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An einem gottlosen Ort...
Es ist Nacht in der Stadt. Schon längst hat die Finsternis ihren Zenit erreicht und doch bist du hier, Fremder. Hier an diesem gottlosen Ort. Die verwitterten Hausfassaden in tiefes Schwarz gehüllt, wie dickflüssige Tinte auf einem Gemälde verstrichen. Die Gassen in prasselnden Regen getränkt scheinen vor Einsamkeit und Wind zu ächzen. Lediglich die einzelnen Straßenlaternen versuchen der Dunkelheit vergeblich zu trotzen. Ein buchstäblicher Hoffnungsschimmer, welkend, wie eine einsame Blume im Sand. Trostlos und nahezu melancholisch ist diese Szenerie und doch bist du hier, Fremder. Hier an diesem gottlosen Ort. So sage mir, was suchst du hier? Welchen Weg hat dich in diese vergessene Stadt geführt? Nenn mir dein Begehr der deine Schritte weiter vorantreibt und deine Entschlossenheit so vehement stärkt?
Schon sehr lange geht diese Reise. Die Füße längst für taub befunden, die Kraft seit Jahren aus den morschen Gliedern gewichen und doch bin ich hier, Vertrauter. Hier an diesem gottlosen Ort. Ganz egal, wie viel Zeit verstrichen ist, welche düsteren Tage durchs Land zogen, nie war das Ziel näher als jetzt. Ein einsam beständiges Licht in tiefstem Dunkel, wie ein Leuchtturm im gewaltigen Ozean unseres Lebens, so streife ich umher und suche sie. Der Name bereits entfallen, ihr Gesicht nichts weiter als eine Vermutung, doch obwohl sich diese Welt weiterdreht, sind meine Gedanken stets an sie gebunden. Das ist Liebe, sagten sie mir, und trotz aller Zweifel glaube ich ihnen. Die stärkste Kraft eines Daseins, ein ewiger Antrieb in verzweifelten Tagen, das tiefste Begehr einer einsamen Seele. Aus diesem Grund bin ich hier, Vertrauter. Hier an diesem gottlosen Ort.
Noch immer herrscht die Nacht über diese trostlose Stadt. Der Mond hat sich mit letzter Kraft gegen die störrischen Wolkenberge behauptet und bettet sich nun im dunklen Firmament dieser Welt. Weiß wie Knochen, bedrohlich wie der Tod, scheint er schadenfreudig auf dich herab, Fremder. Hier an diesem gottlosen Ort. Der dicke Asphalt, einst starr und massiv, lässt nun einzelne Neonlichter der porösen Leuchtreklamen auf dessen Oberfläche tanzen, wie aufbäumende Glühwürmchen am letzten Tag ihres Lebens. Und so geht auch dein Weg zu Ende, alter Wanderer, mit deinen müden Gliedern, deiner schwindenden Stärke und deiner unermesslichen Willenskraft. Diese Stadt wird dein Heimgang sein, dein ewiges Bett und doch suchst du sie, Fremder. Hier an diesem gottlosen Ort.
Die Schritte werden schwerer, langsamer der Atem, fragiler mein Herz. Das Ziel nun spürbar in den faltigen Händen, wie ein frühzeitiges Vibrieren eines heranbrausenden Sturmes. Noch einige Augenblicke und sie ist bei mir an meiner Seite, Vertrauter. Hier an diesem gottlosen Ort. Oh, verzehre ich mich nach ihren sanften Berührungen, ersehne die Umarmungen eng umschlungen in aller Ewigkeit. Nicht mehr lange und der Hafen ist letztlich in Sichtweite, nicht mehr lange und mein Wunsch wird endlich erfüllt. Mit einem lauten Dröhnen beginnen die Kirchenglocken zu schlagen, gebären und verklingen ihre melancholische Melodie. Meine Liebe lass uns tanzen, gegenseitig behüten und den letzten Weg zusammen in Glückseligkeit beschreiten. Es ist nun Zeit, sagst du mir, meine Augen zu schließen und die letzten Laternen hier auf Erden zu löschen, Vertrauter. Hier an diesem gottlosen Ort.
Es ist morgen in der Stadt. Deine Augen nun erschöpfend verschlossen und in tiefer Zufriedenheit gebettet, so liegt du da, Fremder. Hier an diesem gottlosen Ort. Deine Reise nahm nun ein Ende, der letzte Kampf ausgetragen, deine innige Pflicht nun vollkommen erfüllt. Das Leben hat nun begonnen, Kinderlachen auf den einst verlassenen Straßen, glückliche Gesänge im warmen Sonnenschein. Freude hat nun den langen Weg hierher gefunden und die Dunkelheit erfolgreich ins Nichts verbannt. Noch nie streifte ein solches Gefühl an diesen alten Gemäuern umher und ließ die Stadt strahlen wie ein prächtiges Königreich. Die Ketten nun gelöst, die Trauer längst vergessen und deine Mühe, oh Fremder, endlich bezahlt. Welch glänzende Zukunft hast du uns geebnet? Welch großartigen Morgen liegt uns nun bevor? Es ist ewiger Tag in dieser allzu großen Stadt. Grenzenloses Licht auf unserer bleichen Haut. Ich hoffe du hast deinen Frieden endlich gefunden, oh Fremder sowie auch ich, dein Vertrauter, hier. Hier an diesem gottlosen Ort.