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Angst

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24.02.2005
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Angst

Als erstes kommt die Angst. Mit ihr muss man entweder leben oder sich für sie hassen. Sie ist dunkel in ihm drin, sie lässt sich nie verscheuchen. Sie vertreibt alles andere, lässt nicht mit sich reden, braucht Platz, breitet sich aus. Sie ist dominant, sie bestimmt alles. Manchmal kommt sie jeden Tag, manchmal nur einmal in der Woche, manchmal ein ganzes Jahr lang nicht. Er kann jedoch sicher sein, dass sie wiederkommt. Es ist das Kennzeichen der Angst: Wiederkehr. Man kann sich nicht von der Angst heilen lassen, er hat es versucht, das kannst du glauben. Sie kündigt sich an, bevor sie kommt, in all ihrer Aufdringlichkeit ist sie höflich. Sie kündigt sich an, als würde sie kurz bei ihm anklopfen und sagen ‚Ich bin noch da, du hast mich doch nicht etwa vergessen.‘ Das macht sie, damit er sich ganz auf sie konzentrieren kann. Damit er sich darauf einstellen kann, dass sie kommt, dass sie ihn in Besitz nimmt, dass er sich selbst verabschieden kann. Sie bestimmt von nun an. Sie ist seine Welt. Sie dringt in ihn ein und kontrolliert sein Inneres. Das tut sie solange, bis auch sein Äußeres sich ergeben hat und sie die vollkommene Macht über ihn hat. Bis sie ihn Dinge machen lassen kann, die er nicht will. Bis sie gemerkt hat, dass sie diesen Krieg gewonnen hat. Dann zieht sie sich wieder zurück und lässt ihn in seiner Ergebenheit und Schmach da liegen, wo sie ihn liegen lassen wollte. Und während sie geht, schaut sie sich noch kurz um und lacht ihn aus, so wie die Sieger die Verlierer immer auslachen. So als ob ihnen keiner mehr etwas könnte.

Als erstes kommt die Angst und als zweites kommt der Boden, der Boden auf dem er liegt. Verlierer stehen nie auf Tischen, es ist immer der Boden. Sein Boden ist dreckig, er ist staubig, ist eklig. Er muss dort die schlechte Luft einatmen und die Scham fühlen, die das einzige Gefühl ist, dass die Angst nicht mit sich genommen hat. Sie hat es extra dagelassen, das weiß er. Der Boden ist nicht nur sein Boden, es ist der Boden für alle und das macht es noch schlimmer. Andere sehen ihn am Boden liegen, sie wissen es, sie sehen es an seinem verschwitzten Rücken, an seinem roten Gesicht, an seinen gehetzten Augen, sie wissen, dass er besiegt wurde. Sie gehen vorbei, starren ihn an, überlegen, denken nicht daran, dass sie auch einmal am Boden lagen, sondern sind nur froh, dass er es ist und nicht sie. Der Boden ist sein einziger Freund geworden, denn er fängt ihn auf, auch wenn es sonst nichts mehr gibt. Der Boden ist sicheres Terrain, denn er bedeutet das Ende. Tiefer geht es nicht, er ist schon am tiefsten Punkt angelangt. Das weiß nicht nur er, das wissen alle, du vielleicht auch.

Als erstes kommt die Angst, als zweites kommt der Boden und als drittes kommen jene Gedanken. Jene Gedanken, die ihn wieder auferstehen lassen, schwächer und stärker zugleich. Er weiß nicht, woher sie kommen, sie sind einfach da. Sie lassen ihn nicht am Boden liegen, sondern helfen ihm auf, während sie ihn verspotten. Jene Gedanken, die nur kommen, wenn man am Boden gelegen hat, haben die Macht dazu, ihn wieder aufzurichten, ihm seine Würde wieder zu geben. Er ist in der Lage, den Dreck von seinem Gesicht abzuwischen, wäscht den Dreck von seinem ganzen Körper ab, aber besonders von seinem Gesicht, denn das ist das offensichtlichste. Er kann sich jetzt wieder tarnen, kann wieder bestimmen, was die anderen sehen sollen und was nicht, kann wieder anderen Gefühlen Platz machen. Das muss er auch, denn die Angst hat ein verdammt großes Loch hinterlassen.

Als erstes kommt die Angst, als zweites kommt der Boden, als drittes kommen jene Gedanken und als viertes kommt die Kontrolle. Er spürt sich wieder. Er spürt seine Beine und Arme, seinen Magen und sein Herz. Er spürt seine Haut, seine Haare, seinen Mund. Er spürt seinen Körper und kann ihn so bewegen und bestimme, wie er möchte. Der Staub vom Boden dringt nicht mehr in ihn ein, wenn er atmet, der hartgewordene Dreck kratzt nicht mehr an seinen Wangen. Er ist frei von fremder Kontrolle, er genießt das Gefühl, sich so zu geben, wie er sich geben will. Er muss nicht liegen, wenn er nicht liegen will. Er muss nicht rennen, wenn er nicht rennen will. Er muss sich nicht winden, wenn er es nicht will. Er muss nicht denken, wenn er nicht will. Er müsste nicht einmal atmen.

Als erstes kommt die Angst, als zweites kommt der Boden, als drittes kommen jene Gedanken, als viertes kommt die Kontrolle und als fünftes kommt die Wut. Die Wut darauf, dass die Angst ihn ein weiteres Mal befallen konnte, dass sie in ihn eindringen konnte, dass er am Boden liegen musste. Die Wut beherrscht einen ebenso wie die Angst. Sie will genauso zerstören wie die Angst, nur die Art des Opfers ist unterschiedlich. Er möchte rasen, er möchte wüten, er möchte alles Angestaute loswerden. Die Wut richtet sich gegen die Angst, gegen sich selbst, gegen alles, was ihn beschäftigt und betrifft. Irgendetwas muss zerstört werden, irgendetwas muss er zerstören, damit sie wieder von ihm ablassen kann. Der Unterschied zur Angst ist vor allem, dass er in all ihrer Kontrolle noch das Gefühl hat, selbst mit kontrollieren zu können. Daher mag er die Wut lieber als die Angst. In der Wut kann er kontrollieren, wen er verletzt. Er kann kontrollieren, wie lange er die Wut in sich behält. Indem er verletzt, lässt er sie raus. Manchmal verletzt er sich selbst, meistens aber andere, das macht mehr Spaß. Es ist eine Genugtuung, andere am Boden liegen zu sehen, zu wissen, dass der Dreck das Gesicht von anderen ziert. Dass andere jetzt alleine mit der Scham sind. Dass jetzt auch andere verloren haben. Dass er gewinnt.

Als erstes kommt die Angst, als zweites kommt der Boden, als drittes jene Gedanken, als viertes die Kontrolle, als fünftes kommt die Wut und als sechstes kommt der Frieden, der Frieden, der eintritt, wenn die Wut entwichen ist. Der Moment, in dem er alles weitergeben kann, ist der Moment, in dem er Frieden spürt. Frieden mit sich selbst und auch der Angst. Es ist der Moment, in dem er die Angst versteht, in dem er sich mit ihr anfreundet, in dem er sie mag. Es ist der Moment, in dem er weder Angst noch Wut verspürt, sich aber trotzdem mit beiden verbunden fühlt. Keine fremde Macht kontrolliert ihn und trotzdem ist ihm nicht wichtig, zu tun was er will. Er hat schon getan, was er will. Er verspürt eine volle Zufriedenheit mich sich, seinem Umfeld und allen Einflüssen, denen er sonst ausgeliefert ist. Er steht aufrecht. Er fühlt das Blut, das in seinem Körper angenehm kreist, die Muskeln, die nicht verkrampfen, sondern fröhlich kontrahieren, die Spannung, die nur so weit vorhanden wie nötig ist. Er hat gewonnen. Er gleicht der Angst, denn er sieht aus, als ob ihm keiner etwas könnte.

Als erstes kommt die Angst, die ihn einnimmt. Als zweites kommt der Boden, auf dem er liegen muss. Als drittes kommen jene Gedanken, die ihn wieder aufstehen lassen. Als viertes kommt die Kontrolle, die ihn sich selbst spüren lässt. Als fünftes kommt die Wut, dessen Macht ihm gefällt. Als sechstes kommt der Frieden, den man mit Gewinnen gleichstellen kann.

Und als siebtes kommt wieder die Angst.

 

Ein Stilversuch nach einem bestimmtem Teil von Alessandro Bariccos 'Oceano Mare', Stil ist aber leicht verändert.
Sprich, du hast einen Teil daraus entnommen und es mit deinen Worten 'leicht verändert'? (Und was heißt 'leicht verändert'?, dass hier nur einige Wörter ausgetauscht wurden?)
Ich glaube, das ist nicht erlaubt.

 

nein,ich hab die form übernommen.
nicht das thema.
die form = als erstes das als zweites das als drittes das etc.
ich habe nur den stil übernommen. aber eben leicht verändert, da baricco das noch etwas anders nutzt.
wenn das nicht erlaubt ist, dann ist wohl dieses forum hier nicht erlaubt. hier geht es doch um schreibexperimente oder nicht?

 

Nee, solange der Inhalt nicht übernommen wurde, sondern nur die Form, geht das wahrscheinlich in Ordnung.
Aber ob das erste auch verboten ist, weiß ich nicht genau, aber das wäre nur richtig, schließlich müssen die Autoren auch arbeiten und nicht nur von anderen übernehmen.

 

naja.
ich will das ja nicht veröffentlichen. es ist komplett selbstgeschrieben.
die form ist einfach ein experiment.
andere experimente hier sind ja auch nicht alle selbst ausgedacht. meistens lässt man sich bei sowas doch von anderen texten inspirieren und möchte es selbst ausprobieren.
also hast du auch gedanken zu dem text ansich?

 

danke für die kritik jynx.
dass man das nicht in den ausgangspost schreiben darf, wusste ich nicht.
naja, wie du gesehen hast, habe ich es jetzt an das ende gestellt und etwas umformuliert. soll ich das nochmal ändern?

hm, mit dem absatz hast du recht.
ich mag die idee, die subjektive wegzulassen. andererseits wäre dann die relativ strenge form etwas aufgehoben. (also ich meine, dass immer das gleiche kommt mit einer ergänzung)
aber da werde ich trotzdem mal drüber nachdenken.
danke :)

 

Hey cloudburst!

So, ich hab anfangs nix zum Inhalt gesagt, weil ich dachte, man würde die Geschichte eh löschen, und mein Kommentar wäre dann umsonst gewesen. Der ist jetzt auch umsonst, aber wenigstens bleibt der diesmal. ;)

Ich mag die Geschichte auch - auch wenn sie eher eine Abhandlung über Angst ist, denn das Klassische der Kurzgeschichte ist da nicht enthalten, aber ist ja auch experimentell.
Der Stil macht hier eindeutig die Geschichte aus - Inhalt gefällt mir zwar auch, aber ist doch recht wenig, was mir da angeboten wird, der Stil rettet ihn - vielleicht sollte ich mal Barrico lesen.

Das Ende sollte so bleiben, finde ich. Ist nur das einzig richtige, weil es diesem strengen Verlauf folgt und konsequent bleibt. Wobei für mich siebtens eigentlich die Angst vor der Angst ist.

Hab dein Experiment gerne gelesen.

JoBlack

 

Hej cloudburst,

ich kenne 'Oceano Mare' nicht und weiß daher auch nicht, in welchem Zusammenhang da etwas ähnliches gemacht wird, finde aber, dass die von Dir gewählte Form wirklich gut zum Thema passt.
Überzeugend finde ich Dein Experiment vor allem, weil die Angst keinen Namen hat, als keine Angst vor etwas Bestimmten dargestellt wird.

Ich bin noch da, du hast mich doch nicht etwa vergessen.‘
Lese ich mit einem Fragezeichen am Ende.

dass er sich selbst verabschieden kann.
er sich von sich selbst? Nur so'n Vorschlag.

überlegen, denken nicht daran, dass sie auch einmal am Boden lagen,
dieses "überlegen" und gleich darauf das "nicht daran denken" wirkt auf mich merkwürdig, was überlegen sie denn, wenn sie ihn sehen?

kann ihn so bewegen und bestimme
bestimmen

Er müsste nicht einmal atmen.
Toll!

Den Absatz mit der Wut finde ich ungenau. Kontrollierte Wut, die mit der Angst verglichen wird, das gefällt mir nicht so gut, weil doch eins aus dem anderen resultiert, aus derselben Quelle stammt oder wie man das auch immer ausdrücken mag.

Als fünftes kommt die Wut, dessen Macht ihm gefällt.
...,deren Macht ihm gefällt.

Hat mir sehr gefallen!

Viele Grüße
Ane

 
Zuletzt bearbeitet:

<‚Ich bin noch da, du hast mich doch nicht etwa vergessen.‘<

Hallo & auch von mir ein herzliches Willkommen (noch kann man's ja),

liebe cloudburst,

da hastu Dich an ein heikles Thema gewagt und - wie ich finde gut dargestellt. Überwiegend kann ich mich den Vorrednern (Vorschreiber wäre denn doch das falsche Wort) anschließen.

"Angst" zählt zu den lebenswichtigen Gefühlen, denn sie schützt vor Gefahren/blinder Sorglosigkeit und sorgt somit für Aufmerksamkeit. Kinder haben Trennungsängste, Angst vor Dunkelheit. Mit dem Alter wächst die Angst vor Krankheit und Tod (sozial: Einsamkeit, wenn man alle andern überlebt als Variante zum eigentlichen T.) usw. Wird die Angst aber übermäßig & allmächtig, engt sie aber gehörig den Handlungsspielraum des/der Betroffenen ein. Die Panik kommt wie aus heiterem Himmel. Schweiß bricht aus, Herzrasen, Beklemmung/Enge erschweren das Atmen. Todesangst kann sich breitmachen, sich unserer bemächtigen und sich wiederholen. Wir sind nicht mehr unser eigener Herr etc., was Du auf gerade mal einer Manuskriptseite gut beschreibst.
"Angst" unterscheidet sich von der Furcht durch fehlenden/unbestimmten Objektbezug, ist grundlos. "Angst" gibt's nur im deutschsprachigen Raum (einschl. Niederdeutsch wie Niederländisch) , soweit ich weiß. Es stammt vom ahd. angust/mhd. angest, was auf die bereits genannte "Enge" anspielt. 1849 fand "angst" über George Eliot's >angst-ridden< Eingang ins Englische, wo heute "German angst" nicht ungebräuchlich ist ...

Die Abschweifung konnt ich mir leisten, insofern die Kleinkrämerseele in mir Urlaub nehmen konnte, da die Vorredner - insbesondere Ane - sehr fleißig waren, da unterlass ich es sogar mit den würde-Konstruktionen in Sachen Konjunktiv...

Der von mir verehrte Erich Fried schrieb einmal zum Thema

>Angst und Zweifel

Zweifle nicht
an dem
der dir sagt
er hat Angst

aber hab Angst
vor dem
der dir sagt
er kennt keinen Zweifel<

Gruß

Friedel

 

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