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Angst
Als erstes kommt die Angst. Mit ihr muss man entweder leben oder sich für sie hassen. Sie ist dunkel in ihm drin, sie lässt sich nie verscheuchen. Sie vertreibt alles andere, lässt nicht mit sich reden, braucht Platz, breitet sich aus. Sie ist dominant, sie bestimmt alles. Manchmal kommt sie jeden Tag, manchmal nur einmal in der Woche, manchmal ein ganzes Jahr lang nicht. Er kann jedoch sicher sein, dass sie wiederkommt. Es ist das Kennzeichen der Angst: Wiederkehr. Man kann sich nicht von der Angst heilen lassen, er hat es versucht, das kannst du glauben. Sie kündigt sich an, bevor sie kommt, in all ihrer Aufdringlichkeit ist sie höflich. Sie kündigt sich an, als würde sie kurz bei ihm anklopfen und sagen ‚Ich bin noch da, du hast mich doch nicht etwa vergessen.‘ Das macht sie, damit er sich ganz auf sie konzentrieren kann. Damit er sich darauf einstellen kann, dass sie kommt, dass sie ihn in Besitz nimmt, dass er sich selbst verabschieden kann. Sie bestimmt von nun an. Sie ist seine Welt. Sie dringt in ihn ein und kontrolliert sein Inneres. Das tut sie solange, bis auch sein Äußeres sich ergeben hat und sie die vollkommene Macht über ihn hat. Bis sie ihn Dinge machen lassen kann, die er nicht will. Bis sie gemerkt hat, dass sie diesen Krieg gewonnen hat. Dann zieht sie sich wieder zurück und lässt ihn in seiner Ergebenheit und Schmach da liegen, wo sie ihn liegen lassen wollte. Und während sie geht, schaut sie sich noch kurz um und lacht ihn aus, so wie die Sieger die Verlierer immer auslachen. So als ob ihnen keiner mehr etwas könnte.
Als erstes kommt die Angst und als zweites kommt der Boden, der Boden auf dem er liegt. Verlierer stehen nie auf Tischen, es ist immer der Boden. Sein Boden ist dreckig, er ist staubig, ist eklig. Er muss dort die schlechte Luft einatmen und die Scham fühlen, die das einzige Gefühl ist, dass die Angst nicht mit sich genommen hat. Sie hat es extra dagelassen, das weiß er. Der Boden ist nicht nur sein Boden, es ist der Boden für alle und das macht es noch schlimmer. Andere sehen ihn am Boden liegen, sie wissen es, sie sehen es an seinem verschwitzten Rücken, an seinem roten Gesicht, an seinen gehetzten Augen, sie wissen, dass er besiegt wurde. Sie gehen vorbei, starren ihn an, überlegen, denken nicht daran, dass sie auch einmal am Boden lagen, sondern sind nur froh, dass er es ist und nicht sie. Der Boden ist sein einziger Freund geworden, denn er fängt ihn auf, auch wenn es sonst nichts mehr gibt. Der Boden ist sicheres Terrain, denn er bedeutet das Ende. Tiefer geht es nicht, er ist schon am tiefsten Punkt angelangt. Das weiß nicht nur er, das wissen alle, du vielleicht auch.
Als erstes kommt die Angst, als zweites kommt der Boden und als drittes kommen jene Gedanken. Jene Gedanken, die ihn wieder auferstehen lassen, schwächer und stärker zugleich. Er weiß nicht, woher sie kommen, sie sind einfach da. Sie lassen ihn nicht am Boden liegen, sondern helfen ihm auf, während sie ihn verspotten. Jene Gedanken, die nur kommen, wenn man am Boden gelegen hat, haben die Macht dazu, ihn wieder aufzurichten, ihm seine Würde wieder zu geben. Er ist in der Lage, den Dreck von seinem Gesicht abzuwischen, wäscht den Dreck von seinem ganzen Körper ab, aber besonders von seinem Gesicht, denn das ist das offensichtlichste. Er kann sich jetzt wieder tarnen, kann wieder bestimmen, was die anderen sehen sollen und was nicht, kann wieder anderen Gefühlen Platz machen. Das muss er auch, denn die Angst hat ein verdammt großes Loch hinterlassen.
Als erstes kommt die Angst, als zweites kommt der Boden, als drittes kommen jene Gedanken und als viertes kommt die Kontrolle. Er spürt sich wieder. Er spürt seine Beine und Arme, seinen Magen und sein Herz. Er spürt seine Haut, seine Haare, seinen Mund. Er spürt seinen Körper und kann ihn so bewegen und bestimme, wie er möchte. Der Staub vom Boden dringt nicht mehr in ihn ein, wenn er atmet, der hartgewordene Dreck kratzt nicht mehr an seinen Wangen. Er ist frei von fremder Kontrolle, er genießt das Gefühl, sich so zu geben, wie er sich geben will. Er muss nicht liegen, wenn er nicht liegen will. Er muss nicht rennen, wenn er nicht rennen will. Er muss sich nicht winden, wenn er es nicht will. Er muss nicht denken, wenn er nicht will. Er müsste nicht einmal atmen.
Als erstes kommt die Angst, als zweites kommt der Boden, als drittes kommen jene Gedanken, als viertes kommt die Kontrolle und als fünftes kommt die Wut. Die Wut darauf, dass die Angst ihn ein weiteres Mal befallen konnte, dass sie in ihn eindringen konnte, dass er am Boden liegen musste. Die Wut beherrscht einen ebenso wie die Angst. Sie will genauso zerstören wie die Angst, nur die Art des Opfers ist unterschiedlich. Er möchte rasen, er möchte wüten, er möchte alles Angestaute loswerden. Die Wut richtet sich gegen die Angst, gegen sich selbst, gegen alles, was ihn beschäftigt und betrifft. Irgendetwas muss zerstört werden, irgendetwas muss er zerstören, damit sie wieder von ihm ablassen kann. Der Unterschied zur Angst ist vor allem, dass er in all ihrer Kontrolle noch das Gefühl hat, selbst mit kontrollieren zu können. Daher mag er die Wut lieber als die Angst. In der Wut kann er kontrollieren, wen er verletzt. Er kann kontrollieren, wie lange er die Wut in sich behält. Indem er verletzt, lässt er sie raus. Manchmal verletzt er sich selbst, meistens aber andere, das macht mehr Spaß. Es ist eine Genugtuung, andere am Boden liegen zu sehen, zu wissen, dass der Dreck das Gesicht von anderen ziert. Dass andere jetzt alleine mit der Scham sind. Dass jetzt auch andere verloren haben. Dass er gewinnt.
Als erstes kommt die Angst, als zweites kommt der Boden, als drittes jene Gedanken, als viertes die Kontrolle, als fünftes kommt die Wut und als sechstes kommt der Frieden, der Frieden, der eintritt, wenn die Wut entwichen ist. Der Moment, in dem er alles weitergeben kann, ist der Moment, in dem er Frieden spürt. Frieden mit sich selbst und auch der Angst. Es ist der Moment, in dem er die Angst versteht, in dem er sich mit ihr anfreundet, in dem er sie mag. Es ist der Moment, in dem er weder Angst noch Wut verspürt, sich aber trotzdem mit beiden verbunden fühlt. Keine fremde Macht kontrolliert ihn und trotzdem ist ihm nicht wichtig, zu tun was er will. Er hat schon getan, was er will. Er verspürt eine volle Zufriedenheit mich sich, seinem Umfeld und allen Einflüssen, denen er sonst ausgeliefert ist. Er steht aufrecht. Er fühlt das Blut, das in seinem Körper angenehm kreist, die Muskeln, die nicht verkrampfen, sondern fröhlich kontrahieren, die Spannung, die nur so weit vorhanden wie nötig ist. Er hat gewonnen. Er gleicht der Angst, denn er sieht aus, als ob ihm keiner etwas könnte.
Als erstes kommt die Angst, die ihn einnimmt. Als zweites kommt der Boden, auf dem er liegen muss. Als drittes kommen jene Gedanken, die ihn wieder aufstehen lassen. Als viertes kommt die Kontrolle, die ihn sich selbst spüren lässt. Als fünftes kommt die Wut, dessen Macht ihm gefällt. Als sechstes kommt der Frieden, den man mit Gewinnen gleichstellen kann.
Und als siebtes kommt wieder die Angst.