Anders
„Gut so?“ Julie dreht sich vor dem Spiegel hin und her, betrachtet sich von allen erreichbaren Seiten. In meinen Augen ist sie wunderschön. In ihren auch.
Sie schürzt ihre Lippen, voll und schön geschwungen. Kein Wunder, dass sie die Männer verrückt macht! Dann schüttelt sie ihr Haar – mahagoni-farben - wie sie mir beigebracht hat. „Nicht wie dein fades rot-blond“, hat sie abschätzig gesagt, und ich habe es mir gemerkt, obwohl ich meine Haare eher kupfern finde.
Sie hat ja Recht. Meine Schwester hat immer genug Jungs, die hinter ihr her sind, und ich bewundere sie. Nur ... Wenn sie sich unbeobachtet fühlt, sinken ihre Mundwinkel so merkel-mäßig nach unten, und der kleine Bogen, der ihre Oberlippe begrenzt, wird schief und gibt ihr einen Ausdruck von Ekel. Aber wie gesagt, nur dann. Meistens ist sie die strahlende Julie, meine große Schwester.
„Du siehst klasse aus“, sage ich ihr ganz ehrlich, und sie lächelt dankbar zurück.
„Obwohl ... wofür mache ich das eigentlich?“ Ihre Miene verfinstert sich kurz. „Es sind bestimmt wieder nur die üblichen Typen da, alles Loser.“
„Und Bastian“, erinnere ich sie. Zählt sie ihren Freund nicht mit?
„Ja, auch der“, sagt sie gedehnt. „Und natürlich du!“ Sie lächelt wieder.
Ich stelle mich neben sie und hadere wieder mit allem. Warum kann ich nicht sein wie sie, warum muss ich so mager sein und diese Brille tragen? Wie gern würde ich mit allem tauschen, dann wäre ich zufrieden! Nicht wie Julie, die ihre weiblichen Hüften hasst und mit den Brüsten zwar kokettiert, aber die gierigen Blicke der Männer verachtet.
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„Du musst immer gewappnet sein“, ist nach wie vor eine ihrer häufigsten Lektionen für mich. Irgendwie scheint es zu stimmen, denn ihre Verliebtheit ist stets nur von kurzer Dauer, und die vermeintlichen Prinzen zeigen ihre Macken. Kurzerhand werden sie dann abserviert, und auch mich will sie beschützen. Misstrauisch verfolgt sie meine Beziehung zu Anders, immer auf das Schlimmste gefasst.
Das war schon im Anfang so, als ich mich mit ihm zum Inline-Skaten verabredet habe. Eine verrückte Idee! Er hatte sich welche zum Geburtstag schenken lassen, obwohl er seit Jahren nicht mehr gefahren war und hatte mir seine alten zum Ausprobieren angeboten. Als Kind hatte ich schöne, rote Rollschuhe, aber auf den schmalen Rollen zu fahren war doch schwieriger, als ich erwartet hatte. Und er war auch nicht besser als ich. Witzig! Nicht wie die Jungs, die immer auf cool und Könner machen. Wir schwankten beide durch die Gegend, quiekten entsetzt, taumelten, und irgendwann passierte das Unvermeidliche: wie in Zeitlupe stürzte Anders in meine Arme und riss mich mit, kam auf mir zu liegen. Es war angenehm, seinen Körper zu spüren, sein Deo gemischt mit seinem Geruch wahrzunehmen, und für einen Augenblick sahen wir uns ganz nah, ganz tief in die Augen. Ich hätte schwören können, dass er mich küssen wollte, doch in dem Moment gewann der Schmerz in meinem Steißbein die Oberhand, so dass mir Tränen in die Augen schossen und ich aufstöhnte. Vorbei, der magische Moment, Anders rollte sich neben mich und flüchtete einen Meter, verdutzt, entsetzt, schuldbewusst. Als ich mit verschmiertem Gesicht nach Hause kam, stand Julie zum Trost bereit, auch wenn meine Enttäuschung nicht ihren Erwartungen entsprach.
„Anders ist eben anders“, habe ich damals zum ersten Mal gesagt, und ich weiß nicht, wie oft ich das inzwischen gedacht habe.
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Auch für meine Freundin Laura ist Anders nicht der Traummann. Wir sind seit der Grundschulzeit befreundet, haben fast alles gemeinsam gemacht. Sobald sie die Erlaubnis ihrer Eltern hatte, hat sie sich mit Henna die Haare gefärbt, und seitdem wurden wir oft für Zwillinge gehalten . Doch seit ein paar Monaten ist es anders: nicht nur, dass sie mit meinem schnellen Wachstum nicht mehr mithalten konnte, sie hat sich plötzlich die Haare erst schwarz, dann blau gefärbt und trägt Piercings in Ohren, Lippe und Augenbraue. Plötzlich hört sie Terrorgruppe und Pestpocken und hat mir alle ihre nicht-schwarzen Klamotten geschenkt, soweit sie mir passten. Trotzdem, wir verbringen weiterhin jede Pause miteinander .
Eins unserer Hauptthemen: Jungs. Immer wieder erzählte sie mir von Adam.
„Er wollte heute Lehrer-Bingo mit mir spielen.
„Lehrer-Bingo, was ist das denn?“, fragte ich ungläubig.
„Na ja, jeder kriegt eine Liste von Wörtern, die der Lehrer sagen soll. Leichte wie Hausaufgaben und schwere wie Konturkapuze.“ Sie grinste. Und wenn der Lehrer alle gesagt hat: Bingo! Lachen. Sie fand Adam toll.
„Und Anders? Warum findest du ihn denn nicht süß?“, fragte ich verunsichert. Findest du ihn zu dünn? Zu schlaksig?“
„Ach, nee, der ist bloß so schüchtern, sagt ja nie was.“
„Wenn er mit jemandem befreundet ist, ist das anders“, verteidigte ich ihn, „dann wird er schon zur Plaudertasche.“
„Klar“, grinst Laura. „Er ist halt ein Emo“, und mit einem vielsagenden Blick auf mich: „Vielleicht gar nicht so schlecht für dich.“
Ich habe ihr nicht von unserem Gespräch über meine Brille erzählt.
„Ach, Sehfehler haben doch die meisten“, hat Anders gesagt. „Und sie gehört doch zu dir, macht dein Gesicht harmonisch.“ Damit hat er mich ganz oben auf die Wangenknochen geküsst, so hoch, dass seine Oberlippe Flecken auf dem Brillenrand hinterlassen haben.
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Trotzdem, ich blieb auf der Hut. Und die erste Enttäuschung ließ auch nicht lange auf sich warten. Wir wollten zusammen eine Erdbeertorte machen, mit einem gekauften Tortenboden und selbst gepflückten Früchten. Wie ein richtiges Paar, dachte ich stolz, als wir uns anmeldeten und mit den Körbchen auf das Feld gingen.
In langen Reihen lockten da die kleinen Pflanzen mit ihren leuchtenden Früchten. Ich nahm die linke, Anders die rechte Reihe, und wir machten uns an die Arbeit. Nach kurzer Zeit hatte ich ihn abgehängt und mein Körbchen war beinahe voll. Anders kauerte immer noch am ersten Meter, und seine Ausbeute war spärlich.
„Mann, hast du etwa alle gegessen?“, fragte ich gereizt und rieb mir den Rücken. Anscheinend hatte diese Torte gar nicht so eine große Bedeutung für ihn.
„Nö, ich seh’ das so schlecht“, murmelte er.
„Ach, du bist doch nicht behindert!“, sagte ich ärgerlich und wischte mir den Schweiß von der Stirn.
„Behindert, pah!“ Grimmig spannte er seine Kiefer an.
„Sag bloß, jetzt bist du auch noch beleidigt“, entgegnete ich in einer Mischung aus Ärger und Verwunderung.
„Ja, stell dir mal vor ...“ Das sollte mein lieber Freund sein?
„Dann lassen wir es halt mit der Torte... Ist ja nicht so wichtig!“
„Eben“, patzte er zurück und schüttete seine Handvoll in meinen Korb. „Gib her, ich zahl’“.
Zu Hause wetterte Julie über ihn: „Der hatte bestimmt keine Lust, sich abzuschuften, bei der Hitze im Feld.“
„Vielleicht“, sagte ich kleinlaut und hätte ihn gern in Schutz genommen. Aber mir fiel nichts ein. Ich verstand es einfach nicht. War es nicht seine Idee mit der Torte gewesen?
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Wir haben uns erst nach zwei langen Tagen wieder gesehen, als wir uns zufällig über den Weg liefen. Na ja, vielleicht nicht so zufällig, schließlich war es die Sackgasse mit den Inline-Skates. Als ich ihn ansah, spürte ich so eine enorme Sehnsucht, als wenn es mich zerreißen würde.
„Weißt du, was im Feld mit uns passiert ist?“, fragte ich betreten, und er küsste mich als Antwort. „Ich habe dich so vermisst!“
Wir sind dann Händchen-haltend durch die Straßen geschlendert, unterhalb des alten Denkmals, und dann durch das Gedränge auf dem Kirmesplatz. Er kaufte mir Zuckerwatte, und ich schoss ihm ein Schaf mit wolligen Beinen. Seit ich weiß, dass man auf die Köpfe der vorbeiziehenden Tiere zielen muss, um ihre Hintern zu treffen, schieße ich nämlich ganz gut.
An einem Stand schauten wir uns gemeinsam T-Shirts an. „Schau mal!“, erinnerte ich ihn an den Fernsehabend bei mir, „weißt du noch, Gilmore Girls?“ Er nickte und grinste, dachte bestimmt auch an das Kuscheln danach in meinem Zimmer. „Da traten doch die zwei Poe-Darsteller auf und haben den Raben rezitiert. Beide dasselbe Gedicht, und beide verärgert übereinander.“
„Die sind doch aufeinander losgegangen“, stimmte Anders mir zu.
„Und in der Folge hat Kirk T-Shirts gemacht mit dem Spruch: Faux Poes Foes. Geiler Spruch!“
Ich zeigte auf einen Stapel Hemden, alle mit derselben Aufschrift. „Es hat tatsächlich jemand nachgemacht, genial.“ Ich kicherte. Iihhh, pink. Ich kramte weiter in den Shirts und nahm eins heraus. „Orange. Krass! Mit allem zwischen rosa und lila kannste mich nämlich jagen, aber das hier ...“
***
Warum fühle ich mich neben meiner Schwester nur immer so mies? Ich sollte mich doch klasse fühlen, schließlich feiern wir in meinen Geburtstag rein. Ich wuschele meine Haare zurecht und lächle in den Spiegel. „Komm schon. Lass uns gehen!“
Es ist ein warmer Abend, und wir sitzen im Garten der Kneipe. Gleich ist es soweit, ich gebe eine Runde aus, und alle prosten mir zu. Julie und Basti, ja sogar Laura stimmt ein „Happy Birthday“ an, und meine Schwester drückt mich, als wolle sie mich nie mehr loslassen.
Anders nimmt mich etwas verschüchtert zur Seite, küsst mich und reicht mir dann ein Päckchen. Ich öffne es, und heraus kommt ein T-Shirt mit Faux Poes Foes - in strahlendem pink. Verwirrt sehe ich ihn an; er grinst fröhlich.
Was hat er sich dabei gedacht? Ich schlucke. Hat er mir gar nicht zugehört, als ich über Farben sprach? Hört er mir je zu? Oder will er mich absichtlich ärgern?
Ich sehe ihn an; sein Grinsen wirkt nicht boshaft, eher ein wenig verkrampft. Etwas würgt in mir. Warum nur? Warum?
„Entschuldigt, mir ist schlecht!“, bringe ich noch hervor, presse mir die Hand vor den Mund und renne los in Richtung Toiletten.
Ich höre schon die Stimme meiner Schwester in mir, wie sie sagen wird: „So ein Idiot!“
Als ich wieder zurückkomme, wartet er vor der Tür. „Etwas stimmt nicht, ne?“, fragt er unsicher.
„Ich weiß nicht, ob es Zweck hat mit uns“, sage ich traurig.
„Warum das denn? Ich dachte, es wäre was Ernstes mit uns.“
Worte, die ich mir herbeigesehnt habe. Er steht da, und ich möchte mich nur in seine Arme kuscheln, möchte ihn spüren, möchte, dass alles wieder gut ist. Soll ich einfach so tun, als ob nichts wäre? Tun, als wenn ich mich freue?
Etwas bohrt in mir. Nein, das kann ich nicht. Das will ich nicht. Ich will verstehen.
„Warum ... warum hast du mir das Hemd geschenkt?“
Du hast es dir doch gewünscht!“
„In orange!“, zische ich. „Wie ich dir gesagt habe: Ich hasse pink.“ Fast ein Schrei.
„Oh“. Er zögert kurz, dann: „Ich dachte, es wäre ...“ Er wird knallrot, wendet sich ab.
„ ... orange?“ Und plötzlich verstehe ich: die Erdbeeren, die er nicht erkennen konnte, das Hemd ... „Du bist farbenblind?“
Er nickt.
„Es tut mir Leid“, stammele ich, „Leid, dass ich an uns gezweifelt habe.“ Ich sehe ihm in die Augen, und plötzlich scheint alles so leicht. „Wir können doch über alles reden.“ Im Hintergrund höre ich Julie nörgeln, versuche, mich davon nicht ablenken zu lassen. „Wir sind doch anders.“