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Angst - Perspektive2

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09.06.2010
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Angst - Perspektive2

Herr Thomas Steiner stand nicht an seinem gewohnten Platz. Sein Lehrerpult wurde von einer seiner Schülerinnen besetzt, die sich bereits ihr Arbeitsmaterial zurecht gelegt hatte. Die Notizzettel, alle fünf im gewohnten A5-Formal, liniert und mit einer gut leserlichen Frauenschrift beschrieben, lagen genau zur Tischkante ausgerichtet vor der jungen Frau. Sie sah nach unten, schien ganz in sich gegangen zu sein. Die Körperhaltung war so angespannt, dass er bei jeder leichten Neigung ihres Kopfes ein leichtes Knacken, vom Nacken ausgehend, hören konnte. Ihre Finger hinterließen leichte Abdrücke auf dem Papier, dass sie seit der Pause betrachtete.
Angstschweiß.
Das Gefühl kannte er gut. Als er frisch vom Studium kam und seine Stelle am Gymnasium für Technik und Wirtschaft angetreten hatte, überkam ihm vor jeder neuen Klasse, vor jeder neuen Stundeneinheit diese Lähmung, die seine Muskeln verspannte und die Gedanken in ein Verlies weit hinter dem erreichbaren Sphären seines Kopfes einschloss. Wie oft stand er stammelnd vor diesen jungen Menschen, mit Angstschweiß auf der Stirn? Wie oft lachten sie ihn damals aus, machten kränkende Bemerkungen. Doch er war geblieben und hatte an sich gearbeitet, war gewachsen und ging nun vollends in seiner Arbeit auf.
Als das Klingeln erklang, welches die Stunde einläutete, saßen bereits alle auf ihren Plätzen. Es konnte los gehen.
Er räusperte sich kurz, wie er es immer tat.
"Guten Tag, meine Lieben. Jeder von Ihnen, sollte sich Gedanken zu einem literarischen Werk machen. Ob Roman, Kurzgeschichte, Gedicht oder Songtext hatte ich Ihnen frei gestellt. Frau Axmann wird den Anfang machen."
Er nickte der pummeligen Schülerin hinterm Lehrerpult aufmunternd zu und sah, dass sich Schamesröte auf ihren Wangen abzeichnete.
Danach ging er zur hinteren Bankreihe und setzte sich in die vom Schatten verdunkelte Seite.
Als er sie dort so stehen sah, die Hände an die Notizen geklammert, die Stirn fahl, die Wangen rot, wusste er das sich dieses Referat lohnen würde. Wie oft musste er zusehen, wie seine Schüler vor Selbstsicherheit strotzten und dann doch im wichtigsten Moment den Faden verloren und eine schlechte Note kassiert hatten. Aber er war sich sicher, dieses Referat würde gelingen, obwohl er nicht wusste, worum es gehen würde. Sie war die einzige Schülerin, die ihr Projekt im Geheimen gehalten hatte.
"Ich habe mir als literarisches Stück ein Gedicht ausgesucht. Dieses Gedicht habe ich selbst geschrieben."
Ihre Stimme war so leise und zittrig, dass er im ersten Moment dachte, er hätte sich verhört. Das war wirklich neu! Die meisten redeten über ihr Lieblingsbuch, brachten Songtexte mit und diskutierten darüber, wie der Klang zum Text passt. Aber in den gesamten zehn Jahre, die er hier war, war niemand auf die Idee gekommen, ein selbstgeschriebenes Werk zu präsentieren. Hastig griff er in seine rechte Hosentasche, in der er das Etui für die Lesebrille verstaute. Er nahm sie so leise wie möglich heraus und setzte sich auf die etwas zu große Nase.
Die Textzeilen des Gedichtes prangten bereits auf der weißen Wand. Vierzehn Zeilen, vier Strophen, zwei je vier Zeilen und im korrekten Reim, zwei je drei Zeilen, auch hier die Reimart stimmig.
Ein Sonett.
Er machte sich eine kurze Notiz und merkte, wie ihm selbst der Schweiß auf die Stirn trat, wie so lang nicht mehr.
Thomas spürte, die Stille förmlich auf der Haut und sie bereitete ihm Gänsehaut. Er hätte ihr gern geholfen, aber sie musste jetzt selbst dadurch.
Trotzdem kreuzte er die Finger seiner linken Hand, vielleicht würde es helfen.
Jemand las den Text vor, die Betonung war nicht ganz stimmig. Aber die Stimme war hervorragend gewählt. Sie war nicht zu laut und trotzdem hervorragend zu verstehen. Eine weitere Notiz auf dem Zettel.
"Zuhörer eingespannt" hatte er geschrieben, dahinter ein großes Plus.
Danach ging es rapide weiter und kaum hatte die Referentin ihre Fragen gestellt, begannen die Hände sich zu heben.
Sie hat es geschafft.
"Diskussion - Anspannung gebrochen, Interesse geweckt" schrieb er diesmal in seiner krakeligen Schrift aufs Papier und konnte sich ein stilisiertes, lachendes Gesicht dahinter nicht verkneifen.
Dann sah er wieder auf. Das schüchterne, ängstliche Bündel Mensch, dass noch vor zehn Minuten da vorn gestanden hatte, war verschwunden. Jetzt stand da eine junge Frau, aufrecht und sicher. Sogar ein Lächeln lag auf ihren Lippen, wärend sie die Fragen der Mitschüler beantwortete. Es war schön. Ihm fiel ein Stein vom Herzen, weil sie es wirklich geschafft hatte und es tat ihm schon fast Leid, das Referat nach weiteren fünfzehn Minuten abbrechen zu müssen, weil die vorgegebene Zeit erreicht war. Doch das Klatschen, welches sie zu ihrem Platz schweben ließ und ihre strahlenden Augen machten es wider wett.

 

Hallo MeInsideYou!


Zu beiden Versionen:

Wäre ich in Frau Axmanns Kurs, hätte ich wohl als Diskussionsbeitrag "Thema verfehlt" gesagt. Der Lehrer forderte: "Jeder von Ihnen, sollte sich Gedanken zu einem literarischen Werk machen." (Übrigens, das Komma ist fehl am Platz.) Frau Axmann macht stattdessen ein Stück Literatur selbst und fordert dann ihre Mitschüler auf, ihre Gedanken dazu zu äußern. (Dass der Lehrer das so toll findet, ist für mich nicht nachvollziehbar, nicht in der Oberstufe, in der sich die Schüler augenscheinlich befinden.)

Den Titel "Angst" finde ich für das abgelieferte viel zu stark. Ich lese da (besonders in Version eins) etwas von Lampenfieber (das natürlich zur Gruppe der Ängste gehört), aber "Angst" drückt für mich etwas Heftigeres aus.

Außerdem noch als Kritikpunkt (besonders zu Version eins): Es liest sich so, als müsste Frau Axmann das erste Mal (seit der dritten Klasse) vor der Klasse stehen und etwas vortragen. Das ist aber unglaubwürdig, denn meines Wissens kann man nicht Klassenbeste werden, wenn man nicht auch entsprechende mündliche Leistungen bringt.

Ich finde die Texte vom Thema her ein wenig unausgereift.


Zu Perspektive2:

Diese Version liest sich, als wärst du nicht wirklich am Protagonisten dran, bzw. als könntest du dich nicht recht in ihn hineinversetzen. Der Blickwinkel scheint mir verschoben. Beispiel: Der Lehrer denkt bestimmt nicht in dem Augenblick, als er seine Brille herausholt, unbedingt das Gedicht lesen will, daran, dass seine Nase ein wenig großgeraten ist.
Oder die "krakelige Schrift". Sie mag vielleicht für Außenstehende so wirken, aber nicht für den Lehrer, der so schreibt.


Noch eine Korinthenkacker-Anmerkung: Wie sollen vierzehn Zeilen handgroße Buchstaben (plus Zeilenabstände, und Leerzeilen zwischen den Strophen) an die Wand passen?


Grüße
Chris

 

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