An einem Abend im November
Sie hatte schulterlange Haare, leicht gewellt, dunkelblond.
Draußen war es kalt, wie immer Ende November. Ziellos lief Elena den breiten Fußweg entlang, vor- bei an fremden Menschen, schon seit einer Stunde, oder zwei. Die melancholische Stimmung, die sich in ihrer Wohnung ausgebreitet hatte, während sie allein in ihrem Zimmer saß und Musik hörte, war ihr zu viel geworden. Sie kam in letzter Zeit nicht selten vor, diese Lustlosigkeit und unbegründete Trauer, die unbeachtete Gleichgültigkeit ihres Vorhandenseins, während sie in schwarzen Schuhen auf dem nassen Pflaster lief und der kalte Wind ihr um die Ohren pfiff, ihr Haar zerzauste. Sie trug einen hellgrauen Dufflecoat mit großen Taschen, darunter einen beigefarbenen Norwegerpullover und dun- kelblaue Jeans. Nicht mal ihre Füße waren kalt, was sie insgeheim freute.
Schon die ganze letzte Woche über hatte die Sonne es nicht geschafft, durch die Wolken zu dringen. Es waren eigentlich keine richtigen Wolken, der gesamte Himmel schien sich verändert zu haben. Er war ein Gemisch aus Weiß und Grau, so wie Elenas Mantel. Wobei sie allmählich anfing, es zu mögen, das Wetter. Dieser Sturm, die nassen Straßen, frische, klare Luft und Dunkelheit. Das war das Schönste für Elena: die Dunkelheit.
Als sie die Straße entlang ging, dämmerte es bereits. Sie freute sich auf den Abend zu Hause. Erst würde sie heiß duschen, während die Spiegel anliefen, dann würde sie ihre Haare hochstecken, sich mit der süßlich duftenden Bodymilk eincremen und ihre dicksten Socken aus der Kommode kramen, danach würde sie sich den Wollpullover überziehen, der einmal ihrem Vater gehört hatte, der nach ihm roch, und Tee kochen, vielleicht mit etwas Honig. Sie würde es sich auf dem alten Sessel bequem machen, mit einem guten Buch und ab und zu einen Schluck von dem dampfenden Getränk nehmen, fühlen, wie es in ihren Bauch lief und eine angenehme Wärme ver- strömte. Vielleicht würde sie einige Kerzen anzünden, oder Räucherstäbchen. Sie liebte den Geruch von Weihrauch; sie würde das „Allein“ in ihrem Kopf wieder vergessen haben. Doch im Moment war sie noch unterwegs. Unten in den Straßen, wo sich das Leben abspielte, die Realität, wo alles einfach so geschah, unabhängig von Elena. Es war egal, ob sie dunkelblaue Jeans trug oder Turnschuhe. Auch an diesem Tag wäre es dunkel geworden; auch an diesem Tag wären die Straßenlaternen nach kurzem Flackern angegangen; auch an diesem Tag wären all die unzähligen Autos vorbeigefahren, unabhängig davon, ob Elena diese scheinbar endlos lange Einkaufsstraße entlang ging. Ihr Leben schien ihr fast beiläufig. Es war nicht voller Dramatik, Hoffnung oder erfüllt von grenzenloser Liebe, es war nicht wie im Fernsehen. Es war ganz einfach Elenas Leben. Sie hatte in der Vergangenheit Zeilen von einem Mann gelesen, einem Fremden: „Ich bin einfach der Meinung, dass in dieser Welt, in der Gefühle keine Berechtigung mehr haben, sie einfach zu sehr in der Literatur behandelt werden. Und das zu neunzig Prozent so schlecht, dass man am liebsten ein Stein würde und nie mehr etwas fühlen möchte.“ Und sie mochte diese Zeilen.
Elena lief weiter, kannte diese Straße, diese Fußgängerzone, all die beleuchteten Schaufenster, den Anblick der vorbeifahrenden Autos, ihrer roten Rücklichter. Man merkte, dass es ein Freitag war. Wenn auch nicht so viele wie im Zentrum der Stadt, waren auch hier Menschen unterwegs; irgend – wohin, aus irgendeinem Grund. Elena hasste dieses Gedränge, durch das sie sich jeden Tag auf den Weg zur Arbeit quälen musste. Doch hier war das anders. Sie konnte immer weiter laufen, die Hände verborgen in den Taschen, an einem Novemberabend, nachdem es dunkel geworden war, ohne angerempelt zu werden. Zwei Menschen kamen ihr entgegen. Er hatte einen Arm um sie gelegt, sie trug einen Mantel, ähnlich wie der Elenas. Elena betrachtete die beiden, bis sie an ihr vorbeigegangen waren. Sie schienen glücklich zu sein, eine weitere Sache, die Elena an diesem Abend irgendwie auf- heiterte. Sie war eigentlich nicht der Mensch, der durch die Welt ging und allen Glücklichen die Hand schüttelte. Aber sie hatte festgestellt, dass es oft kleine Dinge waren, die ihr Leben und sie selbst zu dem machten, was es war. Manchmal reichte eine leckere Pizza mit doppelt- viel Käse aus, um sie glücklich zu machen. In ihren Augen war nichts vergleichbar mit dem Geruch, der kurz vor einem Wärmegewitter in der schwülen Luft hing, geschweige denn mit einem Spaziergang an der See. Elena liebte das Meer. All diese Kleinigkeiten machten das Leben für sie erst lebenswert, während sie durch die Fußgängerzone ging. Den bunten Schaufenstern schenkte sie keine Beachtung. Sie waren nichts weiter als Lichtpunkte am Rande ihres Blickfeldes. Aber dann kam sie auf der Höhe des Kinos gegen- über an. Sie sah auf, betrachtete die wechselnden Bilder auf der großen Leinwand über dem Eingang, auf der sie Werbung für neue Filme ausstrahlten. Viele Leute strömten in das Innere des Gebäudes, andere kamen heraus. Naja, es war halt Freitagabend. Erst vor einer Woche war Elena im Kino gewesen, mit ihrer Schwester. Es war seltsam, dass beide in der gleichen Stadt wohnten, sich aber nur selten sahen und selbst dann bedurfte es längerer Planung. Doch sie war durchgehend verplant, mit ihrem Job und ihrem Dauerfreund. Vielleicht ahnte sie einfach nicht, wie wichtig sie ihrer kleinen Schwester war. Sie empfand es nie als schlimm, Verabredungen mit ihr kurzfristig abzusagen oder zu verschieben, setzte Elenas Verständnis voraus. Das tat sie immer, ohne Entschuldigungen, ohne Rücksicht, ohne darüber nachzudenken.
Elena stand noch immer auf der anderen Straßenseite und betrachtete die Leinwand vor dem mittler- weile schwarzen Himmel, wartete auf die Vorschau des Films, den sie mit ihrer Schwester gesehen hatte. Es war einer, den man umgangssprachlich wohl als „Schnulze“ bezeichnete. Sogar Elena tat es, das war ihr nicht peinlich. Es kam nicht oft vor, dass sie sich Liebesfilme ansah, eben wegen diesen dramatisierten Geschichten, die weder ohne Lügen noch ohne den Tod halbwegs unterhaltsam gewesen wären.
Sie stand noch immer regungslos da, hing in der Erinnerung an einige Szenen fest, die sie schön fand, kitschig, aber schön. Bis ihr eine Schulter unsanft in den Rücken gestoßen wurde. Elena sah sich um, konnte aber nicht erkennen, wer es gewesen war, egal. Sie ging weiter, vorbei an Restaurants und grell beleuchteten Schaufenstern, an kleinen Clubs, Bars und Kneipen, Cafés; vorbei an Läden die eine Mischung aus allem waren. Sie bekam Lust etwas zu trinken, in einer dieser Bars mit großen Fenstern, die zur Straße zeigten, in denen das Licht schummrig war und die Einrichtung rustikal, wo sie Musik spielten, die man sonst nirgendwo hörte. Elena zog eine Hand aus der Manteltasche und fasste unter ihren Dufflecoat, prüfte, ob sie noch Geld in den Jeans hatte. Sie zog die Hand wieder hervor und zählte die Münzen. Es war nicht viel, würde aber ausreichen. Sie ging weiter und sah sich jetzt auf- merksamer um. Kurz darauf stand sie vor einer Bar. Ohne lange zu überlegen ging sie auf die Tür zu; begleitet von einem knarrenden Geräusch öffnete sie sie. Stickig warme Luft und leise Musik umgaben Elena, nachdem sie hineingegangen war. Es roch nach Rauch und an den Wänden hingen Bilder. Elena vermochte nicht zu erkennen, was sie darstellten, doch sie gefielen ihr. Sie sah sich um. Links von ihr befand sich ein Tresen, von der Decke hing ein seltsames Gebilde aus Stahl oder einem anderen Metall, Kunst. Es war kein ebener Raum. Um sich an die Tische am Fenster setzen zu können, musste man erst zwei Stufen hinaufgehen. Es muss ursprünglich eine Art Bühne oder Podest gewesen sein. Auf den Tischen standen Kerzen, jeweils eine; sie brannten, ob jemand da saß oder nicht. Es waren unerwartet wenig Menschen da. Diese warme und gemütliche Atmosphäre hatte Elena gleich in
ihren Bahn gezogen, sie mochte dieses Café seitdem sie den ersten Fuß hinein gesetzt hatte. Entschlossen ging sie zwei Schritte bis zum Tresen hinüber und bestellte einen Tee. Der Mann dahinter, dunkle Haare, schwarzes Hemd, nickte: „Vier fünfzig.“ Sie hielt ihr Geld noch immer in der Hand, auf die sie jetzt hinunter sah und drei Geldstücke nahm, die sie ihm reichte. Er sah sie an, als suche er etwas in ihrem Gesicht, als hätte er es soeben gefunden. Er wandte den Blick ab, dann zählte er nach und öffnete ein großes Portmonee, in dem er die Münzen klimpernd verschwinden ließ.
Elena ging langsam in Richtung Fenster, sah sich um. Sie ging die zwei Stufen hinauf und als sie an einem freien Tisch stehen blieb, begann sie, ihren Mantel aufzuknöpfen. Es schien als bräuchte sie dafür all ihre Konzentration. Ihre Finger drehten jeden Knopf sorgfältig, achtsam. Ihr Mantel glitt ihre Arme fast hinunter. Sie legte ihn auf der Sitzbank ab, schob ihn nach hinten an die Scheibe, sodass Elena sich setzen konnte.
Sie schaute hinaus, dachte an nichts und folgte den Vorübergehenden mit Blicken, tauchte ein in das Geschehen auf der anderen Seite. Und doch schien sie woanders zu sein. Schwer zu beschreiben wo, denn es gibt keinen Ort dafür. Nach einigen Minuten sinnlosen Hinausstarrens wurde die Eingangstür geöffnet. Ein kühler Windzug streifte ihre Beine, Elena sah auf. Zwei Frauen waren hereingekommen, nicht weiter interessant. Sie blickte hinüber zum Tresen, zu dem Mann. Neben ihm stand ein zweiter, jüngerer, ein Kollege. Elena fand ihn plötzlich sehr attraktiv, diesen Mann mit den dunklen Haaren und dem schwarzen Haaren. Es war ihr nicht aufgefallen, als sie vor ihm gestanden hatte, doch jetzt, sie wusste nicht warum, mochte sie ihn irgendwie. Doch sie bemerkten es nicht, keiner von beiden. Oder doch?
Er hielt in seiner Bewegung inne, als wäre ihm gerade etwas eingefallen und er ließ seinen Blick unsicher durch das Café schweifen, bis er an Elena hängen blieb. Er sah sie an, als wäre es das erste Mal, auf die gleiche Art, wie sie es tat. Ein Moment verstrich, in dem sie vielleicht davon ahnten, was sie bemerkten. Dann schaute sie weg, einfach so, ohne einen Grund, nichts, was dagegen gesprochen hatte. Er war mindestens fünf Jahre älter, er war ihr sympathisch. Sie las die Namen der Getränke auf der Karte, die halb aufgeklappt vor der Scheibe stand; verschiedene Sorten von Kaffee. Elena fühlte eine gewisse Unruhe. Sie sah zum Tischende, das in den Raum ragte. Da stand er, dunkle Haare, schwarzes Hemd. Er setzte sich und sie waren ruhig. Er schob ihr eine Tasse hinüber, die er in der Hand gehalten hatte und sie waren ernst. Elena schmiegte ihre kalten Finger um das Porzellan, nahm das unverwechselbare Aroma des Tees, schwarzem Tee mit Honig, in sich auf. Keiner sagte etwas, sie wussten nicht was. Doch sie ahnten sicher, was sie bemerkten. Sie sah aus dem Fenster, genau wie er es tat und sie schwiegen, einverstanden mit der Ruhe. Hätte sie jetzt etwas gesagt, oder er, wäre es dumm gewesen, doch so sollte es nicht sein.
Nach einer Weile zog Elena sich aus der Menge draußen zurück und sah ihn wieder an, er sie. Der Zeitpunkt war da, nichts war dumm, keine großen Worte. „Ich mag diesen Tee.“ „Ja, ich auch“, antwortete er.