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Angstfresser
Henning sah aus dem Fenster. Der Zug eilte durch die Landschaft und kaum ein Bild von der Welt da draußen blieb in ihm zurück. Er war nervös. Zwei Wochen sollte er mit fremden Menschen zusammen leben, sprechen, sich austauschen und schließlich befreit und erfahren zurück kehren.
Es beginnt – wie so oft – urplötzlich. Ein Gedanke rast zum nächsten und das Gefängnis bricht auf. Bevor Henning es wieder verschließen kann, ist sie schon frei. Sie versteckt sich zunächst tief in seinen Eingeweiden, aber er weiß, dass sie dort nicht lange bleiben wird.
Viel zu hektisch stand er auf, bat seinen Sitznachbarn mit belegter Stimme um Verzeihung und hastete den Gang entlang auf die Toilette. Komischer Junge, dachte der Nachbar und wandte sich wieder seinem Buch zu.
Sie hangelt sich langsam die Eingeweide hoch. Sie weiß genau, wo sie hin muss – sie kennt den Weg. Henning ist schwach, er kann sie doch nicht aufhalten, deswegen hat sie Zeit – viel, viel Zeit. Nach einigen wilden Schwüngen erreicht sie den Magen, krallt sich fest, zieht sich hoch, drückt und schiebt sich weiter, die Kehle hoch, in die Arme, in die Fingerspitzen. Sie überflutet Henning.
Henning blickte in den Spiegel und fixierte sein eigenes Auge. Er atmete hektisch und unregelmäßig. Ein Gedanke kehrt immer wieder und wieder zurück: Oh Gott, hilf mir, hilf mir, hilf mir ...
Doch Er half nicht und sie gewinnt und Henning wird Angst und Flucht und Tier.
Henning stand am Strand und blickte hinaus auf das offene Meer. Zwei Tage waren schon vergangen und die Zeit angefüllt mit Gruppensitzungen, sportlichen Betätigungen, Entspannungsübungen und Einzelgesprächen. Henning nahm still an allen teil und sprach nur, wenn es nicht anders ging.
Auf dem Weg zum Strand hatte er Kiesel gesammelt und nun warf er sie einen nach dem anderen ins Meer hinein. Er genoß die rauschende Brandung und verfolgte die Wellen, bis sie sich brachen und den Sand dunkel färbten und schließlich verschwanden. Er schloß die Augen, um die Geräusche für sich alleine zu haben und stellte sich vor, Teil des Meeres zu sein, aufzugehen in der Unendlichkeit, um zu treiben ohne Richtung.
„Es kann einen hypnotisieren, wenn man nicht aufpasst.“
Henning öffnete die Augen und drehte sich zu der Stimme um. Neben ihm stand ein junges Mädchen mit braunen Haaren, die zu einem kurzen Pferdeschwanz zusammen gebunden waren, und auf das Meer hinausblickte.
„Es läßt einen nich mehr los,“ sagte sie, „und man muss sich irgendwann zwingen, wegzusehen, findest du nich?“
„Ich weiß nich, ich – ähm – vielleicht.“
„Gibst du mir einen?“
„Hm?“ Henning war verwirrt. Immer noch blickte er sie von der Seite an. Wortlos zeigte sie mit ihrer Hand auf die Seine, in der er immer noch seine Kiesel hielt.
„Oh, du meinst die Steine. Ich – ja, natürlich.“ Sie drehte sich zu ihm um und ihre Blicke trafen sich. Er warf ihr einen hin, sie fing ihn auf, ohne Henning aus den Augen zu lassen und wandte sich wieder dem Wasser zu.
„Es ist wie mit diesen Brunnen in Italien, in die man Geld wirft. Man muss sich was wünschen, sonst bringt's nichts.“
„Ich hab mir nie was gewünscht“, sagte Henning.
„Ja.“ Sie lachte leise, holte aus und warf den Stein weiter ins Meer hinein, als Henning vermutet hätte.
„Du bist neu hier, oder?“, fragte sie.
„Ja. Und du?“
„Bin schon das vierte Mal da.“ Sie trat näher zu ihm und nahm diesmal einen Stein aus seiner Hand, ohne zu fragen. „Is gar nich so übel hier, man gewöhnt sich dran. Wieviele Panikattacken kriegst du denn?“
„Ich weiß nicht, eine pro Woche oder so.“
„Hey, gar nicht schlecht für 'nen Anfänger“, lachte sie und warf ihren Stein. „Ich verrate dir ein Geheimnis.“ Sie trat ganz nah an Henning heran. „Das Meer is immer hungrig nach Steinen. Es will dauernd fressen, man kann nie genug Kiesel reinschmeissen. Wenn man dann keine mehr hat, muss man seine Angst nehmen.“
Sie blickte Henning an und beide lächelten.