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Angst der Fische
Der Junge hieß Roland. Roland Jablonski. Die anderen Kinder, die ihn seltsam fanden, sagten Jablonski zu ihm. Das war ein anderes Wort für Seltsam-sein. Etwas Komisches war dann »ganz schön jablonski«, und wenn etwas abstrus oder dumm war, dann war das »verdammt jablonski«. Früh kam Roland die Idee, dass er dort nicht hin gehörte. Sowieso stellte er sich immer wieder die Frage, wie es denn sein konnte, dass sich ein Wesen unter seinesgleichen so ungeheuer fremd und falsch platziert vorkam. In seinen Träumereien schaute er zum Sternenhimmel auf, in klaren Nächten, und hielt Ausschau nach den Außerirdischen seiner Rasse, dass sie endlich kommen sollten, um ihn mit sich Heim zu holen. Das passierte nicht, also bewegte er sich so gut, wie er es konnte und so unauffällig, wie ihm das möglich war, durch die Winkel und Kanten und Ecken, die sich ihm darboten auf dieser Welt. Das war eine Hatz jeden Tag, denn bloße Blicke, die auf ihn fielen, bereiteten ihm fast körperliche Schmerzen; ein Blick konnte ihn zerbrechen, in die Knie zwingen, wenn er sich selbst nicht stets und zu jeder Zeit zusammennahm.
Und dann gab es noch das Monster.
Das Monster war fast immer hinter ihm irgendwo, reckte seine Finger, ihn zu fassen. Und es war unten im Abfluss der Badewanne.
Roland hatte ein Fahrrad, das schon alt und gebrechlich war - scheppernde Bleche - und wenn er damit fuhr, stellte er sich vor, er reite auf seinem Ross in die Schlacht mit gezogenem Schwert, das blitzte im Glanz des ruhmreichen Tages; Rolands Tage waren fast niemals ruhmreich. Das was wirklich schlimm war, war dass Roland damit begonnen hatte, sich selbst nicht mehr zu mögen. Händeringend waren seine Versuche sich an zu passen Verzweiflung, und immer wieder erstarben sie in Demütigung vor sich selbst.
Nichts ging ihm leicht von der Hand wenn er zu tun hatte mit den Menschen, den Glotzern. Ein Mensch war Roland, der irgendwann für sich den Entschluss gefasst hatte, dass er die Menschen nicht mochte. Jedesmal wenn er sich taumelnd in einer Gesprächssituation wiederfand, war es ihm so schwer zu sprechen, als höre er eine fremde Sprache und müsse seine Worte im Kopf sortieren und übersetzten; in seinem Kopf rasten mögliche Antworten, und Roland musste sortieren, das heraussuchen, was er glaubte verstanden zu haben, was in einem solchen Moment zu sagen sei.
Nichts ging ihm leicht von der Zunge. Aber manchmal war er ein Meister der Verstellkunst. Dann konnte er wirken, wie ein normaler Mensch - wie er fand - und dann geriet ein geglücktes Gespräch schon zu einem ungeheuren Erfolgserlebnis, das ihn sich kurz aufbäumen ließ, aber gerademal so lang, bis die nächste Situation sich auftat, nämlich, dass jemand etwas zu ihm sagte, und dann begann die Raserei in seinem Kopf erneut.
Das Haus der Eltern war für Roland sein Mutterschiff, gestrandet auf dem fremden Planeten. Und jedesmal wenn er am Morgen das Haus verließ, verharrte er eine Weile vor der Haustür bevor er sie auftat, um sich zusammen zu nehmen. Er versuchte dann die Maske aufzusetzten, von der er glaubte, dass sie den Menschen am ehesten gleich war, und dann ging er hinaus, schwerelos aber zehrend, denn es herrschte eine fremde Schwerkraft, die ihn strauchelnd machte. Dann war das alte Fahrrad ein Raumgleiter, der knapp über dem Boden dahin raste wie der von Luke Skywalker im Krieg der Sterne.
Roland Jablonski liebte den Wald und er liebte das Meer. Durch Wälder traben, tagelang; in seinem Kopf hatte er Wälder, die fast undurchdringlich waren, und dann plötzlich konnte man auf eine Lichtung stoßen, und dann war es tief verschneit und der Boden glitzerte wider vom Mondlicht.
Im Augenblick hatte Roland Furcht im Kopf, denn er schoss auf seinem Gleiter auf dem wilden Planeten entstellten Wesen entgegen: Auf einer Bank am Rand des Weges saßen zwei Jungen mit ihren Hintern auf der Rückenlehne. Roland hatte sie rechtzeitig entdeckt. Er war gerade den steilen Waldweg heruntergekommen und hatte abrupt gestoppt, als er um die Ecke sah. Roland befürchtete, dass die Vollbremsung zu laut gewesen war, aber die Jungen waren noch gute fünfzig Meter entfernt und redeten wild miteinander. Sein Ritual im Flur vor der geschlossenen Haustür am Morgen hatte zu lange gedauert, er war zu spät, er wird anklopfen müssen, alle werden ihn anstarren, wahrscheinlich wird er sich entschuldigen müssen, irgendetwas sagen - und jetzt versperrten ihm zwei den Weg. Wäre er zu Fuß unterwegs gewesen, Roland hätte sich einen anderen Weg gesucht, aber er hatte ja seinen Flitzer. Er würde so rasch an ihnen vorbei jagen, dass sie nichts sagen konnten, er müsste sich nicht behaupten, was bedeuten könnte, dass sein Selbstwertgefühl unbeschadet eine weitere Runde vorhanden sein konnte. Die Prüfungen des Tages hatten schon begonnen.
Roland hob die Füße vom Boden und gab sich zu erkennen. Er radelte los. Eine Regel, die er heraus gefunden hatte war, dass Blickkontakt vermieden werden musste, also behielt er die Augen auf dem nassen Weg, der vor ihm dahin rollte, aber seine Sinne waren gerichtet auf die beiden dunklen Burschen am rechten Wegesrand, auf die er zu rollte. Er spürte, dass sie ihn ansahen. Sein Magen verkrampfte als er sie passierte. Sie sagten nichts. Der innere Roland wollte gerade den Versuch machen sich zu recken, weil das Nichtssagen der Burschen nur Akzeptants bedeuten konnte - und das war es, was er zu suchen glaubte -, da hörte er knapp neben sich, dass einer der beiden Rotze hochzog von tief unten, und dann spuckte der auf Roland in dem Moment als er vorbei jagte. Der andere lachte - oder beide -, das war egal; der innere Roland zog sich wieder zurück, Roland hasste. Dem Jungen blieb wenig Zeit ausführlich zu hassen, denn er war zu spät.
Dann hatte er die Schule erreicht.
Hastig schloss er sein Fahrrad an im blechernen Wald aus anderen Fahrrädern und lief über den leeren Schulhof zum Gebäude: Ein gelber Kasten; Gelb, die Farbe der Furcht. Das Gebäude sah hart zu dabei, als Roland die alte Türe aufwuchtete und in die Gänge trat. Er war vollends auf Feindgebiet angekommen, es bedurfte ab jetzt der absoluten Konzentration in der Rolle zu bleiben. Seine Schritte hallten wider als er die Treppen empor rannte und über die leeren Flure huschte. Dann wurden seine Schritte langsamer, dann schlich er fast als er auf die Türe zu ging, hinter der sich eine Horde von jungen Menschen, Glotzern befand, zu denen er dazu stoßen musste. Junge Menschen waren ganz besonders schlimm, hatte er festgestellt. Die Harmlosesten waren die Alten. Großmütter und Großväter hatten kaum etwas Gefährliches an sich. Die hatten ihre eigene Zeit so sehr mit sich genommen, dass sie nicht kollidierte; der junge Mensch stand außerhalb ihrer Regeln und Gesetze, Kritik war bedeutungslos, und ein freundliches Wesen rannte alte, offene Türen ein, solange es ein flüchtiger Besuch war, ein rasches Hinein- und ein baldiges wieder Heraustreten. Die jugendlichen Menschen hatten die Macht Genicke zu brechen, seelische.
Roland Jablonski stand vor der Türe und zog eine Hand zurück, die gerade anklopfen wollte. Seinen Kopf schob er vor um zu lauschen. Stimmen kamen dumpf und Roland hatte das Gefühl, dass darinnen in dem Raum eine andere Vegetation blühte, in einem anderen Klima, er fragte sich, ob er diese Luftzusammensetztung überhaupt atmen konnte.
Er zog sein Ohr zurück und wich von der Türe ab. Der innere Roland hatte sich auf den Grund von Rolands Fersen zurück gezogen. Roland überlegte, welche seine Worte sein sollten, wenn er vor der Klasse stand. Entschuldigen sie die Verspätung, ich habe verschlafen. Das würde er sagen, dachte sich Roland und begann einen erneuten Anlauf.
Seine Faust hielt inne bevor sie traf. Die Enttäuschung über sich selbst war groß. Jede Schuppe seines Körpers war auf Flucht programmiert und dann klopfte er an.
Die Türe schob sich vor ihm auf und er sah in Gesichter. Viele Augen waren auf ihm, und die plötzliche Wucht der Blicke traf ihn, stach Roland wie eine Horde Wespen, dass er innerlich taumelte. Am Pult saß die Lehrerin und gesellte ihre Blicke zu den der anderen mitten in Rolands Gesicht- es fühlte sich an wie eine Wiese abgrasen. Roland wusste, dass es jetzt an der Zeit war zu sprechen, den Mund auf zu tun und etwas zu sagen, und das sollte jetzt langsam passieren. Wie lange stand er nun schon da? Eine Stunde, fünf?
»Entschuldigung«, sagte Roland Jablonski.
»Ach, guten Morgen Roland, schon da, ja?« sagte die Lehrerin oder etwas ähnliches.
Roland war schon auf seinem Weg durch den Mittelgang auf sein Pult zu, das ganz hinten stand. Den Blick hielt er gesenkt. Augenkontakt würde ihn zum Falle bringen.
Endlich saß er. Die meisten sahen ihn noch immer an, als Roland sein Gesicht vom Boden nahm. Allmählich drehten sich die Anderen wieder um. Noch ein einziges Augenpaar starrte, das gehörte einem Jungen der Heinz-Jürgen Garrash hieß und ein Pult vor Roland saß.
»Na, Jablonski«, sagte Garrash und grinste.
»Garrash«, nickte Roland, dann grinste auch er, steinern, eine Maske.
Leise begann Garrash ein Gedicht vor zu tragen, allein für Roland Jablonski. Aber Roland hatte das nicht vergessen- wie sollte er? Den Gipfel Angst hatte er noch nicht erklommen, er paddelte noch immer in dessen Graben herum.
Er hatte das Gedicht gelernt jedoch war er weit von einer Übereinkunft mit sich selbst entfernt, sich da vorne hin zu stellen, mit geöffneter Person und das Gedicht auf zu sagen vor der Klasse. Da spürte er, dass es in seinem Magen rumorte, etwas wollte nach oben. In Rolands Mund fing sein Speichel wild an zu fließen. Garrash drehte sich um, als die Lehrerin ihn wiederholt ermahnte. Roland sah jetzt über Hinterköpfe hinweg nach vorn, wo die Lehrerin in einem kleinen roten Buch blätterte. Das kleine rote Buch. Die Farbe Gefahr. Als sie aufsah und einen Namen nannte schoss zum erstenmal sein Mageninhalt in den Mundraum. Der Druck war nicht so stark, dass Roland nicht feste genug seine Lippen aufeinander pressen konnte. Er schluckte es wieder, was so ekelhaft schmeckte, dass es sogleich wieder nach oben kam, und wieder konnte er es runterschlucken. Eine Schülerin an einem vorderen Pult stellte sich vor der Klasse auf und begann sofort mit dem Gedicht. Von Rolands Strähne, die auf seiner Stirn klebte, rann ein Schweißtropfen auf seine Nasenspitze und platschte von da auf sein Pult. Roland befand sich im Kampf mit seinem Körper, rang damit, sich nicht von sich selbst verraten zu lassen.
Da drehte Garrash sich wieder um zu ihm. »Was is mit dir?«
Roland hatte gerade wieder geschluckt was nach oben kam. »Mir ist schlecht«, brachte er heraus.
Heinz-Jürgen lächelte. »Fleischwurst«, flüsterte er.
Oh wie böse doch dieser Kleine war, unbestreitbar ein Ureinwohner dieser Welt. Roland begann wieder zu würgen, als das Mädchen da vorne fertig war und zu ihrem Platz zurück ging. An Garrash vorbei beobachtete Roland wie die Lehrerin mit ihrem Stift etwas notierte in dem roten Buch, bald würde sie wieder aufschauen und auswählen, denn das tun sie.
Dann kam Garrash ganz nah heran. »Dann meld dich doch«, sagte er.
Andere drehten sich um zu ihnen. Roland schüttelte vehement den Kopf. Da wand sich Garrash ab und warf seine Hand in die Luft, und dann schnippte er sogar mit den Fingern. Innerlich kapitulierte Roland in dem Moment, als die Lehrerin aufsah und Heinz-Jürgen zu nickte.
»Jablonski muss kotzen«, sagte der und zeigte in hohem Bogen auf Roland wohin erneut die ganze Aufmerksamkeit ging.
»Du siehst auch gar nicht gut aus, besser du gehst auf Toilette«, sagte die Lehrerin.
Roland nahm seine Hand vom Mund und stand langsam auf. Spei, spei wie ein Wasserfall! Er schritt durch den Mittelgang auf die Tafel zu, vorbei an Glotzern, als es empor schoss, kräftiger als zuvor und jetzt war er in Bewegung, hatte seine Muskeln nicht vollends in Ruhe unter besonnener Kontrolle. Er schmiss seine Hand vor den Mund, aber seine Lippen wurden durchstoßen von einem Schwall Kotze. Seine Handfläche war viel zu klein dafür und da kam noch mehr. Es spritzte zwischen seinen Fingern hindurch zu beiden Seiten. Die Mädchen schrien auf und drückten sich in die äußersten Ecken. Der nächste Schwall kam ungeschützt heraus und platzte auf den Tageslichtprojektor, der rechts der Tafel stand. Von links hörte Roland jemanden sagen: »Oh mein Gott, Roland.« Das war die Lehrerin gewesen. Jemand anderes sagte: »Igitt, ist das jablonski!« Von beiden Seiten hörte er Stühle rücken und überlappendes Gerede und auch Gelache. Spei, spei wie ein Wasserfall! Und dann kotzte Roland unverholen an die Tafel.
Er merkte, dass es vorbei war, das war alles gewesen; letztendlich stand er doch vor der Klasse. Die Türe wurde aufgerissen und die Anderen liefen auf den Flur hinaus. Als Garrash an Roland vorbei ging, über Pfützen hüpfte, beglückwünschte er ihn. Andere drückten sich noch an die Türpfosten um zu sehen was noch passierte, aber allmählich war der Geruch zu pedantisch geworden. Die Lehrerin nahm Abstand als sie sich hinab beugte. »Geht`s wieder?« fragte sie und sah mitleidig in sein Gesicht.
»Ja, ich mach das sauber«, sagte Roland.
Die Lehrerin sah nocheinmal mitleidiger in Rolands Gesicht, das etwas beschmiert war und scheuchte dann die letzten Kinder vor sich her in die Flure. Jetzt war Roland allein. Das Monster hatte die Flure verlassen. Er war überschwemmt worden von dieser Flut Pein, und so stand er da: triefend, ausgewrungen. Trotzdem fühlte er sich besser, es war vorbei, er hatte es hinter sich gebracht - und vor sich und über den Tageslichtprojektor. Roland schmunzelte. Er trat hinaus auf den Flur, der jetzt ganz leer war, und sah in die Flucht hinein. Am Ende des Flures waren die Toiletten, dort würde er einen Eimer finden. Einen Putzlumpen hatte er aus dem Schrank im Klassenraum genommen, der schleifte jetzt beinahe auf dem Boden, als Roland durch den Flur zu den Toiletten schritt, an den tief rumorenden Klassenzimmern vorbei, die hinter bebenden Türen steckten. Das dumpfe Brummen um ihn herum ließ ihn an ein gewaltiges Raumschiff denken, durch dessen Korridore er gerade schritt. Dann dachte er an einen Bienenstock und er fand, dass er in Gefahr war. Das Monster ist doch noch nicht fort, dachte er.
Endlich war er bei den Toiletten angekommen und huschte hinein. Die Türe quietschte und es widerhallte in den Gängen. In einer abgesperrten Nische, die weiß gekachelt war wie alles hier, stand ein alter schwarzer Putzeimer. Den nahm sich Roland und ließ Wasser ein. Über dem Waschbecken hing ein dreckiger Spiegel in dem er sich ansah. Er war nicht stolz auf sich. Schlechter war es ihm niemals gelungen sich hindurch zu manövrieren, niemals war er so sichtbar gewesen. Niemand würde das vergessen und jedesmal wenn sie zukünftig in dem Raum Unterricht haben sollten, würden sie an Rolands Rumgekotze denken, vielleicht würde es noch riechen...Er hatte sich ein neues Hindernis gebaut: sein Kotz-Gelass.
Er ging zurück zum Klassenraum, etwas Wasser schwappte auf den Flur, er sah sich um, niemand war dort. Mit dem Lappen fing er an sein Erbrochenes auf zu wischen und während er das tat begann Roland das Gedicht auf zu sagen.
So sichtbar war ich nie
Diese Welt, ein Gelass
In dessen Mitte ich gelassen steh
An der Tafel hatte sich Kreide dazu gemischt. Zweimal musste Roland zur Toilette zurückgehen, um das Schmutzige weg zu kippen, und um neues Wasser zu holen. Als er gerade wieder in den Spiegel sah, läutete es. Sofort flogen in den Fluren sämtliche Türen auf, Heere von Glotzern stürmten aus, es wurde laut draußen. Roland blieb auf Toilette stehen und wartete. Als die letzten Schritte verhallt waren wartete er immer noch. Erst dann ging er hinaus. Immer noch war er nicht sicher ob das Monster die Flure verlassen hatte. Er nahm seinen Rucksack und verließ das Gebäude.
Der Hof war leer.
Als er zu den Fahrradständern kam, war seins das einzige das dort noch stand. Aber es war umgefallen oder umgestoßen worden. Roland hob es auf und sagte etwas. Er sprach zu dem Fahrrad. Jetzt würden sie wieder gemeinsam unterwegs sein, es würde ihn daher tragen, rasch vorbei an Gefahren in Wälder hinein und zum Meer. Dorthin rief es Roland stets; dort nahm er Platz im Sand, so nah am Wasser, dass die Wellen ihn fast erreichen konnten und er sah hinaus auf das Wasser, suchte seine unbeständigen Formen, Gebirge, Täler; das Rauschen konnte ihn tragen. Und ausgespuckt kam er sich vor, jedesmal wenn er dem Meer den Rücken kehrte und wie an einer Nabelschnur hängend über den Damm raste zurück nach hier.
Roland stieg auf sein Rad und fuhr los.
An einer Ecke verlangsamte er und spähte voraus; der Weg war frei. In die Wälder hinein schob er das Rad, der Weg war schmal und sehr steil und uneben, voller Wurzeln und Steine.
Im Wald atmete Roland.
Er stand auf der Höhe wo zwei Wege sich kreuzten unter Blätterdach. Von hier aus lag eine wunderbare Strecke vor ihm, die bergab führte über waghalsige Pfade, zwischen Farnen hindurch und über Stufen aus Erde und Fels. Sein Ross war gesattelt und der Reiter machte sich bereit für den Sturm auf die Bastion. Aber noch verweilte er dort, wo die Wege kreuzten und schluckte herunter, mal wieder; diesesmal war es Zorn nicht Kotze. Dann stieß er sich ab und fuhr los. Bäume rauschten vorbei, Krieger und Ungeheuer und ihre Schlachtfelder. Das Monster ließ Roland hinter sich, er spürte es, aber er war zu schnell, es konnte ihn nicht schnappen, denn träge und plump waren dessen Bewegungen und Roland trampelte so schnell er konnte und sprang so geschickt, wie kein anderer die Pfade entlang. Heute noch wollte er das Meer sehen.
Die Straße, durch die er radelte, als er den Wald hinter sich hatte, war die an deren Ende sein Elternhaus stand. Kleine ordentliche Einfamilienhäuser säumten mit ihren großzügigen Gärten diese Straße, es gab Katzen, die durch Jägerzäune huschten und spielende Kinder und einen kleinen Kläffer, der Roland immer wieder einen Schrecken einjagte, wenn er an dem Zaun vorbeifuhr. Roland wusste jedesmal, dass Mickey kläffen würde, darum spannte er sich bereits am Anfang des Zaunes und trat schneller in die Pedale bis Mickey angerannt kam und plötzlich ihn ankläffte, wobei Roland zusammenzuckte, jedesmal. Dahinter war sein Haus, als letztes in der Straße, das Nest. Er hatte herausgefunden, dass es nicht so leicht war zu erschrecken, wenn er ausatmete in dem Moment, da er den Schreck erwartete. Also atmete Roland wenn er um eine Ecke bog stets aus, weil er erwartete zu erschrecken wenn ihm plötzlich jemand begegnen sollte. Auch wenn er an Mickeys Zaun vorbeifuhr atmete Roland tief aus. Das Erschrecken war stets ein Akt des Einatmens, ein abruptes unkontrolliertes Einsaugen der Umwelt, die krachend auf die Seele prallte bevor die es schaffte ihre Schilde hoch zu fahren. Schutzschilde, die brauchte Roland Jablonski.
Und jetzt war er zu Hause angekommen.
Zu Hause - ein bisschen hatte er das schon hier, im Haus am Ende der Straße. Eine Bastion gegen Fremde oben in seinem Raum. Und Verbündete gab es dort, aus Stoff und Plüsch und Holz und Plastik, mit Innereien aus Federn und Schaumstoff, Herzen aus Flock und Garn. Im Regal hockten sie und auf dem Bett, darunter lugten sie hervor und hielten sich fest an Zwirnen und Nägeln. In einem Aquarium schwamm Rolands Fisch, plapperte träge, stumm: ein Fischemensch, genau wie er selbst einer war.
Am Tag davor war Roland seinen Raum abgeschritten, erst immer geradeaus und zurück, dann im Kreise und bald hatte er auf dem Bett gelegen, die Augen zur Decke, und das Buch zur Seite getan. Ein Buch mit Gedichten war das gewesen, aus dem er gelernt hatte, und gerade jetzt lag das Buch unter dem Bett, weil es dorthin gerutscht war in der Nacht. Roland war immer besonders aufmerksam wenn er unter das Bett fassen musste. Gespannt wartete er Spinnweben zu begegnen. Unterhalb seines Bettes - da war er sich sicher -gab es ein Reich, das er besser zu frieden ließ, mit Wesen, die er lieber nicht sehen wollte, obgleich sie nicht seine Feinde waren, aber er ekelte sich.
Jetzt tastete seine Hand hinunter in den Spalt der zwischen Wand und Bettgestell klaffte, den schmalen. Zuckend durchstieß er dünne Spinnweben und schnappte nach dem Einband des Buches, als ein Schauer ihn durchfuhr; und als er das Buch hinter dem Bett so rasch hervor zog, ließ er es im Schwung abrupt los und es schleuderte durch den Raum, traf dabei die Lampe, die von der Decke hing und kam irgendwo scheppernd zum Liegen. Die Lampe wippte aufgeregt und das Licht wanderte an den Wänden herum, als wäre ein Gewitter unter der Decke. Roland sah mit großen Augen dorthin, wo er abwechselnd blinzeln und schauen konnte, weil die Glühbirne so hell war, wenn sie ihn traf. Das kleine Spiel mit dem Reich unter seinem Bett war ihm lieb, wenngleich süß unwohl, besser war es, nicht zu wissen, wer dort unten lebt.
Den Fisch hatte Roland geschenkt bekommen und ihn Lem getauft, weil er Stanislav so liebte, den polnischen Schöpfer phantastischer Geschichten. Lem war gerade verschwunden, bestimmt in der Höhle, die ein zerbrochener Krug ihm darbot. Roland lag auf seinem Bett, in seinem zerbrochenen Krug am Ende der Straße, wo es warm war und gemütlich meist, und wo er aufbrechen konnte, um das Meer zu sehn. Dieses Schhhhhhh, das das Meer macht; umspülen und vom Ufer davon tragen, wo die scheuen Monstren nicht weiter können, wo auf dem Grund einen nichts mehr erreichen kann außer Friede und Gelassenheit. Dieses Schhhhhhh. Den Zeigefinger an die Lippen legen. Ein Rausch, ein Raunen, warm in der Seele.
Aber jetzt hatte Roland Hunger.
Zu seinem Zimmer herauf führte eine Treppe, die besonders steil war, und die er nun herunterlief durch den Flur hinein in die Küche. Er aß flink, denn noch heute wollte er das Meer sehen. Seine Mutter kam herein als Roland sich Milch vom Munde wischte. Unter dem Arm trug sie einen Korb mit Wäsche, die ganz nass war und stellte ihn auf den Tisch zwischen Brettchen und Milchflasche und Strauchtomaten. Trotzdem sich Roland eilte, war ihm das Essen ein kleines Fest gewesen, bei dem er alles gemütlich angerichtet hatte auf dem Küchentisch. Die Mutter sah müde aus aber sie lächelte.
»Wie war dein Tag?« fragte sie und ging mit der Hand über ihre Stirn.
»Ach«, sagte Roland als er aufgehört hatte ihr Lächeln zu erwidern. Unter dem Tisch stellte er sich auf die Zehenspitzen.
»Hat sie dich dran genommen?« fragte seine Mutter, setzte sich an den Tisch.
Am Tag davor hatte Roland noch gewollt. Sich aufbäumen, in den Wind stellen, sich zeigen, sich sichtbar machen - und bestehen! Er hatte sich vorgestellt, wie er aufzeigen würde, seine Hand dahin recken würde, wo die Luft dünner ist und elektrisch. Und er hatte sich seinen Blick vorgestellt, einen festen, standhaltenden Blick, in dem sich kein Wasser sammeln würde und der geradeaus in den Blick der Lehrerin fahren würde, mit dem Wissen darum, dass nichts geschehen kann was den Schild ankratzt. In seinen Gedanken - in fester Absicht sogar - hatten seine Beine ihn in die dünne Luft gehoben als er sein Pult verließ, und er schritt den Mittelgang entlang, und in seinen Träumereien kümmerten sich die Anderen nicht weiter darum, denn er war akzeptiert, und er stellte sich vor der Klasse auf, mit geöffneter Person, und es war eine Freude seine Stimme zu hören, so gut sagte er das Gedicht auf - in seinen Gedanken. Spei, spei wie ein Wasserfall!
»Nein«, sagte Roland.
»Beim nächsten Mal«, sagte seine Mutter. »Hauptsache ist, du hast aufgezeigt.« Sie stand auf und nahm den Korb. »Ich bin stolz auf dich«, sagte sie.
»Warte Mama«, rief Roland, »das mach ich.«
Er nahm ihr den Korb ab, und sie fuhr ihm durchs Haar als er sich umdrehte und in den Flur ging. Er schlüpfte in Schuhe und tapste zur Haustüre hinaus auf die Wiese. Auf dem ansteigenden Grundstück um das Haus war eine Wäscheleine gespannt. Es war nicht besonders warm, aber der Wind ging beständig und es sah nicht nach Regen aus. Roland stellte den Korb ins Gras und begann damit nasse Betttücher über die Leine zu werfen. Als der Korb leer war flatterte die Wäsche über der Wiese und Roland ging zu seiner Mutter und verabschiedete sich.
In einem kleinen Schuppen neben dem Haus stand das Fahrrad. Vorne an der Lenkstange hatte Roland Federn festgeklemmt, die er an verschiedenen Tagen auf seinen Wegen gefunden hatte. Sein Fahrrad nannte er Hühnerfeder.
Hühnerfeder war gesattelt und Roland Jablonski saß auf. Er trug einen Anorak und Turnschuhe. Der Weg zum Meer führte für ihn nicht die Straße hinunter; es gab einen verschlungeneren Pfad über Hügel und durch Senken jenseits der Häuser, und dann war das Land ganz flach und der Horizont war der Deich, als hellgraues Band über den Wiesen, die wirbelten wie ungestümes Haar.
Roland trat kräftig. Aber auf der Höhe seines Fluges wurde es ihm schwerer zu atmen. In seiner Brust wurde es ganz eng als der Deich ihm noch weit voraus war. Er hielt an im flachen Land ohne Menschen, und kramte den Inhalator aus seiner Tasche. Drei tiefe Züge und ein wenig Innehalten. Die Brust hob sich heftig und senkte sich stark, sein Blick lag vor ihm auf dem Boden. Dort verfolgte er einen Pillendreher auf seinem kleinen Weg ins Gras.
Zu Roland kehrte die Luft zurück, in die Lungen und ins Haar.
Der Meereswind empfing ihn heimisch als er den schmalen Sandstreifen zum Deich hinaufkam. Er schmeckte das Salz und sah hinaus auf das Wasser. Das Meer lag zu seiner Linken als er über den Deich radelte. Bald hatte Roland die Stelle erreicht, an der er den Deich stets verließ: Ein schmaler Hang, der voll von Muscheln und runden Steinen war, führte hinab zum Strand. Roland stieg ab und legte Hühnerfeder in den Sand. Jetzt schritt er gemächlich geradeaus auf das Meer zu, den Horizont im Auge, den Himmel auf der Stirn. Dann blickte er den Strand entlang, wand den Kopf in beide Richtungen. Niemand war dort. Roland war allein mit dem Meer und er setzte sich, gerade so weit vom Wasser, dass die äußersten Schaumbläschen seine Schuhe nicht erreichen konnten. Das Rauschen war überall, brandete ihn an. Herrlich. Dieses Schhhhhh. Manchmal schloss Roland die Augen. Dann war er mittendrin, taumelnd ohne Fallen, in Sicherheit taumelnd. Aber dort unten, dachte Roland, dort unten muss es ganz still sein. Kein Schrei. Kein Husten. Auf den Grund des Meeres kann niemand schauen. Auf den Meeresboden sich legen, dachte er, wo es ganz still ist, und wo das Monster nicht hin kann.
Roland öffnete seine Augen. Dann grinste er. Hatte er nicht einst Angst gehabt vor dem Wasser? Vor dem Dunklen darin, das knapp unter den paddelnden Füßen herschwimmt, das man nicht sehen kann. Aber wenn man selbst dazu gehört, dachte er. Seit einiger Zeit war sich Roland bewusst, dass das Monster nicht unten im Wasser war, sondern hier oben bei ihm, und jeder Tag war ein Lauf, ihm nicht zu begegnen, ein Schleichen um Häuserwinkel, ein Verstecken hinter Bäumen. Heute in der Klasse hatte es ihn erwischt. Eigentlich bin ich ja ein Fisch, dachte Roland.
Aus einem plötzlich aufflackernden stechenden Impuls heraus, drehte er sich abrupt um und sah hinter sich. Seine Erwartung war, dort, direkt hinter sich, jemanden stehen zu sehen, der leise heran gekommen war und jetzt seine Hände nach ihm ausstreckte. Er fand den Strand leer hinter sich. Aber als er sich wieder umdrehen wollte, entdeckte Roland zwei schwarze Gestalten an der Meeresbrandung. Sie waren noch weit weg und es war nicht wirklich zu erkennen, ob sie sich annäherten oder sich entfernten, oder standen sie einfach nur da und schauten herüber zu ihm? Roland stand auf und ging zu Hühnerfeder zurück, dabei schaute er zu den Gestalten hin. Und plötzlich hatte er den Eindruck, dass sie zu laufen begonnen hatten. Und sie kamen auf ihn zu gerannt. Roland schnappte sich sein Rad und schob es so rasch wie er konnte den Geröllweg empor auf den Deich. Oben schwang er sich in den Sattel und radelte los, trat feste in die Pedale, war erneut auf der Flucht. Der Wind in seinem Kopf schrie so laut, dass er nichts mehr wahrnahm außer dem Weg, der vor ihm dahin rollte in rasselnder Hast. Und was dort rasselte war, wie er erst sehr spät feststellte, seine Lunge. Aber noch mochte er nicht anhalten. Beinahe spürte er sie im Nacken, die Gestalten, das Monster.
Erst als ihm die Brust schmerzte stoppte er die Fahrt. Seine Hand griff in die Tasche und als sie den Inhalator spürte war die Hast zu ende. Drei Züge. Roland bemerkte, dass der letzte nicht mehr sehr kräftig war. Das Heilmittel in dem Inhaliergerät ging zu ende. Aber diesesmal war er noch davon gekommen. Der Weg hinter ihm lag frei.
Roland verließ das Meer.
Den weiten Ebenen jenseits des Deiches kehrte er den Rücken zu, und er fand einen Wald, durch den er stapfte. Das Rad lag am Waldesrand und Roland hatte einen Stock gefunden, mit dem er kämpfen wollte gegen Dickicht, das sich ihm in den Weg drängte. Als Ritter hatte er sein Ross zurück gelassen, denn die Pfade, die er von nun an beschreiten musste, waren unwegsam und tückisch.
Das Unterholz knackte bei jedem seiner Schritte; die Luft war voller Mücken, die im Lichtschein zwischen den Bäumen flimmerten und deren Tanz er durchschnitt mit seinem Schwert. Als er den dichten Wald hinter sich hatte, öffnete sich vor ihm eine lichte Wiese, die sachte anstieg. Roland erhob seinen Stock zum Schlage auf das feindliche Heer und brüllend lief er los. Auf dem flachen Kamm der Wiese ließ er sich fallen weil er keine Luft bekam.
Und dann staunte Roland.
Während er inhalierte sah er auf ein altes Gemäuer hinab, das auf einer platten Fläche stand, wo die Wiese sich nach dem Hügel wieder abgesenkt hatte. Er duckte sich erneut, um vorsichtiger als zuvor einen spähenden Blick zu wagen.
Es war ein altes Fabrikgelände mit hohen Backsteinmauern und rostroten Rohren, die unheimlich darin verschwanden und sich krümmten und ins Leere stachen. Blicklose Fenster, zerschmissene Scheiben. Seltsame Betonblöcke lagen vereinzelt auf dem Feld davor, aus denen dicke Drähte schauten, deren Enden sich aufspalteten in spitze Speere. Über allem stand ein kolossaler Bau, ein mächtiger Torso mit bösem Blick. Roland wusste, dass dieses dort die Festung war, die es zu erobern galt. Er verstaute seine Medizin gut und schloss den Griff um seinen Stock fester. Dann schlich er geduckt los über den Hügel und schmiss sich hinter den ersten Betonklotz. Dabei war er auf der Hut, nicht erdolcht zu werden von den Speerspitzen. Langsam schob er seinen Kopf an der Kante vorbei. Das Feld war frei. Mit der nächsten Etappe würde er bis zur großen Backsteinmauer gelangen. Er hielt den Atem an als er los robbte. Den Stock erhoben, zum Schlag bereit, presste er seinen Rücken an die Wand und schritt langsam an ihr entlang auf ihr Ende zu. Roland spähte um die Ecke. Hinter der Wand tat sich ein Labyrinth auf von dunklen Räumen, deren Wände halb eingefallen waren. Darin führten stählerne Treppen in ungewisse Höhen, von irgendwoher hörte Roland einen Tropfen immer wiederkehrend fallen. Er schritt voran.
Wie ein Tänzer umrundete er die Ecke und brachte die Meter bis zur nächsten Deckung hinter sich. Jetzt stand er an einem offenen Tor, dem Eingang zur Feste. Es roch modrig, nach faulem Wasser und Vogelscheiße. Durch Fenster fiel Sonnenlicht und erhellte Fragmente im schattigen Innern. Roland trat auf eine Treppe zu, die in ein höheres Stockwerk zu führen schien. Unsicher setzte er den ersten Fuß auf die Stufe, es hallte blechern von den Mauern wider. Nach den nächsten Schritten befand er die Konstruktion für stabil und stieg unbeirrt in die nächste Etage auf. Dort war die Decke sehr viel niedriger und es gab viele Türen. Über den Boden verteilt lag Schutt. Roland fand einen alten Stiefel und vergilbte Pornohefte.
Im nächsten Raum stand eine Toilette. Der Raum war groß und in der Mitte stand diese Toilette, ein leeres Gefäß ohne Wasseranschluss. In einer Ecke wuchs ein junger Baum aus dem Boden, wo er Fliesen aufgesprengt hatte. Der Raum war voller Sonnenlicht, weil die Decke großflächig zerstört war, und Roland konnte den Himmel sehen.
Der nächste Raum war dunkler.
Dort entdeckte Roland eine schäbige Matratze und einige Flaschen, die leer waren. Ein toter Vogel lag auf Zeitungspapier und es stank nach Urin. An der Wand standen Worte, die Roland nicht verstand, auf einer Konservendose war ein Etikett mit der Aufschrift Schnittbohnen.
Roland forschte weiter.
Im nächsten Raum erstarrte er.
Da waren Stimmen. Die Stimmen waren ganz in der Nähe. Er vermutete sie im angrenzenden Raum; Münder, Augen. Flucht! brüllte sein Verstand ihn an. Aber Roland hatte sich aufgebäumt in seinem Spiel. Und das nun sollte dazu gehören. Seine Brauen blieben streng. Nocheinmal verstärkte er den Griff um seinen Stock. Der Schutt unter den Schuhen knackte leise als er vorsichtig voranschritt. Sein Blick hing auf dem türlosen Durchgang zum nächsten Raum. Die Stimmen waren dumpf, dann hallte ein gemeines Lachen wider von den Wänden. Gestalten, dachte Roland, das Monster! Er atmete fast nicht. Dann hatte Roland die Wand erreicht und presste sich dagegen. Aus irgendeinem Grund dachte er an das Meer und daran, dass er Lem nicht gefüttert hatte. Das Lachen überlappte. Roland näherte sich dem toten Türrahmen. Ihm viel ein Muster auf in dem abgeplatzten Lack, der auf dem Holz lag. Auf einmal verstand er was die Stimmen sagten in dem anderen Raum. Jemand sagte: Denen schlag ich die Fresse ein! Eine andere Stimme: Diese Fötzchen, genau hier! Dann überlappte das Lachen. Roland wollte nicht mehr weiter. Er war sich sicher, dass in dem Raum das Monster saß. Er beschloss zu gehen. Seine Schritte waren etwas hastiger als zuvor und das Knacken darunter war lauter. Rolands Sinn war schon so weit auf dem Rückzug, dass seine Bewegungen das Hier und Jetzt vergaßen. Kaum hatte er den nächsten Raum durchschritten, da lief er fast.
Und dann hörte er seinen Namen.
»Jablonski!« rief eine Stimme hinter ihm.
Weil niemand seine Angst sehen durfte, blieb er stehen und drehte sich langsam um. Viel näher als er es gedacht hatte, kamen drei Gestalten auf ihn zu. Noch waren sie im anderen Raum. Roland erkannte voller Entsetzen die beiden Jungen, die auf ihn gespuckt hatten. Der dritte war kleiner und als er aus dem Schatten trat erkannte Roland Heinz-Jürgen Garrash.
»Was suchst du hier?« fragte Garrash.
Die Spucker sahen gefräßig aus. Beide hatten sie ganz schmale Gesichter und Roland fiel auf, dass die Augen des einen sehr weit auseinander standen. Wie die von Raubtieren, dachte er.
»Ich spiele nur«, sagte Roland, der, als er sich das sagen hörte, im gleichem Moment erkannte, wie blöd diese Antwort war. Das Monster lachte.
»Ach wie süß«, sagte ein Spucker, »er spielt nur, der kleine Wichser.«
»Hau besser ab«, sagte Garrash.
»Das ist unser Haus«, sagte ein Spucker.
Roland drehte sich um und ging. Er wusste, dass sie ihm nach kommen würden. Er befand sich in einem Taumel und er wusste um den Fall. Knackend hatte er die Stahltreppe erreicht, noch immer klammerte er sich an seinen Stock.
»Kleiner Wichser!« rief ihm einer hinterher.
Roland schritt bedacht die Stufen hinab. Er fand, dass man ein wildes Tier nicht reizen sollte, also besser nicht wegrennen. Aber als er auf dem Grund der Treppe angelangt war, begann er zu laufen. Er lief so schnell er konnte; was er hörte, war das staubige Rutschen seiner Schuhe im Geröll. Er lief um die Ecke an der Backsteinmauer entlang.
Und hier holten sie ihn ein.
Roland versuchte sich zusammen zu rollen wie ein Igel, aber er hatte keine Stacheln. Seine Hand ließ den Stock los und Roland schloss die Augen. Sie traten und schlugen auf ihn ein. Roland dachte an das Meer. Dieses Schhhhhh. Er konnte nicht sehen, dass Heinz-Jürgen Garrash etwas abseits stand und Angst bekam. Die Spucker waren jetzt auf ihm, das Monster brüllte aus dem Abfluss der Badewanne. Roland hörte nicht, dass Garrash etwas sagte.
»Ach lasst den doch«, sagte Garrash. Nach einer Weile sagte er: »Hört doch endlich auf.« Gegen Ende sagte er ganz leise: »Bitte.«
Wie lange er dort vor der Mauer gelegen hatte, wusste Roland Jablonski nicht, als er schließlich die Augen auftat. Er beobachtete einen kleinen Vogel, den er von hier unten gut sehen konnte. Er hockte auf dem Boden nicht weit entfernt und sah zu Roland herüber, wobei er lustig den Kopf hin und her warf. Dann flog der Vogel weg. Roland hatte Schmerzen, ganz besonders in der linken Seite und auf dem Kopf. Etwas fühlte sich warm und nass an. Es war nicht leicht aufzustehen. Als er stand, bückte er sich nocheinmal, wobei er sich den Kopf hielt, und hob seinen Stock auf.
Roland Jablonski blieb an der Backsteinwand stehen und weinte. Er hatte sich nass gemacht. Und Zorn wurde wach in ihm. Eine Dopplung des Zornes, den er schon kannte. Eine hundertfache Wut. Durch die Wut hindurch begann er das Rasseln in seiner Lunge zu fühlen. Er packte hastig an seine Tasche und spürte etwas Hartes dort, das Inhaliergerät war noch da. Er zog es heraus und presste seine Lippen daran und sog und sog. Aber es war leer. Eine Panik. Seinen Mund öffnete er weit um Luft ein zu saugen. Es war ein Gefühl als atme er durch einen verstopften Strohhalm. Er begann zu pfeifen, mit weit geöffnetem Mund, eine vertraute Melodie. Roland ließ den Stock fallen und stürzte voran den Hügel hinauf. Dabei hielt er sich die Seite. Sein Blick verengte sich als er auf den Wald zu fiel. In dem Wald schleppte er sich von Baum zu Baum, wobei er immer kurz inne hielt und nach Luft flehte.
Am Waldesrand fand er sein Fahrrad. Angeschlagen radelte er in das flache Land hinaus. Sein Weg führte Roland zum Meer zurück. Eine Sehnsucht nach Frieden.
Jenseits des Strandes ließ er sein Rad in den Sand fallen und ging geradewegs auf das Wasser zu. Und ohne Unterlass stieg er in die Wellen und als er keine Luft mehr hatte, tauchte er seinen Mund und seine Nase unter Wasser. Das Salz. Dieses Schhhhhhh. Es war überall und dann verschwand Roland Jablonski. Und tatsächlich war es ganz still dort. Ein Grinsen kam zurück in sein Gesicht, als er etwas feststellte.
Ich kann unter Wasser atmen, dachte er.