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- 31.10.2003
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Angriff der Riesenmücken
Der feine Niederschlag hüllte die Straßen und Häuser der Stadt in tristes Grau. Am Horizont leuchtete die dunkle Wolkenfront einen Moment lang auf, das Grollen folgte kurz danach. Der Regen wurde heftiger, bildete Schleier, die vom Wind über die Straße gefegt wurden. Dann wieder Niesel.
Der Wind flachte für einen kurzen Moment ab, schien sich zu ducken unter dem drohenden Herannahen der schwarzen Macht am Firmament. Dann brach er hervor ohne Warnung, peitschte das Wasser um die Häuserecken.
Ian Catrall blickte durch das schmierige Glas seines Fensters an den dicken Eisenstäben vorbei. Regen, endlich Regen! Er hauchte gegen die Scheibe, malte ein Herz mit dem Zeigefinger. Dann wischte er es fort.
Er sah die gegenüberliegenden, in strenger Reihe angeordneten Einfamilienhäuser durch den Schleier der stobenden Tropfen. Gab es überhaupt noch Familien?
Vereinzelte Stahltüren öffneten sich, Menschen lugten hervor. Viele blickten ängstlich zum Himmel.
Ian lächelte. Es gab tatsächlich immer noch welche, die sich noch nicht daran gewöhnt hatten; die sich wohl auch niemals daran gewöhnen würden. Hoffnungslos. Als Futter vorprogrammiert.
Er sah einen weißhaarigen Mann auf der gegenüberliegenden Straßenseite, die dürren Arme in die Luft gestreckt, den Mund weit geöffnet. Seine Zunge genoss die kühlen Tropfen.
Ian erkannte den bebenden Brustkorb des Alten; wahrscheinlich schrie er irgendetwas. Sein dünnes Shirt war im Nu durchweicht und die Rippenknochen wurden sichtbar. Doch das schien ihn nicht weiter zu stören, er begann sogar mit seinen nackten Füßen in den Pfützen, die sich mittlerweile überall gebildet hatten, zu tanzen.
Weitere Personen kamen aus den Häusern, taten es ihm gleich. Viele lachten, alle waren bewaffnet.
Ian wandte den Blick ab. Seit Conns Verschwinden war ihm nicht mehr zum Lachen zumute. Er ging durch das kleine Zimmer der Wohnung seiner Eltern. Vaters Tod vor – waren es zwei oder drei Monate? – hatte ihn zum Einsiedler gemacht. Mutter war bereits vor über einem Jahr gestorben.
Conn hatte er vor etwa einem Monat kennengelernt.
Das Quietschen der Bodendielen nahm Ian nicht mehr wahr, ebenso wenig das breite Bett – ihre Spielwiese, wie Conn immer lachend bemerkt hatte.
Ian würde auch hinausgehen. Der Regen musste ausgenutzt werden, denn danach war es umso schlimmer. Er vermisste Conn.
Strähnen hatten sich auf sein Gesicht gelegt, als Ian wenig später mit eingezogenem Kopf über die Straße ging. Tropfen fielen von den Haarspitzen hinab auf seine Jacke. Alles war durchnässt. Der Wind hatte an Intensität zugenommen, peitschte die Kälte durch den Stoff.
Ein reges Treiben herrschte in der Stadt. Kinder spielten in Pfützen, Männer trugen Kisten mit Vorräten, bewaffnete Frauen waren überall postiert und blickten in den Himmel, der immer noch aus einer ununterbrochenen, grauen Schicht bestand.
Ian zog einen kleinen Handkarren hinter sich her. Ein Mann mit einem Karton überholte ihn. „Hallo, Ian“, rief er und rannte weiter.
„Hallo“, sagte Ian, ohne zu wissen, wer ihn da gerade begrüßt hatte. Mit seinen fünfundzwanzig Jahren war er der jüngste Mann im Ort. Und als der alte Mr. Carpenter beim letzten Angriff ums Leben gekommen war, ging hier alles drunter und drüber. Es war auch der Angriff, als Conn …
Seine Augen begannen zu brennen. Viele hatten ihr Leben gelassen. Sechsundachtzig hatte er den Reverent kurz danach sagen gehört. Es hatte ihn nicht interessiert, nichts hatte ihn danach noch interessiert. Conn.
* * *
„Ian!“
Der Ruf ließ ihn lächeln, bevor er die Augen aufschlug. Die mühsamen Nachwirkungen des Schlafs, die ihn sonst immer wie in Trance aus dem Bett klettern ließen, waren sofort verschwunden. Noch einmal hörte er Conns Stimme aus dem Garten.
Ian schwang sich aus dem Bett. Conns Geruch lag noch auf jeder verschwitzten Pore seines nackten Körpers. Er sprang in seinen Slip und lief zur Terrassentür.
Für einen Moment musste er seine Augen zusammenkneifen, der frühe Morgen war zu hell. Dann tauchte Conn in sein Blickfeld. Er hockte auf dem Rasen, seine blonden Haare waren noch zerzaust, und er war nackt. Er lächelte sein Lächeln, bei welchem Ian jedes Mal am liebsten sein Glück in den Himmel geschrieen hätte. Doch er tat es nicht, sah ihn einfach nur an, und das heiße Brennen, das seinen Magen augenblicklich erfüllte, ließ seine Mundwinkel zucken.
Conn streckte seine Flügel aus, die frühe Sonne ließ die filigranen Adern darauf bunt glänzen. Conn war ein Halbengel, ein Abfallprodukt der Engelmacher.
„Das machst du mit Absicht“, rief Ian zu ihm hinüber.
Conn legte gespielt den Kopf zur Seite. „Was meinst du?“
„Du weißt genau, was ich meine.“
„Klär mich auf.“ Conn klappte die Flügel ein und stand auf.
Ian schloss für einen kurzen Moment die Augen, genoss den frühen Morgen, den er tief in sich hineinatmete. Als er sie wieder öffnete, stand Conn vor ihm, und für einen winzigen Augenblick zuckte Ian zusammen. Er hatte sich noch immer nicht an die Schnelligkeit seines Freundes gewöhnt. Dann lächelte er wieder.
„Was meintest du?“, flüsterte der Halbengel.
Ian stellte wieder einmal fest, dass Conn wie immer gut roch. Noch nie hatte er auch nur den Ansatz von Mundgeruch bei ihm wahrgenommen. Beschämt blickte er zur Seite; er konnte sich lebhaft vorstellen, wie die Armee der Bakterien zwischen seinen Zähnen wütete, und das wollte er wahrhaftig seinem Gegenüber nicht zumuten.
„Warte hier“, sagte er schnell und sprang zurück.
Der muskulöse Körper Conns glänzte.
„Ich mach mich kurz frisch.“
„Hey. Du hast mir nicht gesagt, was ich mit Absicht mache.“
Ian stürmte ins Haus. „Deine Flügel“, rief er, kurz bevor er über die Schwelle rannte. „Du breitest sie mit Absicht aus, weil du weißt, dass es mich anmacht.“
Conn blickte seinem Freund hinterher. Er konnte Ian nicht verstehen; für die anderen waren die Halbengel Abschaum. Sie zogen ihre Kinder beiseite, wenn Conn über die Straße ging. Niemand sprach ihn an. Es war beinahe so, als habe er die Pest. Oder schlimmer noch, als sei er eins von diesen Biestern. Dabei hatten sie ihn gemacht, damit er genau gegen diese kämpfte.
Er blickte an sich hinab, sah die Muskeln, die sich unter seiner braungebrannten Haut abzeichneten. Er sah seinen Schwanz, die krausen Haare, die ihn zierten. Er war genau wie sie. Aber eben nicht ganz genauso. Und trotzdem liebte Ian ihn. Oder lag es gerade an der Tatsache, dass er anders war?
Er stellte sein Lächeln ein, blickte in den Himmel. Blitzschnell klappten die Flügel hervor, dann war Conn hinter dem Haus verschwunden.
* * *
„Mister Catrall! Mister Catrall!“
Ian blickte von seinem Handkarren auf. Der Wind peitschte die Tropfen gegen sein Gesicht, und er hatte Mühe, etwas zu erkennen. Er kniff die Augen zusammen, schirmte sie mit der Hand ab. Dann sah er das Mädchen auf der anderen Straßenseite.
Winkend kam sie auf ihn zugelaufen, versuchte dabei den großen Pfützen auszuweichen. Meist gelang es ihr nicht. Die durchweichte Kleidung hatte sich wie eine zweite Haut um ihren ausgemergelten Körper geschlungen.
Ian wischte sich durchs Gesicht. Der Regen war heftiger geworden, ebenso wie das Treiben auf der Straße. Jeder schleppte irgendwelche Kisten oder zog sie an Handkarren hinter sich her.
Der alte Malcolm Hansen fuhr mit seinem Traktor und dem Anhänger mit dem riesigen Trinkwasserbehälter an ihm vorbei. „Brauchst du was, Ian?“
„Danke, Mister Hansen“, brüllte Ian durch das Dröhnen des Dieselmotors. „Aber ich hab noch über fünfhundert Liter.“
Hansen machte den Motor aus. „Bedank dich bei deinem Dad, der Herr hab ihn selig, dass er das Ding in euren Garten gebaut hat.“
„Das tu ich, Mister Hansen.“
„Anfangs haben wir noch über ihn gelacht. Scheiße, Ian, er war ein guter Mann.“ Der Diesel sprang wieder an, dröhnte, als Hansen das Gaspedal trat.
„Ich weiß“, murmelte Ian.
„Machs gut, Junge.“
Der schwere Traktor walzte über den Asphalt, hinüber auf die andere Straßenseite, wo eine Frau mit ihrer Schrotflinte winkte.
Jetzt sah Ian auch wieder das gestikulierende Mädchen. „Mister Catrall!“, rief sie noch einmal.
Ian fand es immer seltsam, wenn ihn jemand Mister Catrall nannte. Irgendwie kam er sich dann alt vor.
„Mister Catrall.“ Sie keuchte als sie vor ihm stehen blieb, hustete mehrmals. Ihr nasses Haar hing wirr in ihrem Gesicht, an der Seite hing das, was wohl einmal geflochtene Zöpfe gewesen waren.
Ian legte die Plastikfolie über den Wagen, ging in die Hocke und sah sie an. Ihr Gesicht war weiß, viel zu weiß, wie er fand. Jetzt erkannte er auch die schusssichere Weste, die das Mädchen trug und den schweren Gurt mit dem Revolver im Halfter. Er stieß hörbar die Luft aus.
„Wer bist du?“
Sie sah ihn an, und Ian blickte in blutunterlaufene Augen.
Die Kleine bemerkte seinen entsetzten Blick. „Ich habe die letzten Nächte nicht geschlafen. Wir haben keine Gitter vor den Fenstern, wissen Sie? Und da muss ich aufpassen. Ma ist sehr krank.“
Ein schwerer Knall ließ beide zusammenzucken. Ian sah sich um, konnte aber nichts Außergewöhnliches entdecken. Es hatte sich angehört wie die Fehlzündung eines Autos, doch weit und breit war keines zu sehen. Die meisten waren eh nicht mehr fahrtüchtig; Kraftstoff war rar. Die Lebensmittellaster aus Elko, die in unregelmäßigen Abständen die Halle außerhalb der Stadt füllten, hatten noch welchen. Und der alte Mister Hansen mit seinem Traktor.
Am Horizont platzten die ersten Sonnenstrahlen an einigen Stellen durch die Wolkendecke. Ein Regenbogen entstand.
Bald würde der Regen aufhören, und dann würden sie wieder kommen. Er sollte sich beeilen.
„Wer bist du, Mädchen? Und was willst du?“
Das Mädchen folgte seinem Blick. „Wie lange wird es noch dauern?“
„Nicht mehr lange. Also sag mir, um Gottes Willen, was du willst.“
„Wir brauchen Ihre Hilfe, Mister Catrall.“
Ian wurde hektisch. Noch einmal zerrte der Wind an seiner Jacke, doch dann spürte er, wie dieser langsam abflachte.
„Ma braucht Ihre Hilfe. Sie ist sehr krank.“
Ian fragte sich, wie alt die Kleine wohl war. Es gab nur noch wenige Kinder in der Stadt. Die Kinder fielen ihnen immer am schnellsten zum Opfer. Vielleicht sieben oder acht?
„Mister Catrall?“
Er blickte in die roten Augen.
„Werden Sie meiner Ma helfen?“
„Mädchen, wie soll ich deiner Ma helfen? Was hat sie denn?“ Er sah den Regen, der ihr Gesicht hinunter lief. Oder waren es Tränen?
„Sie hustet so schrecklich. Manchmal kommt Blut raus.“ Die kleinen Hände begannen zu zittern.
„Und was soll ich da tun, Mädchen?“
„Mein Name ist Rose, Mister Catrall. Rose Miller. Wir wohnen ganz am Ende der Straße. Das letzte Haus, wissen Sie?“
Ian kannte die Millers. Zumindest vom Reden her. Sein Dad hatte immer gesagt, dass Misses Miller eine Säuferin sei. Und Mister Miller prügele seine Familie. Und die Kinder seien verwahrlost.
„Was ist denn mit deinem Dad?“
„Der ist doch schon lange tot, Mister Catrall.“
„Das tut mir Leid, Rose.“
„Ihr Vater hat noch versucht, ihn zu retten. Aber das Gift hatte schon seinen ganzen Bauch in Brei verwandelt. Ich hab das gesehen.“
Ian schluckte. „Ich kann deiner Ma nicht helfen.“
„Aber Ihr Vater hat doch auch geholfen.“
„Mein Vater war Arzt. Ich bin es nicht. Warum gehst du nicht zu Mister Jenkins? Er ist jetzt der Doc.“
Die Kleine begann nervös mit den Füßen zu patschen. Ihre Finger klemmte sie hinter den Patronengurt. „Das weiß ich, doch Doc Jenkins ist seit dem letzten Angriff nicht mehr da.“
Ian stand auf. Ja, der letzte Angriff. „Ich bin kein Arzt, Kleine.“ Er nahm die Plane von seinem Karren, holte zwei kleine Kisten heraus und klemmte sie sich unter die Arme. „Es tut mir Leid.“
Noch einmal blickte er auf das Mädchen, das ihn mit leicht geöffnetem Mund anschaute.
„Der Regen wird gleich aufhören. Bis dahin solltest du zu Hause sein.“ Dann ging er hinein. Es gab noch viel zu tun.
* * *
„Du riechst so gut.“
„Danke. Scheint ein angenehmer Nebeneffekt der Genmanipulation zu sein.“
Ian presste seine Wange fester an Conns Brust. Eine ganze Weile lagen sie nur so da, und für Ian war in diesem Moment alles so wie früher. Wie früher, als er noch klein war, genauso wie die Mücken.
„Gibt es eigentlich noch mehr von euch?“ Er hob seinen Kopf.
Conn hatte die Augen geschlossen, und Ian befürchtete, dass er eingeschlafen sei. Er bewunderte seine makellosen Gesichtszüge. Wie war es möglich, dass ein Mensch so perfekt aussah? Und wie konnte dieser Mensch ihn lieben? Mensch ... War Conn überhaupt ein Mensch?
Ian grinste, doch es sah gezwungen aus. Klar war er ein Mensch. Halbengel waren aus Menschen gemacht. Oder?
„Natürlich.“
Ian erschrak. Conn hatte gesprochen ohne dabei den Mund zu öffnen. Oder hatte er es nur übersehen?
„Kannst du meine Gedanken lesen?“
Jetzt öffnete Conn doch die Augen, legte die Stirn in Falten. Dann lachte er laut. „Wie kommst du denn darauf?“
„Na deine Antwort gerade. Ich hatte darüber nachgedacht, ob Halbengel Menschen sind, und dann hast du ´natürlich´ gesagt.“
Wieder lachte Conn. Ian war verwirrt, doch es klang gut.
Der Halbengel richtete sich auf. „Du hattest gefragt, ob es noch mehr von uns gibt.“
„Oh. Ja, stimmt.“
„Und zu welchem Ergebnis bist du bei deiner gedanklichen Analyse gekommen? Sind wir Menschen?“
„Seid ihr?“
„Nun, wir sehen doch zumindest wie welche aus. Na ja, bis auf …“ Conn deutete mit dem Daumen auf seinen Rücken. Ian sah die oberen Ansätze der eingeklappten Flügel. Hier im abgedunkelten Schlafzimmer wirkten sie schorfig. Ian strich sanft mit dem Finger darüber. Sie fühlten sich weich an, obwohl er wusste, dass unter der hautähnlichen Schicht ein harter Knochen lag.
„Fühlst du das eigentlich?“
„Das fragst du mich jedes Mal. Fühlst du es, wenn ich deinen Schwanz streichle?“
Ian lächelte. „Ich habe noch keinen anderen Halbengel gesehen.“
Conns Miene wurde ernst. „Sie haben Tausende von uns gezüchtet. Zunächst schien es ja auch erfolgversprechend zu sein. Zumindest hatten wir das erste Mal seit Monaten überhaupt den Hauch einer Chance.“
„Dauert es lange?“
„Was meinst du?“
Ian druckste herum. „Na, bis ihr fertig seid.“
„Zwei Monate etwa. Am Längsten dauern die Flügel. Und dann müssen wir ja noch lernen, damit umzugehen.“
„Eigentlich gibt es viel zu wenige von euch.“
Conn stand auf und ging zum Fenster. Die Flügel lagen eng an den Körper gepresst. Ian legte sich auf den Bauch, beobachtete seinen Freund. Er nahm das Kissen, knuddelte es zusammen und legte seinen Kopf darauf. Es roch nach Conn, und Ian atmete tief ein.
„Wir waren nur die Vorstufe. Halbengel eben. Sie haben immer weiter geforscht. Sie haben immer bessere Züchtungen hervorgebracht. Bis die wahren Engel fertig waren. Die wahren Engel werden die Menschheit vor ihrem Untergang bewahren. Sie sind schneller, sehr viel schneller.“
Ian hatte auch noch nie einen wahren Engel gesehen. Er hatte es immer für ein Gerücht gehalten. Ein Gerücht, das von irgendwelchen noch lebenden hohen Tieren in die Welt gesetzt worden war. Ein Gerücht, das die letzten noch lebenden Menschen irgendwo auf der Welt beruhigen sollte. Oder was auch immer.
Doch dann war Conn in sein Leben getreten.
„Und sie sind unverwundbar. Sagt man zumindest.“
„Hast du Lust zu ficken?“
Conn drehte sich um, und ein warmes Lächeln entstand um seinen Mundwinkel. Dann klappte er die Flügel aus.
Ein lautes Klopfen an der Haustür ließ Ian aufblicken. Sein Oberkörper ruhte auf den Flügeln Conns, er genoss seine sanften Atemzüge.
Der Halbengel schlief.
Ian erhob sich, wünschte für einen Augenblick, er könne fliegen. Sanft würde er sich erheben, schwebend vom Bett gleiten. Er wollte Conn nicht aufwecken. Immer wenn Conn wach war, wirkte er rastlos. Ian hatte das Gefühl, er müsse Conn hinterherlaufen, ihn in seine Nähe bannen, damit er nicht auf einmal verschwunden war.
Vorsichtig berührte er die Haut mit seinen Lippen. Er liebte die Flügel, sie machten Conn so unendlich außergewöhnlich. Wenn Ian irgendwann einmal die Möglichkeit erhalten würde, er würde sich ebenfalls ´verwandeln´ lassen. Und dann würden er und Conn fliegen. Weit weg, nur sie beide.
Erneut klopfte es. Lauter.
„Ja“, flüsterte Ian, entstieg vorsichtig dem Bett. Es quietschte.
Die Gitterstäbe vor dem Fenster unterteilten das Zimmer in längliche Sonnenparzellen. Ein Schattenstab hatte sich über das Bett gelegt, schien Conn in zwei Hälften zu zerschneiden. Sein Rücken hob und senkte sich sanft.
Ian wollte verweilen, den Moment genießen, doch draußen stand jemand vor der Tür; ein Eindringling, ein Zerstörer dieses friedvollen Augenblicks. Ian hasste ihn.
Er griff nach seiner Jeans, zwängte sich hinein. Er musste ein wenig seinen Bauch einziehen, damit er den Knopf schließen konnte.
Scheiße, ich werde dick, und das trotz des guten Sex.
Conn murmelte etwas, streckte einen Flügel zur Seite.
Ian rannte zur Tür, als das Klopfen wieder einsetzte und diesmal nicht enden wollte.
„Ich komme!“, brüllte er und hoffte gleichzeitig für den Störer, dass es wichtig war.
„Ian, Junge, ich dachte, du wärst nicht da.“
„Mr. Carpenter.“ Ian wich zur Seite, als sich der Mann mit den beiden Krücken an ihm vorbei in die Wohnung drängte.
Vor dem Haus erkannte Ian Carpenters Wagen. Hinter dem Steuer hockte Jesse Pork. Er winkte.
Ian verzog die Mundwinkel, ließ die Tür ins Schloss fallen, ohne den alten Mann weiter zu beachten. Er hasste Jesse Pork, alle im Ort hassten Jesse Pork.
Er soll diese Viecher gezüchtet haben, sagt man. Hat sie auf seiner Farm anstelle von Kühen gehalten. Er soll sogar dafür gesorgt haben, dass sie regelmäßig Futter bekommen haben.
Aber was soll´s? Ändern ließ sich jetzt nichts mehr. Vielleicht hatten Leute wie Jesse Pork ja indirekt dafür gesorgt, dass es überhaupt Halbengel gab. Dafür, dass es Conn gab.
Mr. Carpenter war inzwischen in die Küche gehumpelt und hatte sich an dem großen Esstisch niedergelassen. Seine Krücken lagen auf dem Holz.
Ian sah, wie er sich mit den großen Händen durch das graue, schulterlange Haar fuhr. Ja, Mr. Carpenter hatte viel zu große Hände, fand er. Und irgendwie schien dieser alte Mann in den Siebzigern stehen geblieben zu sein. Das lange, schon fast ungepflegt wirkende Haar, das wallende Hawaihemd. Das alles passte doch nicht zu einem Mann, der in einer normalen Welt mit Sicherheit schon sein wohlverdientes Rentenalter genießen würde.
„Hast du einen Kaffee, Junge?“ Carpenter blickte in seine Handflächen.
„Ich kann einen aufsetzen.“
„Ja, das wäre gut.“
Während Ian auf die tiefschwarzen Tropfen blickte, die glucksend aus dem Filter liefen, versuchte er in Richtung Schlafzimmer zu lauschen. Er wollte zu Conn, sich an diesen warmen Körper schmiegen.
Langsam drehte er sich um.
Noch immer war der Blick von Mr. Carpenter gesenkt. Ian konnte nicht von sich behaupten, dass ihm dieser Mensch sympathischer war als der alte Jesse Pork. Schließlich waren die beiden Freunde. Und auch, wenn Mr. Carpenter den Vorsitz über den Ort übernommen hatte, so war es Ian doch zuwider, ihm hier gegenüberzustehen.
Damals, als seine Eltern noch lebten, war Carpenter des Öfteren hier gewesen. Ihn und Dad schien eine undefinierbare Freundschaft verbunden zu haben, die Ian nicht nachvollziehen konnte. Und Mutter damals wohl auch nicht.
Ian blickte über den alten Körper hinweg auf das Fenster. Es war viel zu hell. Silhouettenhaft konnte er die Gitterstäbe ausmachen, doch alles drumherum war in gleißendes Licht gehüllt. Ian kniff die Augen zusammen, sah tanzende Lichtreflexe, die vor seinen Lidern zuckten.
„Junge, wir werden C. Falls verlassen.“
Ian zuckte zusammen. Er wusste nicht, was ihn mehr erschreckt hatte, dass Mr. Carpenter die drückende Stille so plötzlich unterbrochen hatte, oder die Tatsache, dass er den Ort verlassen wollte.
„Hast du gehört, was ich gesagt habe, Ian?“ Jetzt blickte Carpenter auf, und seine Augen wirkten müde.
„Ja, habe ich. Was soll das heißen?“
„Das heißt, dass Jesse und ich für heute Abend eine Versammlung einberufen werden. Die meisten wissen schon Bescheid. Curnie Falls ist nicht mehr zu halten.“
Die Kaffeemaschine röchelte.
„C. Falls ist nicht mehr zu halten? Was meinen Sie damit, Mr. Carpenter?“
„Jesse und ich waren heute unten am Snow-Water-Lake.“
Ian legte den Kopf schief. „Und?“, fragte er vorsichtig, als Mr. Carpenter wieder nach unten blickte und keine Anstalten unternahm, weiter zu reden.
„Heute früh waren wir da.“ Er blickte wieder auf. Für einen Moment schien es, als befände er sich in einer Art Trancezustand. Seine Augen wirkten glasig, sahen durch Ian hindurch. Dann schüttelte der Alte seinen grauen Hippieschopf. „Was macht der Kaffee, Junge?“
Ian rieb seine Arme. Es fröstelte ihn. Er blickte zur Tür, hoffte Conn dort zu sehen, doch der Türrahmen war leer.
„Was macht der Kaffee, Junge?“, wiederholte Carpenter.
Ian drehte sich um, öffnete den Schrank vor seinem Gesicht und holte zwei Tassen hervor. Er mochte Carpenter nicht; er mochte ihn wahrhaftig nicht.
Draußen heulte ein Hund. Langgezogen klang es, wie das weit entfernte Auf und Ab einer Sirene. Sollte es tatsächlich noch freilaufende Hunde geben?
Ian goss die dunkle Flüssigkeit in die Becher, dann ging er hinüber zum Tisch und stellte eine der Tassen zwischen die Krücken.
„Danke, Junge. Wie sagt man so schön? Heißer Kaffee am Morgen ersetzt jeden guten Fick.“
„Was ist mit dem See, Mr. Carpenter?“
Der Alte schlurfte. „Ah, das tut gut.“
„Das sagten Sie bereits.“ Wieder fröstelte es Ian. „Was ist mit dem See?“
Carpenter sah ihn an, und diesmal waren die Augen klar. „Larven, Junge. Der See ist voll von Larven.“
Ian schluckte, presste die Hände fester um die heiße Tasse. Er wollte zurück zu Conn, wollte sich in seine starken Arme schmiegen, wollte sich von ihm beschützen lassen. Jetzt!
„Wenn sie ausgewachsen sind … Nun, Junge, ich brauche dir nicht zu erzählen, was passieren wird. Bis jetzt haben wir viele von diesen Viechern hier. Und sie kommen nur in der Dämmerung. Okay“, wieder blickte er in seine Tasse, „manchmal verirren sich ein paar von ihnen auch tagsüber hierher. Vereinzelte. Aber in ein paar Tagen ist die Entwicklung dieser Brut im See vollendet. Und dann werden es keine vereinzelten mehr sein, die sich tagsüber hierher verirren. Niemand wird diesen letzten Angriff überleben, Junge. Niemand!“
Ian spürte das Zittern in seinem Körper. Es entstand in seinem Rücken, raste durch die Knochen in jeden Winkel.
„Es werden Millionen sein, Junge. Millionen. Der See ist voll.“
* * *
Der Regen hatte aufgehört.
Vereinzelte Sonnenstrahlen stachen durch die immer noch dichte Wolkendecke. Glänzende Pfützen lagen wie zertretene Quallen auf dem Asphalt, labten sich an der schwülen Luft. Spätestens wenn die Sonne durchbrach, würden sie ihrem vorbestimmten Schicksal des gasförmigen Aggregatzustands entgegenschweben, würden die Luft schwängern mit ihrer Feuchtigkeit. Würden sie anlocken, millionenfach.
Ian ließ die Haustür ins Schloss fallen, schob die beiden dicken Metallriegel in ihre Verankerung.
Er zog seine durchnässte Jacke aus, ließ sie auf den Boden fallen. Die Arme taten ihm weh, auch die Schultern. Irgendwie war Ian ein Jammerlappen, ja, und irgendwie war er auch ein wenig stolz darauf.
Aber Jammern war tabu. Wer jammert, verliert. Und Verlierer werden Opfer. Futter, nur noch leere, verschrumpelte Hüllen. Ein Stich genügte.
Diese Viecher saugten Verlierer aus, ließen nur diese leeren Hüllen zurück. Hüllen menschlichen Abschaums. Sie lagen verkümmert in all ihrer Jämmerlichkeit, und man konnte zusehen, wie das restliche Gift sie zersetzte. Jammerlappen lösten sich auf. Wie die Pfützen in der Sonne.
Ian ging in die Küche, stieg über die Kartons, die er vor wenigen Minuten hier abgestellt hatte. Er würde die Lebensmittel gleich in den Kühlschrank packen. Vermutlich auch nicht.
Er nahm den Barhocker, der neben dem Schrank stand, schob ihn unter das Fenster und setzte sich. Die Straßen waren leer, die Türen verschlossen. Auch die meisten Schießscharten.
Ian dachte an das kleine Mädchen. Wie war noch mal ihr Name? Er wusste es nicht mehr, es interessierte ihn auch nicht. Futter. Kinder und Jammerlappen waren Futter. Vielleicht würde sie den nächsten Angriff noch überleben. Vielleicht. Schließlich hatte sie es bisher ja auch geschafft.
Warum schickten sie eigentlich keine Engel?
Wie oft hatte er sich diese Frage gestellt, und wenn er nicht Conn kennen gelernt hätte, so hätte er jeden ausgelacht, der ihm von dieser fliegenden Wunderwaffe in Menschengestalt erzählt hätte.
Aber warum hatte er noch keinen von ihnen gesehen? Klar, ein unbedeutender Ort wie Curnie Falls war es nicht wert, dass man in ihn investierte. Schließlich konnten die Engel nicht überall sein. Zuerst große Städte, wie Elly, Currie, Spring Creek vielleicht auch noch. Da waren die wichtigen Menschen. Politiker. Menschen mit Geld. Mit Macht. Aber hier?
Ein stetes Dröhnen ließ ihn aufhorchen. Es hätte auch seiner Einbildung entstammen können, doch Ian wusste, dass dem nicht so war.
Sie kamen.
* * *
Zum ersten Mal hatte Ian Catrall Angst. Nicht nur dieses komische Gefühl, das man hatte, wenn man etwas Unbekanntem gegenüberstand. Nicht dieses lächerliche Gefühl, verbunden mit leicht erhöhtem Herzschlag, winzigen Schweißperlen auf der Stirn und in den Achselhöhlen.
Diesmal war es echte Angst. Diese Angst, die sich wie ein waberndes Metallband um den Hals legte, den Kehlkopf zu zerdrücken schien.
Ian versuchte zu schlucken. Seine Kehle war verdörrt, wie die trockenen Sträucher vor dem Haus.
Mr. Carpenter stellte die Tasse auf den Tisch und nahm seine Krücken.
„Ich möchte, dass du auch kommst, Junge. Wir treffen uns um drei. Heute Nacht. In der ehemaligen Turnhalle.“ Er stand auf.
„Aber … Mr. Carpenter … wie sollen wir denn von hier weg? Und … wohin?“
„Das werde ich heute Nacht mit euch besprechen. Sag allen, die du bis dahin noch siehst Bescheid. Drei Uhr in der alten Schule.“
Er ging zur Tür, während Ian das Gefühl hatte, sein Arsch sei an dem Holz hinter seinem Rücken festgeklebt. Er wollte noch etwas sagen, doch da war dieses Metallband um seinen Hals.
„Ach, und noch etwas, Ian.“ Mr. Carpenter war stehen geblieben, drehte sich jedoch nicht um. Sein leicht gebeugter Rücken hob sich schwer. „Ich habe deinen Vater sehr geschätzt, Ian. Und deshalb schätze ich auch dich. Ich möchte, dass du uns begleitest. Aber nur du.“
Ian spürte, wie die Kaffeetasse in seiner Hand drohte, ihm aus den Fingern zu rutschen. Was hatte der Alte da gesagt?
„Du weißt schon, was ich meine. Richtig, Junge?“ Jetzt drehte er sich um und blickte Ian direkt in die Augen. „Bestimmte Dinge gehören nicht in diese Welt, Junge. Bestimmte Dinge gehören nicht hierher.“
„Was … was meinen Sie?“
„Mücken, Junge. Riesenmücken gehören nicht hierher. Sie sind nicht von Gott gewollt. Sie sind nicht sein Werk. Genauso wenig wie Menschen mit Flügeln.“
Mr. Carpenter öffnete die Haustür, humpelte über die Schwelle. „Komm allein, Junge!“ Dann ließ er sie ins Schloss fallen.
Ian stand da, fassungslos, starrte auf die schwere Metalltür, durch die der alte Mann gerade verschwunden war. Dumpf vernahm er das Starten eines Motors. Die Tasse in seiner Hand zitterte.
„Ich hoffe, du nimmst dir das nicht zu Herzen.“
Ian fuhr herum und sah Conn im Türrahmen stehen.
„Du hast alles gehört?“
„Hm… Genug.“
„Es tut mir Leid.“ Ian senkte den Kopf, blickte wieder auf die vibrierende Oberfläche des Kaffees.
Kurz darauf spürte er, wie Conn eine Hand auf seine Schulter legte. Augenblicklich umgab dieses beschützende Gefühl der Wärme seinen Körper. Ian wollte sich fallen lassen. Ein Kloß breitete sich in seinem Hals aus; diesmal war es keine Angst.
„Soll ich ihm hinterher fliegen und auf sein Auto scheißen?“
Ian lachte. Sein Blick war verschleiert. „Danke.“
„Wofür?“
Ian strich mit dem Finger über Conns Lippen. „Dafür, dass es dich gibt.“
„Oh, mein Gott, Ian. Gleich brauchen wir keine Gleitcreme mehr. Dieses Geschleime ist ja fast unerträglich.“
„Ich wollte doch auch mal romantisch sein.“ Ian wischte über seine Augen.
„Lass uns eine Runde fliegen.“ Conn nahm seinen Arm weg.
„Fliegen?“
„Ja, fliegen. Ich trage dich. Wir genießen die letzten Stunden.“
„Ich … ich würde ganz gern noch duschen.“
„Na dann los!“ Conn schlug ihm auf die nackte Schulter. Es klatschte laut, und Ian konnte förmlich den entstehenden, roten Fleck spüren. Doch es störte ihn nicht. Selbst wenn Conn ihm den Schädel abschlagen würde, würde es ihn nicht stören.
„Beeil dich“, sagte der Halbengel und küsste ihn. „Ich warte draußen. Werde mich ein wenig warm machen.“ Conn zwinkerte.
„Flieg nicht weg“, sagte Ian. „Ich beeil mich.“
Auf dem Weg ins Bad sah er, dass die einfallenden Sonnenstrahlen, die den Holzboden bedeckt hatten, plötzlich verschwanden. Er sah es, noch bevor das Surren in seine Ohren platzte. Er sah es, noch bevor Conns entsetzlicher Schrei folgte.
* * *
Ian lag auf dem Bett.
Er hatte die Arme ausgestreckt und blickte zur Decke. Beinahe sah er aus wie ein Engel. Die Kleidung lag, bis auf die Unterhose, auf dem Boden, sah aus, wie der aufgetürmte Wäscheberg, den seine Mutter immer anhäufte, wenn sie Waschtag hatte.
Sein Haar war zerzaust.
Die Kartons mit den Lebensmitteln standen noch immer da, wo er sie vorhin hingestellt hatte, der Barhocker noch immer unter dem Fenster.
Er hatte die Augen geschlossen.
Ian dachte an das kleine Mädchen. „Mein Name ist Rose, Mr. Catrall. Rose Miller.“
Ja, Rose Miller hieß sie. Jetzt wusste er es wieder. Ihre Mutter war krank. Sie hustete Blut.
Das hohe Summen wurde lauter. Ian presste die Lider fester aufeinander.
Die Millers hatten keine Gitter vor den Fenstern, deshalb musste die kleine Rose die ganze Nacht über ihre Augen offen halten. Und die Mutter war Alkoholikerin.
Ein Schuss fiel. Kurz darauf ein zweiter.
Rose Millers Augen waren rot unterlaufen. Sie trug eine kugelsichere Weste. Warum eigentlich? Ian verzog den Mund. Vielleicht, weil der Vater sie schlug. Nein, Mr. Miller war tot. Lange schon. Sein Leib war zu Brei zerschmolzen. Rose hatte es gesehen.
Weitere Schüsse drangen herein. Sie waren da! Und die Dämmerung war noch nicht einmal angebrochen. Der alte Carpenter hatte Recht gehabt. „Millionen von ihnen, Junge. Millionen!“
Glas klirrte.
Ian riss die Augen auf. Das Schlafzimmerfenster war noch heil, also musste es ein anderes sein. Sein Blick fiel auf das Gewehr, das an der Wand lehnte.
Draußen schrie jemand. War es die kleine Rose Miller?
Das Surren wurde schrill, schwoll bedrohlich an, flachte kurz ab, um erneut in einem ohrenbetäubenden Crescendo emporzusteigen. Es schmerzte.
Nein, Rose Miller konnte es nicht sein, die geschrieen hatte; sie wohnte am Ende der Straße. Ihr Schrei würde nicht bis hierher dringen. Nicht bei dem Getöse.
Eine Maschinengewehrsalve durchbrach das kreischende Schwirren.
Ian sah einen gigantischen, haarigen Körper am Fenster vorbeizischen. Ein Blitz folgte. Dann wieder ein Schrei, langgezogen, wie das Heulen des Hundes, das er vor Tagen gehört hatte.
Ein platschendes Geräusch. Jemand kreischte, kreischte so erbärmlich.
Jammerlappen kreischten. Jammerlappen waren Futter. Sie lösten sich auf, wie die Pfützen in der Sonne. Schon ein winziger Tropfen Sekret reichte aus. Ein winziger Tropfen aus dem riesigen Stachel des Angreifers.
Erneut flog etwas am Fenster vorbei, schlug gegen das Haus. Ian hörte, wie in der Küche Teller aus dem Regal fielen und auf dem Boden zerschellten.
Er presste die Hände auf die Ohren. „CONN!“ Sein Schrei kämpfte gegen das ohrenbetäubende Surren an.
„Millionen von ihnen, Junge. Es sind Millionen!“
„Conn! Wo bist du? CONN!“
Ian weinte, warf sich zur Seite in das Kissen. Es roch nicht mehr nach Conn. Er war nicht mehr da. Conn hatte ihn im Stich gelassen.
„Warum hast du das getan?“ Sein Heulen wurde lauter. Jämmerlicher.
Jammerlappen sterben. Waren Futter.
Das Orchester aus Schüssen, Schreien, Surren erreichte seinen Höhepunkt.
„Mr. Catrall, bitte helfen Sie uns!“
Ian presste die Hände fester gegen die Ohren. Sein Kopf schmerzte, die Schreie wurden lauter.
Er konnte das Blut riechen. Blut, das durch das zerbrochene Fenster hereinströmte. Der metallische Geruch übertönte sogar den Gestank, den die Mücken ausströmten.
„CONN!“
Ein lautes Klopfen an der Tür. Ian verstummte. Rotz lief aus seiner Nase, sickerte ins Kissen und bildete mit den Tränen zusammen einen dünnflüssigen Brei auf dem Bezug.
Ian lauschte. Für einen Moment schien die Welt still zu stehen, bis eine erneute Schusssalve die Illusion zerstörte.
Wer hatte da geklopft? Einbildung?
Ein Körper schlug gegen die Gitterstäbe vor dem Schlafzimmerfenster. Ian hörte das Brechen von Knochen. Er sah eine dunkelbraune Wildlederjacke. Ein winziger Spritzer Blut zerplatzte an der Scheibe, bildete einen kleinen Körper mit Flügeln.
Für den Bruchteil einer Sekunde schillernde Facetten, ein behaarter Rüssel.
Ian sprang aus dem Bett, griff nach dem Gewehr.
„Millionen, Junge! Millionen! Niemand wird diesen Angriff überleben. C.Falls ist nicht mehr zu halten.“
„Scheiß was drauf! Schwätzer.“
Er stürmte zur Tür, entsicherte die Waffe.
* * *
Die Tür stand offen. Der Schatten, der noch vor Sekunden das Haus verdunkelt hatte, verschwand abrupt. Wieder schrie Conn.
Ian riss die Tür auf, prallte zurück, als er die zwei Meter hohe Mücke auf der Straße hocken sah. Zum ersten Mal sah er so ein Ding richtig. Die im Verhältnis zum Körper dürren Beine, angewinkelt, der lange, beinahe durchsichtige Hinterleib pulsierte. Etwas bewegte sich darin.
„CONN!“
Sein Schrei ließ das Insekt herumfahren. Ian hatte gar nicht ausmachen können, wie es sich gedreht hatte, so schnell ging es. Die Facettenaugen starrten jetzt genau in seine Richtung, reflektierten in schillernden Farben das Spektrum des Sonnenlichts.
Keine Waffe! Ian hatte keine Waffe. „CONN!“
Er sah eine weitere Mücke über die Häuser der anderen Straßenseite fliegen. Irgendwas hing zwischen ihren klebrigen Beinen.
Ian schlug die Tür zu, rutschte zu Boden, vergrub das Gesicht zwischen seine angewinkelten Knie.
* * *
Ians Wange berührte das kühle Metall der Tür. Er traute sich nicht, sie zu öffnen. Was sollte es bringen?
Der Lauf des Gewehrs liebkoste seine Lippen. Seine Hände zitterten. Ein winziges Zucken des Zeigefingers könnte alles gut werden lassen.
Jammerlappen sind Mückenfutter.
Wieder Schüsse. Schreie.
Carpenter hatte Recht. Keiner würde den letzten Angriff überleben. Vielleicht war das auch gut so. Ja, es war gut.
Etwas drückte gegen die Tür. Ian hörte es nicht, er spürte die Vibration.
Ob die kleine Rose noch lebte?
Hätte er ihrer Mutter helfen können?
Hätte er es versuchen sollen?
„Rose, es tut mir Leid.“
Das Metall der Tür wurde nach innen gedrückt, barst an einer Stelle und gab die Sicht auf einen sägenden Rüssel frei.
Ian wich zurück.
Als die Tür brach, war er schon wieder auf dem Weg ins Schlafzimmer.
Er stellte das Gewehr zurück an die Wand. „Vor kurzem hätte ich dich gebraucht“, flüsterte er, strich über den Lauf und grinste.
Dann legte er sich auf das Bett, nahm das Kissen und drückte es fest an sich.
Conn …