Amok - Der vorrübergehend letzte Schultag
Die Herbstferien nähern sich, ich freue mich schon darauf. Endlich kann ich wieder in die Stadt – skaten. Ich werde skaten auf der Skate-Street. Wie in den Sommerferien. Diesmal aber mit meinem neuen Board, das viel besser ist als mein altes. Ich werde den anderen zeigen, was ich jetzt alles kann.
Ich fahre los, eine Tageskarte für 10 Euro – teuer! Aber ich brauch sie für die Straßenbahn. Nach 2 Stunden bin ich auf der Street. Keiner da – gut, da kann ich mich einfahren. Mir wird langweilig. Ich fahre zum N-Bahnhof, um mir etwas zu essen zu kaufen. Ich sitze auf der Straße und esse meine Pommes, da kommt ein Typ zu mir, fragt mich was. Ob ich eine Waffe kaufen will? Ich guck ihn blöd an, tausend Gedanken gehen mir durch den Kopf. Eine Sekunde lang, dann waren sie wieder weg – als ob sie nie da waren. Eine 9-mm für einen genehmigten Preis. Ich kenne mich damit nicht so aus, aber ich hatte genug Geld mit um die 200 Euro zu bezahlen. Irgendwie hab ich gar keinen Bock mehr zum skaten, ich fahre aber trotzdem zurück. Es ist inzwischen mehr los, ich sehe eine Weile zu. Sie fahren alle so gut. Warum kann ich nicht annähernd so gut fahren? Mir wird kalt, langweilig. Ich schnappe meine Sachen, mein Board und gehe zur Haltestelle. Ich warte, rauche eine Zigarette bis die Straßenbahn kommt. Schließlich steige ich ein und fahre nach Hause. Als ich später in den Bus umsteige, und dieser relativ leer ist, sehe ich mir mein ‚gutes Stück’ an. Es liegt gut in der Hand. Ich bin richtig stolz darauf. Am liebsten würde ich sie sofort ausprobieren. Ich bin neugierig, wie sie schießt. Ich steige aus dem Bus aus, gehe in den Wald um sie auszuprobieren. Ich schieße auf einen Baumstamm. Gut getroffen. Vielleicht habe ich Talent zum schießen – mein einziges Talent.
Die Ferien sind vorüber, der erste Schultag beginnt. In der ersten Stunde haben wir Englischunterricht. Die Arbeiten werden ausgeteilt. Eine 5 in Englisch – scheiße! Ich wollte gut sein in Englisch, dieses Fach ist mir wichtig. Aber irgendwie hab ich keine Begabung zum Erlernen von Fremdsprachen, wie ich auch in etlichen anderen Dingen kein Talent besitze. Im Unterricht redet die Klasse wild durcheinander, kein Wunder – nach den Ferien hat man sich sicher tolle Geschichten zu erzählen. Für Außenstehende scheint es wohl seltsam zu sein, dass sich keiner für meine Geschichten interessiert, für mich allerdings ist es keine Überraschung. Ich bin es schon die ganzen Jahre gewohnt, allein in der Klasse zu sein. Es ist sehr laut im Klassenraum, die Lehrerin fährt mit ihren Unterricht dennoch ungestört fort. Vielleicht habe ich deshalb eine so schlechte Zensur in der Arbeit bekommen; man kann ja kaum ein Wort von ihr verstehen bei den Lärm.
Es klingelt zur Pause. Im gleichen Moment scheint sich die Klasse in 4 Gruppen zu unterteilen (ok, wenn man mich einbezieht, sind es 5 Gruppen). Ein paar Schüler gehen raus auf den Flur, um Kontakt zu anderen Klassen zu bekommen, aber bei 5-Minnuten-Pausen lohnen sich große Wanderungen in der Schule nicht besonders. Ich sitze weiterhin auf meinem Platz, schaue mir den Hefter für die nächste Stunde an. Andere denken wahrscheinlich, ich sei ein Streber. Das ist mir aber egal, denn auch ohne Interesse für die Schule zu zeigen, würden sie mich nicht mögen. Kurz vor Stundenklingeln nimmt Jan meine Schiefermappe weg und schmeißt die Stifte durch das Klassenzimmer. Für den Stundenanfang bin ich also damit beschäftigt, meine teuren Stifte wieder einzusammeln. Die Lehrerin hat nichts gesehen, und so bekomme ich den Ärger.. schließlich bin ich ja der einzige ersichtliche Schuldige in diesem Moment.
Das war’s, ich habe kein Interesse mehr, diesem beschissenen Unterricht zu folgen! Ich verfalle in Gedanken, mein Hass auf die gesamte Klasse steigt mit einem Mal scheinbar aufs Maximum. Ich fasse meine Knarre an, die ich unter meinem Pullover versteckt hielt. Bereit sie zu ziehen. Das kalte Eisen fühlt sich unbeschreiblich herrlich an in meiner Hand. Es gibt mir das Gefühl von Macht, unendliche Macht über diese ganze Schule. Ja, fast über die ganze Welt. Ich halte dieses Eisen für den Rest der Stunde in meiner rechten Hand, aber weiterhin gut verborgen unter meinem Pulli. Mit großer Willenskraft kann ich mich zurückhalten. Ich schätze, es liegt an der Vernunft, die mir immer wieder in das Gewissen redet.
Viertel 2 verlasse ich das Schulgebäude wie gewohnt. Die letzte Stunde ist zuende und ich gehe zum Bus. Glücklicherweise fährt dieser in nur wenigen Minuten, sodass ich nicht lange an der Bushaltestelle ausharren muss. Niemand hat meine Waffe bemerkt, obwohl ich sie fast die ganze Zeit in meiner Hand hielt. Dieser Satz klingt fast zutiefst ironisch, aber er ist wahr!
Der Nachmittag verläuft wie gewöhnlich: Fernsehen und dabei essen, kein Bock auf Hausaufgaben haben und abends ins Tal Skateboard fahren.
Am Abendessenstisch habe ich mich wiedereinmal mit meiner Familie in der Wolle, dabei fängt das Essen doch immer ziemlich friedlich an. Ich schmiere mir gerade mein Wurstbrötchen, als meine Eltern meinen Bruder fragen, wie es bei seiner Ausbildung war. Er erzählt, dass er auch heute wieder von seinen Arbeitskollegen beleidigt und gedemütigt wurde. Meine Mutter gab ihm Ratschläge, wie er sich dagegen wehren könnte und munterte ihn auf, mein Vater erwiderte nichts. Das wundert mich nicht im geringsten, mein Vater war schon immer die Passivität in Person. Ich weiß trotzdem, dass er für meinen Bruder mitfühlt, ganz im Gegenteil zu mir. Denn ich glaube meinem Bruder kein Wort, eher habe ich das Gefühl, dass er nur seine Aufmerksamkeit auf sich lenken will. Denn das ganze Schuljahr schon hat mich niemand gefragt, wie es bei mir auf der Schule läuft, obwohl meine Eltern mich früher ständig mit Fragen bombardierten. Mir fällt ein, dass wir heute diese Englischarbeit wiederbekamen und wollte diese ansprechen. Doch meine Familie lässt mich gar nicht zu Wort kommen. Ununterbrochen wechseln die Worte zwischen meinem Bruder und meiner Mutter über den Tisch. Als eine Pause eintrifft, die länger als 2 Sekunden zu dauern scheint, beginne ich meinen Satz: „Mutter, ich...“, und schon redet mein Bruder weiter, als hätte ich gar nichts gesagt. Ich versuche noch weitere 2mal auf diese Weise zu Wort zu kommen, bis ich meine Lautstärke anhebe. Erst nach Minuten werde ich offenbar bemerkt. Mein Bruder lässt mich ausreden und stattdessen fällt mir meine Mutter ins Wort: „Dein Bruder redet gerade, merkst du das denn nicht?!“. Ich schreie zurück: „Als ich vorhin geredet habe, hat es auch keinen interessiert..!“, und schmeiße mein Brötchen auf den Teller, renne in mein Zimmer, hole mir Zigaretten, Bier und Discman und renne aus dem Haus. Wenn ich mit Türen knalle, kommt mein Bruder gewöhnlich hinter mir hergerannt, um mich zu verprügeln. Deswegen muss ich mich beeilen, um ihm rechtzeitig zu entkommen. Doch heute scheint er mich nicht zu verfolgen. Ich bin bereits auf der Straße und schalte meinen Discman ein. ‚Verdammt, ich lieb dich – ich lieb dich nicht..’ schallt durch meine Ohren und schon bin ich von den Streitereien abgelenkt. Ich denke wieder an meine Liebe. Den Menschen, den ich nie erreichen werde, weil er von Beginn unserer Bekanntschaft ‚vergeben’ ist. Dieser Umstand macht mich zu schaffen, doch ich weiß, dass ich damit umzugehen lernen muss. Ich trinke Bier und rauche eine Zigarette nach der anderen, während ich mich mit voller Lautstärke mit Liebesmusik berieseln lasse. Nur die Schmerzen in meinem Ohr können mich von meinem Frust befreien. Erst nach einer Stunde gehe ich wieder nach Hause und verziehe mich in meinem Zimmer vor dem Fernseher.
Der zweite Schultag nach den Ferien, wir haben Mathe in der zweiten Stunde. Auch diesmal bekommen wir Klassenarbeiten zurück: eine 4. scheiße Mann – ich wollte gut sein in Mathe. Das ist mein Lieblingsfach, da brauch ich mindestens eine 2 auf dem Zeugnis. Das werde ich jetzt wohl vergessen können. Die Gedanken vom letzten Abend (und der Abende davor), und die Gedanken vom gestrigen Schultag steigen in meinem Kopf auf, die Waffe liegt in meiner Hand unter dem Pullover. Mit viel Mühe schaffe ich es, sie auch dort zu lassen. Es klingelt – Pause, Hofpause.
Ich stehe allein draußen an den Tischtennisplatten, es ist kalt. Marcus, mein einziger Freund, ist bei seiner Clique. Mir gehen alle möglichen Gedanken durch den Kopf, während ich meine Pistole nach wie vor fest in der Hand halte. Was würde sich alles ändern, wenn ich es tue? Sie würden endlich merken, dass ich nicht das dumme Kind bin, welches sie immer herumschubsen können. Ich sehe mich in der Gegend um, sehe die anderen wie sie sich in größeren Gruppen unterhalten. Ich stehe alleine da. Wenigstens lassen sie mich auf dem Schulhof in Frieden. Die kleinen 5.-Klässer an der Nachbar-Tischtennisplatte glotzen mich schon wieder so blöd an. „Was glotzt ihr so blöd?“, ich bin über mich selbst erschrocken, über meine laute Stimme. Ich merke, wie mich alle anstarren, aber mein Blick ist immer noch auf die 5.-Klässler gerichtet. Ich gerate außer Kontrolle, bin nicht mehr mich selbst. Ich greife nach meiner Waffe, ziehe sie, ziele auf diese kleinen dummen Kinder und wiederhole meine Frage: „Was glotzt ihr so blöd?“. Etwas leiser aber strenger, wütender. Um mich herum bricht Panik aus. ich glaube, sie wollen alle wegrennen, wissen aber nicht, wohin. Ich drehe mich um, die Waffe weiter auf die Kleinen gerichtet, und schreie: „Schnauze, verdammt!“. Langsam gewinne ich ein wenig die Kontrolle über mich zurück und denke: Oh scheiße, was hast du getan? Wie kommst du hier wieder raus? Es gibt keinen Rückweg mehr, jetzt nicht mehr. Ich muss beenden, was ich begonnen habe: „Alle rein! Die Hofpause ist zuende. Geht in die Aula! Alle in die Aula, los!“. Ich bedrohe jeden mit der Waffe, der bei der Erfüllung meiner Anweisung zögert. Ich habe sie alle in die Aula gebracht, glaube ich jedenfalls. Habe niemanden flüchten sehen. Im Zimmer zünde ich mir erst einmal eine Zigarette an, scheiß auf das Rauchverbot an der Schule. Ich bin nervös, zittere. Die anderen haben Angst, manche heulen. Während ich rauche, höre ich Sirenen, Sirenen von Polizeiautos. Ich renne zum Fenster und sehe sie, mehrere grün-weiße Autos auf dem Parkplatz vor der Schule. Viele Autos – zu viele – scheiße! Was mache ich? Abhauen, aufgeben? Nein, nicht bevor ich es erfüllt habe! „Wer war das?“, frage ich, „Wer hat die Bull’n angerufen?“. Niemand meldet sich, ich drohe mit der Waffe. Marcus steht auf: „Beruhig dich, Mann! Ich war’s. Willst du mich jetzt umbringen?“, „Nein, das warst du nicht, ich weiß es! Du würdest mich nie so dreckig verpfeifen..“. Ein paar Sekunden Pause, bis ich weiterrede: „Vielleicht war es ja unsere Verräterin!“. Ich zeige mit meiner Waffe auf Stephanie, „aber egal, du wirst sowieso sterben!“. Dann fange ich mal an..
Von draußen ertönen Stimmen, aber ich nehme sie kaum wahr. Wie in Trance gehe ich meinem Auftrag nach. Ein Mädchen – was vielleicht zwei Klassen unter mir ist – packe ich unsanft am Arm und ziehe es in die Mitte des Raumes. „Bereit zu sterben?“, fragte ich sie mit einem Grinsen im Gesicht – das vielleicht erste Grinsen seit etlichen Jahren. „Das hast du nicht drauf!“, sagte das Mädchen. „Woher willst du das wissen?“, sie kennt mich doch gar nicht, diese Schlampe kennt mich nicht! Ich zähle laut ihre letzten Sekunden: „10 .. 9 .. 8 .. 7 .. 6 .. 5 .. 4 .. 3 .. 2 .. 1 ..“ *peng*, sie sackt zusammen, ist tot. Diese kleine rechte Sau hat den Tod verdient! Ihre jüngere Schwester steht auf, rennt zu ihr, „Melaniiiee..“. Ich zeige mit meiner Waffe auf ihr verheultes Gesicht: „Halt die Fresse und steh auf!“. Sie steht auf und wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. Ohne sie groß warten zu lassen erlöse ich sie aus ihrer Trauer und lasse sie ihrer Schwester folgen.
Die Polizei vor dem Gebäude hat anscheinend was gegen meine Schießerei, ein Polizist schreit irgendetwas durch sein Megaphon, doch ich realisiere sein Gerede kaum. Stattdessen frage ich in die Runde, wer den Wunsch hat, als nächstes zu sterben. Wie erwartet bekomme ich keine Antwort. Dann steht Marcus auf: „Lass uns Ruhe, du hast genug angerichtet!“. Ich grinse ihn nur an, kann gar nichts sagen. „Lass die anderen gehen, du hast dann immer noch mich!“, fleht Marcus. „Nein, du wist einer der wenigen sein, die das Gebäude lebendig verlassen können. Es wäre also dumm von mir, nur dich hier zu behalten.“, antworte ich.
Als nächsten Todeskandidaten wähle ich Stephanie aus: „Los steh auf, jetzt bist du an der Reihe!“. Stephanie ist aus meiner Klasse und war früher meine beste Freundin. Völlig verängstigt fragt dieses kleine Mistvieh, warum sie sterben müsse, „wir.. waren doch.. immer.. die besten Freunde..“, meint sie. Ich muss mir ein Lachen verkneifen, „Das ist lange her! Zuviel ist passiert.. Weißt du nicht mehr, dass ich wegen dir von fünf Leuten verprügelt wurde? Hast du vergessen, wie du mich früher belogen und verarscht hast? Ich habe lange gebraucht, um dies zu begreifen. Aber ich habe es begriffen, ich bin nicht so bescheuert wie du denkst!“. „Das.. tut mir alles.. doch so schrecklich.. leid. Das.. war dumm.. von mir.. damals. Du.. weißt doch, .. dass ich.. das nie gewollt.. hab.“, antwortet dieses dunkelhaarige erbärmliche Ding vor meinen Füßen. „Ach ja, und warum hast du Marcus und mich dann vor 2 Jahren so arg verraten dass wir sogar bis vor Gericht mussten? Du brauchst mir nichts erzählen, du bist die mieseste Sau, die mir je über den Weg gelaufen ist. Und das wahr wahrscheinlich dein größter Fehler!“. Die Vorfreude übernimmt Überhand und ich kann es kaum erwarten. In wenigen Sekunden werde ich den wichtigsten Teil meiner Aufgabe erledigt haben. Den Lauf der Waffe auf Stephanies Kopf gerichtet zähle ich wieder bis Null (ich will diese Kreatur leiden sehen): „10 .. 9 .. 8 .. 7 .. 6 .. 5 .. 4 .. 3 .. 2..“
Ich höre Geräusche, wo kommen sie her? Die Tür, sie bewegt sich, geht auf, so schnell. Mein Oberarm schmerzt. Ich drehe mich durch die Wucht der Kugel um meine eigene Achse, falle hin und sehe das Blut. Ich sehe die Cops, die den Raum stürmen und die Schüler in Sicherheit bringen wollen. Ich schieße wie wild um mich, ohne zu zielen, ohne zu wissen was und ob ich treffe. Eigentlich nur hoffen, dass das Blei ein Ziel findet, ein menschliches Ziel. Ein weiterer Schmerz, diesmal in der Hand, ich habe keine Kraft mehr zum abdrücken. Mir wird schwarz vor Augen, ich glaube, ich werde bewusstlos...