nicht kriegen, und schlimmer noch, es gibt noch nicht mal eine zweite Chance. Menschen aus marginalisierten Gruppen zu schreiben, beinhaltet natürlich ein gewisses Risiko, aber ich finde, dir gelingt das hier gut. Das Setting macht diesen Kontakt plausibel. Und ich finde gut, wie es ihm unangenehm ist, dass er denkt, sie spreche kein Deutsch, das macht ihn für mich sympathisch und stellt in nur einem Satz die Komplexität solcher sozialen Situationen dar. "Darf" man annehmen, dass sie kein Deutsch spricht? "Darf" man annehmen, dass sie Deutsch spricht? Er muss sich jedenfalls für eine der beiden Optionen entscheiden, wenn er sie anspricht, so wie ich das auch müsste oder du. Wie gesagt, die Gespräche der beiden, die hätte ich mir etwas ausführlicher gewünscht, die Annäherung insgesamt etwas langsamer, den Text auch insgesamt noch etwas konzentrierter und langsamer, aber ich glaube auch, dass es schwer ist, insbesondere einen nicht belanglosen, sondern sich entwickelnden Dialog der beiden zu schreiben (der für meinen Geschmack auch noch ein bisschen Kulturelle Unterschiede thematisieren dürfte), und es würde wohl auch ein bisschen den Schwerpunkt des Textes verlagern. Ach, und dann fände ich auch gut, wenn deutlich würde, warum sie ihm auffällt. Er beschreibt sie zwar, aber sagt nirgends, was genau ihm nun auffällt, was sie für ihn besonders macht. Im Grunde braucht es das vielleicht auch gar nicht. Sie könnte auch nur eine von den vielen dort sein, eine aus der Gruppe, aber beim Kaffee fangen sie halt an zu reden. Das würde das ganze so ein bisschen aus dieser: sie ist mir von Anfang an aufgefallen, es war Liebe auf den ersten Blick - Falle heben. Aber wie gesagt, ich habe das gerne gelesen.

Viele Grüße
von Katta

Als PS noch etwas Kleinkram:

In der Lagerhalle stand ich zusammen mit zweihundert anderen vor langen Tischen, die sie aufgebaut hatten.
Ich denke, wenn das Tische stehen, impliziert das, dass sie aufgebaut worden sind.

Als von einem der Wagen einmal mehrere Kisten herunterfielen und die Briefe überall auf dem Boden und zwischen den Tischen herumflogen, lachte der ganze Tisch.
Kein großes Ding, aber das passt für mich nicht so richtig, dass Briefe zwischen den Tischen flogen, aber nur ein Tisch lacht.

„Stimmt.“ Ich hielt ihr die Hand hin. „Günther.“
Den Namen Günther hast du mit Bedacht gewählt? Irgendwie sehe ich da mehr so einen vielleicht Endvierziger? Die heißen aber nicht mehr Günther, eher Thomas oder Andreas oder so. Günther sind dann noch mal eine Generation davor, d.h. eher Endfünfziger/Anfang Sechzig oder sogar noch älter.
Sie strich mit ihren Fingern die Maserung ihres Bechers entlang.
Sind das nicht so normale Plastikbecher? Meinst du diese Rillen in diesen Bechern. Bei Maserung denk ich an Holz.

 

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