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Am Rand

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03.01.2009
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Am Rand

Sanft legte sich der Eiskristall auf das Glas der Dachluke, dessen bräunliche Staubschicht vom Schnee der vorangegangenen Tage gänzlich weggewischt worden war. Die neu gewonnene Sauberkeit eröffnete den Blick auf einen Himmel, dessen grauweiße Textur einem gleichmäßigen Film von mit schmutzigem Wasser getränkter Watte glich. Die klirrende Kälte, die selbst durch die Isolierung auf dem ungeheizten Dachstuhl zu spüren war, ließ ein leichtes Zittern den Verlauf ihrer Wirbelsäule hinab rinnen. Auf eine Jacke hatte sie verzichtet. Wie immer.
„Du wirst dir noch den Tod holen!“. Die Stimme ihrer Mutter hallte in ihren Ohren. Aber hier konnte ihre Mutter sie nicht erreichen. Hier, über allen anderen, über allen Problemen, konnten nur ihre eigenen Gedanken den vollkommenen Frieden dieses Platzes stören. Abseits von der Welt lag sie hier, isoliert in einem Universum, das durch knarrende Balken begrenzt nur einen Berührungspunkt mit der Realität bot, und diesen verschloss sie mit einem Vorhängeschloss, das jedem Hochsicherheitstrakt Ehre gemacht hätte.

Belustigt beobachtete sie die Verwandlung eines majestätischen Eiskristalls in einen Tropfen Wasser. Einfaches, klares Wasser, in dem niemand mehr die Schönheit der vormaligen kristallinen Form erahnen konnte.
Welch gute Metapher für den Sinn des menschlichen Lebens. So schön und eindrucksvoll es gewesen sein mag, am Ende sind sie doch alle gleich.
In Gedanken sah sie die Asche vor sich, die langsam hinfort wehte, zusammen mit allem, das ihr jemals etwas bedeutet hatte.
Am Ende sind wir alle Staub. Nichts wird uns retten. Kein tolles Leben, kein Geld und keine Freunde. Staub, Staub, Staub.

Sie spürte das altbekannte Brennen, nicht etwa ihrer Augen, nein. Ein ganz anderes Brennen breitete sich in ihr aus, ergriff Besitz von ihr. Ihre vor Kälte fast tauben Fingerspitzen erfühlten das durch ihre Körperwärme erhitzte Eisen des Nagels in ihrer Tasche. Blind erstickte sie das Brennen, ersetzte es durch etwas weniger qualvolles, auf ihre Weise.
Du bist abartig.
Sie wusste, dass sie wertlos war. Abartig. Ein vollkommen nutzloses Glied der Gesellschaft. Abseitig. Und langsam fehlte ihr die Kraft, der Mut. Der Sinn.
Warum leben wir denn?
Wenn sie auf diese Frage eine Antwort wüsste, wäre sie vermutlich irgendeine hochbezahlte Wissenschaftlerin – oder Guru einer neuen Glaubensrichtung. Ihr Mund verzog sich zu einem sarkastischen Grinsen. ‚Finden sie ihr Heil – Abseits der Gesellschaft!‘. Das wäre ihr Slogan. Nur, dass sie kein Heil zu bieten hatte. Nicht mal einen Sinn. Nichts. Leere. Wie war sie bloß hier gestrandet, von jeglicher Zuversicht und Wärme im Stich gelassen? Wieder baute sich in ihr das Bild der schwebenden Asche auf, die gleichbedeutend all ihres Lebensglücks vom Wind in alle Richtungen zerstreut wurde.
Verdiene ich das? Abseits zu stehen?
Leider musste sie diesen Fragen zustimmen. Warum hatte man ihr denn sonst alles genommen?

Sie beobachtete die winzigen Staubpartikel im Licht des gerade erst beginnenden Tages und suchte eine Regelmäßigkeit darin. Hatten sie ein Ziel? Einen Sinn?
Nein, natürlich nicht. Oder doch? Was wenn ich nur einfach einer von ihnen sein muss um den Sinn zu verstehen. Genauso wie ich eine wie alle anderen sein müsste um den Sinn im menschlichen Leben zu entdecken. Doch ich bin es nicht. Zu wem gehöre ich? Zu niemandem. Zu was gehöre ich? Zu nichts. Ich bin ein einzelnes Atom in einer Welt voller Atomgitter. Eine einzelne Ratte zwischen lauter Mäusen. Warum ist in der Welt bloß kein Platz für mich vorgesehen?
Sie drehte sich um, auf den Bauch, und sog den modrigen Geruch des alten Holzes in sich hinein. Andere hätte dies abgestoßen, doch ihr vermittelte es ein Gefühl wohligem Zuhause-Seins, das ihr jenseits dieses von ihr hermetisch abgeriegelten Raumes gänzlich abhanden gekommen war. Die Kreise die ihre Gedanken zogen, immer tiefer hinein in die Abgründe ihrer Seele und denen der menschlichen Gesellschaft, lasteten auf ihr wie Öl im Gefieder eines Vogels. Sie lähmten sie, machten sie unfähig ihre Flügel auszubreiten und zu fliegen, weg von hier, weg von ihren Ängsten, hin zu einem Ort, an dem es auch für sie nicht mehr nötig war, abseits zu stehen. Und am Ende würde sie an diesem Film von Altöl, von alten und neuen Gedanken, verenden. Wie ein elendiges, nichtsnutziges Tier.

Unwillkürlich schüttelte sie sich, wobei sich ein neuer Schwall Partikel in den Strahl des matten Winterlichtes ergoss. Ihre Existenz war abartig. Ihre Gedanken waren es auch. Wie sollte sie jemals einen Zweck erfüllen? Vom glücklich sein träumte sie schon lange nicht mehr – aber einen Sinn, einen Zweck, den brauchte sie. Brauchte sie dringender als Nahrung oder Wasser. Und in diesem einen Moment der Erkenntnis wurde ihr klar, dass sie diesen niemals finden würde.
Ein abartiger Mensch wie ich hat keinen Sinn – er ist nur da damit sich die anderen besser fühlen, aber für sich selbst ist sein Leben nutzlos.
Noch eisigere Luft strömte ihr entgegen, als sie die Dachluke unter einem weithin hörbaren Knarren öffnete. Das Knirschen der berstenden Raureifschicht unter ihren Füßen verursachte keine Regung in ihrem Gesicht. Der Horizont erstrahlte in einem weichen Rosa und die zahlreichen Bäume der Umgebung glitzerten, starr gefroren durch die eisige Kälte. Die Szenerie war so unerträglich schön, dass sie fast vergaß auf den Pfad ihrer Füße zu achten, die trotz des Eises Halt auf dem Dach fanden.
Was macht es denn noch für einen Unterschied? Ich könnte mich einfach jetzt schon fallen lassen.
Aber sie wollte diesen einen Moment auskosten. Ein Moment der Selbstkontrolle und des Sinns. Schließlich hatte sie ihr Ziel erreicht. Sie stand am Rand. Am Rand des Daches, am Rand ihre Lebens und am Rand all jener Leben, derer sie so froh gewesen wäre. Jenen, die sich tief unter ihr abspielten.

Das Licht der aufgehenden Morgensonne brach sich in den unzähligen Eiskristallen. Alles war still. Alles wie immer. Abseits.

 

Hallo jadeeyes,

erstmal herzlich Willkommen hier :)

Leider hat dein Einstand mich nicht überzeugt. Inhaltlich beschreibst Du etwas, was wohl jeder Jugendlicher mal gefühlt hat - nicht dazu zu gehören, ausgegrenzt zu werden, am Rand zu stehen. Ich hätte mich über Details aus dem Leben deiner Protagonistin gefreut. Du schreibst, ihr wurde alles genommen, beschreibst sie als abartig. Was bedeutet das konkret, wann fühlt sie sich wie im Alltag ausgegrenzt? Diese Details hätten das Mädchen greifbarer für mich gemacht.

Sprachlich fand ich, dass du einige Sätze etwas umständlich formuliert hast, die durch Kürzung und das Weglassen einiger Wörter klarer werden würden. Nur mal ein Beispiel:

Die neu gewonnene Sauberkeit eröffnete den Blick auf einen Himmel, dessen grauweiße Textur einem gleichmäßigen Film von mit schmutzigem Wasser getränkter Watte glich. Die klirrende Kälte, die selbst durch die Isolierung auf dem ungeheizten Dachstuhl zu spüren war, ließ ein leichtes Zittern den Verlauf ihrer Wirbelsäule hinab rinnen.
Klarer wären die Sätze für mich mit einigen Adjektiven und Einschüben weniger. So z.B.: "Diese Sauberkeit eröffnete den Blick auf einen grauweißen Himmel, der mit schmutzigem Wasser getränkter Watte glich. Die klirrende Kälte auf dem ungeheizten Dachstuhl ließ ein leichtes Zittern ihre Wirbelsäule hinab rinnen." Nur als Beispiel und Vorschlag, um meine Kritik zu verdeutlichen. Ich musste einige Sätze mehrfach lesen, um sie zu verstehen. Vielleicht können da einige Umformulierungen helfen.

Viel Spaß noch hier,
Juschi

 

Abartig?

Ich kann nicht nachvollziehen wieso sich die Dame in der Geschichte abartig fühlt. Jedoch finde ich das Gefühl einer Ranständigen schön beschrieben, jedoch kann ich nichts Neues darin finden. Viele Menschen beschleicht dieses Gefühl früher oder später. Was mich darin interessiert ist vielmehr, wo sie ihren Frieden wiederfindet. Am Ende der Geschichte finden wir die Antwort, sie findet ihren Frieden im abgeschottet sein. Jedoch beantwortet das die Frage nicht. Denn offensichtlich will sie anders sein und findet genau das auch das Gute an ihrer Existenz. Im Wiederspruch dazu steht dann aber der Rest der Geschichte, wo du beschreibst wie sie genau wegen diesem Umstand unglücklich ist und sich sogar überlegt sich das Leben zu nehmen. Alles ist Schall und Rauch, wusste schon Salomon und wir alle wissen es mitlerweilen auch.

 

Hallo jadeeyes,

ich fand die Geschichte sprachlich sehr schön und fließend erzählt - ein paar Stellen musste ich zugegebenermaßen auch doppelt lesen, aber dennoch hast du die richtige Atmosphäre geschafft mit deiner Wortwahl.

Mir hat leider auch etwas Hintergrund gefehlt: Wieso ist sie in ihren Augen abartig? Was bringt sie zu der Annahme? Wenn man einen Grund für ihr Selbstbild von sich wüsste, hätte die Geschichte sicher auch mehr Substanz.

LG Madrugada

 

So...

Erstmal dankeschön, dass ihr die Geschichte gelesen habt.

Ich verstehe was ihr drei sagen wollt, der Hintergrund fehlt tatsächlich ein wenig. Ich muss mich da nochmal dransetzen und das ausarbeiten.

@ Juschi

Oh ja, ich weiß was du meinst wegen der Sätze. Das hier ist schon die entschärfte Version ;). Da werde ich bei meiner Schreiberei mehr drauf achten müssen.

@ cueqzapper

Bei dir verstehe ich deinen Punkt nicht.

Denn offensichtlich will sie anders sein und findet genau das auch das Gute an ihrer Existenz.

oO
Woraus hast du das denn gelesen? Ich habe mir meine Geschichte gerade selbst nochmal durchgelesen, aber ich weiß noch immer nicht was du meinst.

@madrugada

Danke, auch wenn die Sprache noch sehr ausbaufähig ist.

 

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