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Am Morgen nach dem Sturm in der Stadt
Jetzt, es ist so ungefähr halb vier Uhr morgens, weht immer noch ein starker Wind, der einen schaudern lässt und einem die Frisur oder die Zigarette ruinieren kann. Aber das ist mir im Moment so was von egal. Ich will nur noch nach Hause und solange schlafen bis ich alles vergessen habe, was gestern passiert ist.
Die Innenstadt ist menschenleer. Außer dem Pfeifen des Windes ist nichts zu hören. In der Mitte von dem kleinen Platz an dem ich gerade vorbei gehe, schmerzt mich plötzlich ungewöhnlich stark die Leere die der Baum zurücklässt, der gestern noch dort stand. Als ich daran vorbei gegangen war, hatte ich vergnügt festgestellt, wie ein paar Studenten sich unter der fast zehn Meter hohen Eiche Schutz vor der warmen Frühlingssonne suchten, wie man es jeden Sommer beobachten konnte. Ich saß auch immer gerne dort. Bis heute, denn die Orkanböen hatten offensichtlich den dicken Stamm des alten Baumes bezwungen und ihn gefällt. Eine Bank auf die er gefallen war fehlte ebenfalls und bis auf ein paar kleine Äste, Blätter und Sägespäne wurde von der Vergangenheit nichts zurückgelassen.
Vor nur sechs Stunden war meine Welt noch in Ordnung. Ich war glücklich verliebt, euphorisch da leicht angetrunken, fühlte mich jung, schön und unsterblich. Nun bin ich ein volltrunkener Single mit einer ramponierten Visage der seit einer Weile beunruhigende Suizidgedanken hegt. Aber ist das wirklich notwendig?
Im Club war´s gestern voll, fast alle meine Freunde (die sich nach dieser Nacht wohl auch von mir abwenden werden), waren da und wir feierten Thomas´ Geburtstag nach, der vor drei Monaten gewesen war. Kurz vor Zwölf war Thomas schon nicht mehr ansprechbar und die meisten anderen auch schon sehr betrunken und schrieen sich an um die laute Musik zu übertönen. Doch sie alle, inklusive meiner Freundin, hörten als ich aufstand um mich auf den Weg zum Klo zu machen oder mir ein weiteres Bier zu holen (So genau weiß ich das jetzt nicht mehr), wie eine Frau mit dem Finger auf mich zeigte und mit beängstigender Sicherheit in der Stimme, „Er hat mich angesteckt! Er stirbt und er hat mich mit rein gezogen, obwohl er es wusste!“, brüllte. Verstörend war das für mich besonders, da ich diese Frau vorher noch nie gesehen hatte. Dann verschwand sie einfach in dem aufkeimenden Trubel.
Auch jetzt noch denke ich darüber nach, forsche in den unendlichen Weiten meiner Erinnerung, woher sie mich kennen könnte. Ich werfe die Flasche Korn, in der noch ein Schluck drin war, Gedanken versunken gegen eine Hauswand. Heute sollten die Gelben Säcke abgeholt werden, doch der Wind hat sie davongetragen, sie aufgerissen und in der ganzen Stadt groteskes Kunststoffkonfetti verteilt. Immer mal wieder trete ich auf eine Milchtüte und Bonbonpapiere fliegen an mir vorüber, wie komischer, bunter Schnee. Meine Kehle ist trocken und der Riss in meiner Lippe brennt durch den Alkohol und ich frage mich laut: „Wer ist diese Frau“, und hat sie die Wahrheit gesagt? Doch es kann sich nur um eine Verwechslung handeln. Es muss einfach so sein. Und wenn nicht?
Nachdem meine Freundin, die wie die Anderen keine meiner Ausflüchte hören oder glauben wollte, mir mit Tränen in den Augen ein paar Ohrfeigen verpasst hatte, konnte ich nur noch versuchen unbeschadet aus dem Club zu kommen. Ich habe es nicht geschafft. Es war wie ein Spießrutenlauf: Jeder durfte einmal zuschlagen; sogar einer der Türsteher genehmigte sich ein, zwei Schläge auf meine Schläfen. Ein betrunkener Mob vorfolgte mich drei Straßenblocks weit, bis irgendjemand rief: „Ach, scheiß drauf, lasst uns wieder zurückgehen. Der Typ ist doch eh so gut wie tot“, worauf sich Alle wieder auf den Weg zum Club machten, um fröhlich weiter zu feiern. Und Morgen werden sie mich vergessen haben, dachte ich.
Jetzt wo es Morgen ist, glaube ich, sie verschwenden keinen Gedanken mehr an mich, der jetzt so gut wie zuhause ist. Aber sie denkt vielleicht noch an mich. Mir wird übel und ich schwanke beim gehen. Mein Schlüssel fällt mir runter, als ich die Tür zu meinem Wohnhaus aufschließen will. Während ich ihn aufhebe öffnet sich die Haustür und ein Mann, der etwas älter ist als ich, lächelt mich freundlich an und sagt: „Guten Morgen!“ Ich habe ihn noch nie in unserem Wohnhaus gesehen.
„Ich kann nichts Gutes an diesem Morgen erkennen“, ist das Einzige, was mir dazu einfällt.
„Dann musst du genauer hinsehen“, sagt er und deutet auf etwas hinter mir. Ich drehe mich um und sehe, dass die Sonne langsam aufgeht und mit dem aufziehenden Nebel einen roten Schleier über die Stadt legt. Der Wind hat endlich nachgelassen.
Mindestens zehn Menschen kamen bei dem gestrigen Sturm ums Leben, bei Autounfällen, bei Hochwasser, andere wurden von Ästen oder Bäumen erschlagen. Oder waren es doch elf? Und wo habe ich das gehört? War gestern wirklich alles besser?
„Ich kann dich dorthin zurückbringen“, bietet mir der Unbekannte an.
„Ich will nicht zurück. Ich bin müde“, sage ich gähnend, wende mich vom Sonnenaufgang ab, der jetzt die Flure des Hauses orange färbt, und gehe an ihm vorbei. Gleich bin ich da.
Er verlässt das Haus, geht den kleinen Weg, der zur Tür führt, runter und ruft mir zu: „Schlaf eine Nacht drüber. Ich werd´ sie von dir grüßen!“
Ich schließe die Tür und denke einen Moment darüber nach, was er gesagt hat. Dann weiß ich wieder alles und kann mich an sie erinnern. Eine ganze Zeit ruht meine Hand noch auf der Türklinke und ich starre auf die Milchglasscheibe, durch die das helle Licht scheint.
Aber ich werde sie nicht wieder öffnen.