Ameisenfußball
Der Fernseher war kaputt.
Statt irgendwelcher sinnleerer Talkshows oder langweiliger Filme zeigte das Gerät nur Rauschen. Schwarze und weiße Punkte, die umeinander hertanzten - das Ballett des technischen Versagens.
"Kein Bild", sagte meine Frau.
"Also, das Schwarzweiß geht schon mal."
"Ja... wie Ameisenfußball... Sieh nur, Weiß gewinnt."
"Kunststück, sie haben ja auch zwei Mann mehr auf dem Platz." Wir lachten. Der gleiche Dialog wie gestern. Der gleiche Dialog wie jeden Tag. Meine Frau war der untrüglichen Meinung, dass der Fernseher sich vielleicht von selbst reparieren würde, wenn man ihn nur jeden Tag aufs Neue wieder anstellte. Ich hatte keine Ahnung, wie sie auf diese Idee kam, aber ich ließ sie gewähren.
Vielleicht ist sie irgendwann verrückt geworden. Ich hätte es ihr nicht einmal verdenken können, angesichts unseres Schicksals. Während da draußen das Leben tobte, saßen sie und ich eingepfercht in diesem Raum fest. Die Wiederentdeckung des Stubenhockertums. Vermutlich war ich auch einfach ein schlechter Gesellschafter und würde an ihrer Stelle ebenfalls den Fernseher anbeten. Das war sicher verlockender, als den Rest des Lebens mit mir allein verbringen zu müssen.
"Und wenn er gar nicht kaputt ist?", fragte ich um meine Frau zu beschwichtigen. Wie jeden Tag hatte sie unter Tränen realisiert, dass sie auch heute keinen Empfang haben würde. "Ich meine, vielleicht gibt es auch einfach keine Sender mehr."
"Mach dich nicht lächerlich. Egal, wie schlecht die Lage ist, es wird immer Fernsehen geben. So war es immer."
"Wir sollten das Ding wegwerfen. Sonst macht es dich nur jeden Tag noch trauriger." Am Anfang war der Fernseher unser Fenster zur Welt gewesen. Wir hatten uns durch die Programme zappen können und waren somit nie ganz alleine gewesen. Natürlich nur eine Illusion, aber seit das Gerät defekt war, brachte uns die unerträgliche Stille beinahe um den Verstand.
"Was, wenn niemand mehr dort draußen ist?"
"Natürlich sind sie da, Liebling. Ich bin sicher, dass viele überlebt haben. Du wirst sehen, irgendwann wird es wieder so sein wie früher."
"Es wird nie wieder so sein wie früher", sagte sie. "Damals waren wir jung. Und heute..." Sie betrachtete ihre faltigen Hände und erneut brach sie in Tränen aus.
"Heute sind wir immer noch jung", sagte ich. "Wir sind genauso jung, wie damals, weil wir uns nicht verändert haben. Nur die Zeit ist älter geworden." Vielleicht nicht das klügste, was je ein Mensch gesagt hatte, aber es brachte sie zumindest zum Nachdenken und lenkte sie ein wenig ab.
"Weißt du eigentlich, dass du der einzige Mensch bist, den ich je gesehen habe? Ich kann mich sonst an niemanden mehr erinnern. Es ist alles so lange her."
"Das liegt einfach an meinem einnehmenden Wesen", sagte ich und sie lachte. Es war schön, dass ich sie nach all der Zeit immer noch zum Lachen bringen konnte. Vielleicht war ich doch kein so schlechter Gesellschafter. Nicht ganz so gut wie der Fernseher vielleicht, aber in diesem Moment reichte es.
"Wie es draußen wohl aussieht..."
"Ich weiß nicht. Vielleicht hat sich gar nichts verändert."
"Es wird leer sein. Niemand ist mehr da." Wieder schluchzte sie.
"Was meinst du, wollen wir nachsehen?" Auch diese Frage stellte ich ihr jeden Tag. Normalerweise reagierte sie darauf mit einem zaghaften Lächeln und einer ablehnenden Geste. Aber nicht heute. Heute sagte sie: "Ja, wir sollten nachsehen. Der Fernseher ist sowieso kaputt."
Langsam erhob sich meine Frau von ihrer Pritsche und uns gegenseitig stützend gingen wir zur Einstiegsluke unseres Bunkers. Ein letztes Mal holten wir tief Luft, atmeten den vertrauten Geruch von Staub und Beton ein, und dann öffnete ich die Luke.
Draußen spielten ein paar Ameisen Fußball mit einem Menschenkopf.