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An der Tramstation

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18.02.2008
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An der Tramstation

Er stand an der Bar, trank sein Bier und zahlte. Beim Hinausgehen überlegte er, ob er vielleicht wieder hierher zurückgehen würde, irgendwann einmal. Doch die Kälte veranlasste ihn den Mantelkragen enger an den Hals zu drücken, und er vergass, dass er sich eine Antwort geben wollte. So ging es ihm öfter. Er hetzte seine Gedanken auf das Nächste, war schon in der Zukunft, vergass das Jetzt. Doch jetzt wartete er. Einer der wenige Momente - eine Ausnahme - da er genau wusste, was er tat.
Obwohl er das ganze Leben hindurch wartete, eignete sich dieser Ort besonders dafür. Er schritt drei Schritte vorwärts, las, um sich abzulenken, den Fahrplan. Das Lesen hatte keinen Einfluss auf das Geschehen, aber damit kam die Sicherheit der Zeit: 10 nach 10, war es vorgesehen, hier an dieser Station ein Tram anhalten zu können. Halt auf Verlangen.
Sicherlich, aus irgendeinem Grund, den er nicht kannte, könnte das Tram Verspätung haben, oder - zwar undenkbar, aber doch nicht ganz von der Hand zu weisen - nicht anhalten, sondern nur kurz abbremsen, um weiterzufahren.
Er hielt sich an die Tatsache, dass das Tram weder in Hör- noch in Sichtweite war, und er immer noch dastand; wobei er mehr schwankte als stand. Er zog es vor, sich im Halbdunkel an die Wand zu lehnen, bis zu jenem Zeitpunkt, da er die Möglichkeit erwog, dass er vermutlich übersehen werden könnte. Er wagte seinen Kopf, seinen Hals vornüber zu strecken und dabei sich mit den Schulter leicht abzustossen, so gleichsam einen unsicheren Schritt vorzutreten, um anschliessend mit der linken Hand nach seinem Hosenbein zu tasten, wobei es ihm erst nach dem vierten Versuch gelang, erleichtert, schmunzelnd erfreut über seine Beharrlichkeit, die versilberte Kette aus dem Hosensack zu ziehen, an deren Ende die runde Taschenuhr hing; mit zunehmender Verwunderung konnte er eindeutig feststellen, indem er sich wieder an die Wand zurücklehnte: die Zeiger standen still. Er versuchte sich zu erinnern, aus welchem Film diese Szene stammte und ärgerte sich aber zugleich, dass er das Leben immer mit einem Film verglich. Er wünschte sich auf die Wirklichkeit konzentrieren zu können: Ja, er befand sich an einer Tramstation und die Uhrzeit war ins Ungewisse gerückt.
"Nur keine Panik jetzt", flüsterte er vor sich hin. Er steckte zwischen zwei Zeiten, die Zeit, da ein Tram weg und die Zeit, da ein Tram kommen würde. Wenn er ein paar Schritte weiterginge, könnte er vielleicht die nächsten Station erreichen. Falls nun unterwegs ein Tram an ihm vorbeifuhr, wüsste er mit Bestimmtheit, dass noch eins gefahren wäre; es ratsam war, dass er hätte bleiben müssen, da es nicht auszuschliessen war, dass es das Letzte gewesen sein könnte, das da an ihm vorbeifuhr. Andernfalls, wie weit entfernt die nächste Station lag, davon konnte er sich kein Bild machen, auch nicht, wann er diese Strecke gefahren und ob nicht gerade seither auf diesem Streckenabschnitt eine Station aufgehoben worden war. Käme er bei dieser wie weit weg auch immer liegende nächste Station an, - irgendeine müsste ja die Nächste sein, - und kein Tram wäre an ihm vorbeigefahren, so war er ein paar Schritte weiter, wüsste aber dennoch nicht, ob er das letzte Tram verpasst, seine letzte Chance schon vorüber war!
Er wünschte, dass irgend jemand an diese Station käme, auch wenn der oder die nicht wüsste, welche Uhrzeit es wäre. Zumindest stünde er dann nicht alleine da. Er schaute umher, doch da war niemand. Er stellte sich diesen Niemand vor, auch wie er auf diese Person zuging, falls er den Mut dazu fände. Er erschrak, weil dieser Niemand ein paar Schritte zurückging, ihm damit unmissverständlich aufzeigte, dass er’s mit der Angst zu tun hatte, jener Angst, die ihm wie ein Schatten vorausging, dass er für diesen Niemand ein Fremder ist, der abends aus dem Halbdunkel herausschwankt, ein Fremder, den's zu Fürchten gilt. Soweit durfte er es nicht kommen lassen. Er müsste diesem Niemand zu verstehen geben, dass es ihm bloss unangenehm sei, nicht zu wissen, wann und ob überhaupt ein Tram vorbeikäme, und dass er ungern allein warte. Das dürfte doch wohl zu verstehen sein, ausser - dieser oder diese, sie oder er wollte allein und ungestört warten.
Glücklicherweise war kein Mensch in seiner Sichtweise und er konnte sich getrost an die Wand zurücklehnen und leise vor sich her plaudern. Es spielte keine Rolle, worüber er sich mit sich unterhielt, ihm gefiel, das langsame Aufsteigen verschiedener Dampfwolken aus seinem Mund, die erwärmte ausgeatmete Luft, die in der Kälte sichtbar wurde. Fasziniert vom Effekt des Gegenlichts, schaute er seinen in hellen Schwaden aufgelösten Worten zu. Er bestaunte seine in Worte formulierte Sehnsucht nicht allein zu sein, wie sie in Wölkchen vorbeiflogen, lang und fadenförmig, sich verfetzte, um sich aufzulösen und endlich zu verschwinden. Abrupt unterbrach er sein Spiel mit den gehauchten Worten, schaute wie gewöhnlich auf die Uhr, auf die still gestandenen Zeiger, die zwar ein Zeit anzeigten, eine Zeit, die vorbei und nun für ihn völlig bedeutungslos war. Er hatte früher einmal gelernt, wie die Zeit abgelesen wird, aber dieses Können nützte ihm in dieser Situation nichts; er nahm sich vor, dass dann, wenn er eine Uhr sähe, die richtig tickt, er seine Uhr nach dieser Zeit richten würde. Doch bis dorthin, hatte er sich damit abzufinden, dass er die genaue Uhrzeit nicht wusste, dass er allein an einer Tramstation wartete ohne zeitliches Wissen. Ob dieses Warten, um diese Zeit, überhaupt einen Sinn machte, auch damit hatte er sich abzufinden.
Wie des Öfteren tat er etwas, von dem er überhaupt nicht wusste, warum er dies tat. Er sah sich gezwungen von seiner Weltanschauung, wie etwas sein sollte, Abstand zu nehmen und Zweifel aufkommen zu lassen. In seiner Verzweiflung hoffte er sich an der einen Tatsache, nämlich dass dies eine Tramstation sei, aufrichten zu können. Er schaute auf den Boden, sah die Tatsachen. Da lagen zerbrochene Zündhölzer, angerauchte Zigaretten, jenes Papier, teils verkrügelt, verrissen, manche von der Sonne gebleicht, vom Regen verwaschen auf dem schwarzen Asphalt klebend. Sein Blick ging zum runden Drahtgitter des Abfallkorbs, das angeschwärzt war und an einigen Stellen grössere Löcher hatte, könnte sein, dass dies mutwillig zerstört und unbrauchbar gemacht wurde, so dass jetzt die Dinge nicht mehr im Korb, sondern darunter lagen: Zeitungen, Alugetränkedosen, Plastiktaschen, gekaute Kaugummis, ein halbwegs abgeschleckte Schleckstengel, zerknutschte Silberpapierstreifen, ein angebissener Apfel und ein halbverschimmelter halber Brotlaib. Er war sich dessen gewiss, dass er nicht mehr ganz nüchtern war, ergo doppelt, quasi mit vier Augen sah und mit taumelnd stehenden Beinen auf einem kreuzförmig angordnet, kleinmaschigen Metallgitter, das ein Loch zudeckt, stand. Unter ihm war ein Abflussrohr, indem sich ein Berg aus lauter Zigarettenstummeln aufgebaut hatte, die zerquetscht, gekrümmt, angeschwärzt, dreckig braun oder rötlich, weil mit Lippenstift geküsst waren; ein Märlyland der verbrannten Lust.
Je mehr er seinen Rücken zur Wand drückte, desto mehr verspürte er die Geschwindigkeit, mit der er und mit ihm die Erde durch das Weltall saust. Um sein Verlangen nach Halt zu stillen, blickte er auf eine rote Hand auf weissem Grund und las:
Halt auf Verlangen
darunter sah er eiin Werbeplakat der SBB, in weiss auf blau:
Mami kommt in 3 Minuten
- Seine Mutter? -
also, die Frau, die ihn auf die Welt gebracht und deren Begräbnis er eine Rede gehalten hatte, dass er auf diese Frau warten würde, dies erschien ihm etwas verwegen.
Für einen kurzen Augenblick schlich er sich von der Wand weg und pinkelte an die Ecke. Wie gut dies tat, - doch wenn er nun als Frau geboren und erzogen worden wäre, könnte sie nicht so in die Ecke stehen, sich mit dem rechten Ellbogen an der Wand abstützen, den Kopf leicht daran lehnen, es würde sich gar nicht geziemen, hier nieder zu kauern, denn da wäre die am Tage darauffolgende Blickschlagzeile:
FRAU PISST
IN DIE ECKE.
Ohne weiteres dürfte sie auf Seite 3 ihren nackten Busen zeigen, aber niemals mit dieser oder ähnlichen Schlagzeile auf Seite 1 erscheinen, ohne Bild, nur mit dem Text:
Nach einem nächtlichen Barbesuch, vergass Frau (Name der Redaktion bekannt) offenbar die Zeit und verlor ihren Verstand. Sie kauerte sich an der Ecke eines Tramwartehäuschen nieder und liess in klirrender Kälte ihrem Wasser freien Lauf. Der Vorfall wurde vom vorbeifahrenden Tramwagenführer entdeckt und sofort der Polizei gemeldet. Bei ihrer Einvernahme stritt die Frau ihre Tat nicht ab. Dem zuständigen Beamten gegenüber erklärte sie, dass wenn sie ein Mann gewesen wäre, dieser Vorfall gar keine Notiz gefunden hätte.
Erfreulich für sie war der Umstand, dass erst nach Redaktionsschluss der Beruf bekannt wurde. Im Regionaljournal 7 vor 7 kam dann die Meldung:
«Die Frau, die die Tramstation als öffentliche Toilette benützte war eine Lehrerin.»
Und im Mittagsjournal von DRS 1 wurde die Schulpflegpräsidentin, eine SP-Frau, zu einer telefonischen Stellungsnahme gebeten, und sie erklärte denn auch, dass dieses Verhalten einer Lehrperson nicht toleriert werden könne und die betreffende Lehrerin bereits vom Schuldienst suspendiert, als auch eine disziplinarische Untersuchung betreffend ihres ausserschulischen Benehmens angeordnet worden sei.
Im Lehrerzimmer, auf dem versilberten Türschild wurde mit schwarzem Filzstift nachträglich noch -Innen ergänzt, gab es nur dies eine Thema als Gesprächsstoff. Ein etwas bulliger Lehrer, der seinen Schülern gelegentlich eine Kopfnuss verpasste, um wie er es ausdrückte, ihnen die Eier zu schleifen, bemerkte mit tiefer Brusttonstimme, dass er es immer schon gewusst habe, dass diese Lehrerin nicht ganz dicht sei. Im gestockten Männerlachen ging die spitze Bemerkung der stets buntfarbig gekleideten Rektorin, dass man dies auch von ihm sagen könne, unter, weil sie aus Angst vor ihm dies nur flüsterte. Gerne hätte die Rektorin vorallem ihre Kollegen zu einer etwas differenzierten Stellungsnahme herausgefordert, doch der Telefonanruf der Schulpflegpräsidentin hielt sie von diesem Unterfangen ab. Hinzu kam noch die Frage des Mäusefutters. Ein Lehrer hatte der Jahresabschlussrechnung den noch ausstehenden Betrag für Heu und Futter seiner erst kürzlich gekauften Mäuse beigefügt. In der Sitzung des Gemeinderates wurde beschlossen, dass dieser Lehrer die 44 Franken selbst zu berappen hätte, zudem, aber darüber konnte keine Einigung an der Sitzung gefunden werden, wurde erwogen, ein generelles Verbot für das Halten von Haustieren im Klassenzimmer auszusprechen. Im Vordergrund standen dabei wohl mehr finanzielle Erwägungen als tierschützerische Bedenken. Die Schulpflegpräsidentin, die ihr Amt erst seit drei Wochen angetreten hatte, war nun mit der pinkelnden Lehrerin vor Probleme gestellt, an die, wie sie beteuerte, sie nicht im geringsten gedacht hatte als sie kandidierte. Im Vorfeld ihrer Wahl trat sie nämlich noch bei einer Kommissionsitzung, deren Ziel es war zum Thema Gewalt und Vandalismus in der Schule ein Handbuch in Form eines Bundesordners für die Schulpflege und den Lehrkörper auszuarbeiten, noch vehement dafür ein, dass die zwar im Schulgesetz verankerten Begriffe Ordnung und Disziplin durch gemässigtere und zeitenstprechendere Ausdrücke zu ersetzen seien. Persönlich und privat konnte sie zwar dem Harndrang der Lehrerin durchaus Verständnis entgegenbringen, auch dass diese sich nicht getraute, irgendwo zu klingeln, weil dies als vorgetäuscht, als raffiniert eingefädelter Raubüberfall hätte aufgefasst werden können. Doch in ihrer neuen Funktion und von Amtes wegen musste sie, nur schon um dem vornehmlich männerbesetzten und CVP-lastigen Gemeinderat aufzuzeigen, dass sie ihre Frau stand, in diesem konkreten Fall unmittelbar reagieren, mit der Härte des Gesetzes einfahren, dem Recht Geltung verschaffen und nicht erst abwarten, bis die Diskussion, ob allenfalls der Tatbestand des Urinierens auf öffentlichem Grund gar nicht so sehr ein juristisches, sondern vielmehr ein moralisches oder gesellschaftspolitisches Problem darstellt, vom europäischen Rat der Menschenrechtskommission erörtert und reglementiert würde.

 

Die Erzählung besteht aus zwei Teilen. Im ersten Teil die Schilderung eines Losers, der denkt, seinetwegen würde menschliche Organisation der Tram ausgehebelt werden. Von wem, von Gott, dem Schicksal? Gleichzeitig offenbart er in seinem Zeitverständnis seine Abhängigkeit von dieser menschlichen Organisation und damit von der Gemeinschaft. Ohne diese kommen ihm die simpelsten raumzeitlichen Verständlichkeiten abhanden, zweifelt er gar (weiter unten) an seinen eigenen Fähigkeiten, kognitiv behindert, gar infantil weil mal kein Mensch zum Händchen halten da ist. Karikatur eines intellektuellen einsamen Wolfes. Doch was wäre im eine anwesende Person, ein Gegenstand seiner Furcht, degradiert gerade mal noch zur Legitimation seines Dasein. Er bietet kein tiefergehendes Verständnis des menschlichen Zusammenseins, die Kommunikation gerät im zur Pose, zum inhaltlosen, ästhetischen Selbstbezug, Menschen gibt es nur in ihren vergangene Aktionen belegenden Überbleibseln. Da schreit dieser Mensch nach der Mama, nach dem Mutterleib und nach einem gottgleichen Bewusstsein, dass die Allbewegung zu spüren meint. Das war der Moment, in dem ich dachte, dieser Paranoia kann nur ein Besuch in den hungernden Regionen der Dritten Welt abhilfe schaffen. Genau das war dann auch für Teil 2 der Moment in dem der Druck (aufgrund der Mutteridee etwa noch?), der sich erstmal rein physiologisch im Urinieren entlädt erzählerisch im Aufbau eines weiblichen Sündenbocks und der Verschiebung der Verantwortung entlädt. Hier, wo die Welt wieder Eingang in die Story (dieser Status ist auch diskussionswürdig) findet, wird die Frau moralisch behuckepackt und dabei ihr Lebensalltag der Lächerlichkeit preisgegeben. Zugleich wird ihr Bildungsauftrag, verantwortungsbewusste, kluge, interaktive etc Menschen heranzubilden mit den weißen Mäusen unglaubwürdig und als Zucht und Abrichtung hingestellt.
Da geh ich jetzt ins Bett und warte auf ein Belehrung des Besseren. Gruß Claudio

 

hi hendiadyoin (warum denkt man sich eigentlich Nicks aus, bei denen man entweder kopieren und einfügen oder ständig wieder nach oben scrollen muss, um sie richtig zu schreiben?),

da baust du zunächst Spannung auf, ob denn nun wann und wie eine Tram kommt und deinen Prot mitnimmt, auch dessen Notdurft als mögliches Grund diese, wenn sie kommt, doch zu verpassen, sorgt für Spannung, und dann schweifen dessen Gedanken ab zu seiner Mutter, zu seiner Vorstellung, als Frau geboren zu sein und den naheliegenden Konsequenzen, und ich denke schon, ah coole Geschichte, doch dann verlaberst du den Rest, schweifst immer weiter ab und findest den dramaturgischen Bogen nicht mehr. Irgendwo unterwegs ist er abhanden gekommen und wird auch nie wieder aufgegriffen. Das ist schade, denn wie gesagt, die Geschichte fing gut an, ging gut weiter und fiel dann plötzlich in sich zusammen, also sie zur Schulkonferenz kommt.

Lieben Gruß
sim

 

hi sim
ein merci für die anregungen - ich mach mich auf die bogensuche, kann gut sein, dass es eine weile dauert.

 

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