- Beitritt
- 22.11.2005
- Beiträge
- 993
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 27
Angstkinder
Einzig die Zuckerwatte, die sie mit ihrem zierlichen Mund so beherzt zerfleischt, ist weich genug um von ihr verschlungen zu werden.
Ihre Eltern schneiden ihr bestimmt die Kruste vom Brot, dass sie sich keine Milchzähnchen daran ausbeißen könnte.
Sie ist glücklich mit ihrer Süßigkeit; den Stiel in der einen, die andere Hand von Vaters umfasst, lässt sie sich dann durch den Tumult bestimmen, genervt ziehen, achtet nicht auf die Knie, die vor ihrem Gesicht, pudrig, zur Seite einlenken, stolpert hier und da und bleibt mit den Gedanken doch bei ihrer Leckerei, in der ihr kleiner Kopf schon fast eintaucht als wäre es anstrengend.
Ihre Eltern reden nicht, finden keine Lust, sind nur wegen ihr hier und genervt, warten auf das nächste Quengeln, vor den Ponys oder den gebrannten Mandeln und dass sie müde wird, von der Hektik und den Karussells.
Heute morgen ist sie hingefallen, meine süße Anna, hatte sich den Ellenbogen geschlagen, kam dann zu mir an den Zaun gelaufen und ich habe gepustet, schnell; denn sie darf nicht an den Zaun, das darf kein Kind, und ist dann zurück zum Hort, hatte gesagt, ich sei ihr Onkel. Das ist ein Geheimnis zwischen Anna und mir und sie kann Geheimnisse für sich behalten, meine hübsche Anna.
Da hat sie mir erzählt, von der Kirmes, den Ponys und der Zuckerwatte, die sie essen wolle, wenn sie dort ist, mit ihren Eltern.
Sie erzählt mir immer alles, aber ich darf es nicht weitersagen, und sie auch nicht, dass sie mit mir redet. Anna und ich sind nämlich Freunde.
Ich habe großes Glück, sie gefunden zu haben, rieche sie, kann sie riechen, will sie, will sie jetzt, noch heute; ich kann nicht mehr warten.
Jetzt will sie Kettenkarussell fahren, doch die Eltern zerren sie weiter; sie weint und zieht entgegen, lässt sich auf den Boden plumpsen, wird auf den Arm gehoben; nicht geredet, sondern bestimmt wird, und sie setzen sich ans Zelt, Vater trinkt endlich sein Bier, Mutter ein Wasser und Anna möchte nichts, ist jetzt schmollig und lässt sich nicht einmal mehr ihre blonden Haare aus dem verschmierten Gesicht streichen.
Ich warte, esse eine Currywurst, und beobachte Anna wie sie herumtapst, die Umgebung erforscht, das Kettenkarussell bestaunt und sich ihre Tränen aus dem Gesicht wischt. Ihre Eltern haben Bekannte getroffen, finden wohl doch noch Spaß und Tratsch, und verlieren ihr Kind immer mehr aus den Augen, lassen sie jetzt spielen und herumlaufen.
Sie winkt mir jetzt zu, ist sichtlich erfreut. Ich winke ihr zurück und herbei, lasse meine Wurst liegen, und endlich ist kein Zaun mehr zwischen meiner Anna und mir, keine Kindergärtnerinnen; nur viel zu viele Menschen, die sich aber nicht um uns scheren.
Anna erzählt vom Kettenkarussell und von Zuckerwatte, und ich kann sie berühren, über ihre samtenen Haare streicheln, ihre Haut und der Geruch von Penaten war noch nie so nah.
„Ich habe ein Karussell in meinem Haus“, sage ich ihr. Anna glaubt mir alles, denn ich habe ihr schon viel erzählt, da ist ein Karussell nichts neues.
Sie sagt, sie müsse erst ihren Eltern bescheid sagen, doch ich kann sie umstimmen.
Wenn wir da sind, darf sie so lange und so oft fahren wie sie möchte und ich kann es auch noch schneller stellen, verspreche ich ihr. Und außerdem wären wir schnell wieder zurück, das werden die Eltern gar nicht bemerken.
Anna zögert nicht und ergreift meine Hand. Was für ein Gefühl.
„Warum hast du ein Karussell?“
„Weil niemand mit mir spielen will. Da hab ich mir mein eigenes Karussell gekauft.
...
Ich habe mal auf einem Jahrmarkt gearbeitet. Ich war Karussellbremser.“
„Hast du daher deine Narben?“
„Nein, die habe ich aus dem Gefängnis.“
„Warum warst du im Gefängnis?“
„Weil ich immer alle Kinder umsonst fahren lassen habe.“
„Hmmm.
...
Sind wir gleich da?“
„Ja. Nur noch dort um die Ecke.“
„Meine Eltern machen sich bestimmt Sorgen.“
„Ich habe einen eigenen Jahrmarkt im Haus!“
Anna lacht. „Nein, hast du gar nicht!“
„Du wirst es ja sehen. Ich habe ein Karussell und eine Geisterbahn.“
„Mehr nicht?!“
„Das reicht doch wohl. Die Geisterbahn ist so gruselig, ich weiß noch nicht, ob ich dich da reinlassen kann. Ich glaube, dafür bist du noch zu klein.
...
Aber vielleicht können wir ja eine Ausnahme machen.“
Anna lächelt und springt herum.
Dann sind wir da. Wir stehen vor der alten Lagerhalle.
„Du wohnst in einer Fabrik?“
„Es ist eine Spaßfabrik. Oder hast du etwa Angst? Wenn du jetzt schon Angst hast, dann gehen wir besser zurück.“
„ICH HABE KEINE ANGST!“
„Na dann komm mal auf meinen Arm und mach die Augen zu. Und du darfst sie nicht eher aufmachen, bevor wir da sind. Versprochen?“
„Versprochen.“
Anna ist mir so nah, so nah! Ich wollte eigentlich kein Kind mehr mit hierhin nehmen, aber Anna ist so außergewöhnlich, so einzigartig in meiner Sammlung. Aber das sind sie alle, das sind sie alle. Es wird mein letztes Mal sein; sie werden mich finden, und meine Lagerhalle, und dann werden sie mich ein für alle Mal wegsperren. Anna wird die letzte sein. Ich sollte es genießen.
Sie umklammert mich, bekommt Angst, süße Kinderangst, wenn sich die Spinnenweben um uns legen, ich Paletten beiseite schaffe und die Fackeln entzünde. Anna hat Gänsehaut. Ich kann mich nicht mehr zurückhalten; ich habe sie für mich, für mich ganz allein.
Sie beginnt zu schluchzen, macht die Augen aber nicht auf, mittlerweile aus Angst, und flüstert ein zartes „Mama“ vor sich hin.
In meiner Hosentasche reibe ich meine Klinge ans Bein; endlich habe ich wieder niedliche Kinderangst in meinen Händen.
„Anna. Aaaannnnaaa. Du kannst deine Äuglein jetzt aufmachen,“ flüstere ich in ihr Ohr und berühre dieses dabei mit meinen spröden Lippen.
Ihre Augen sind verklebt von der Tränenflüssigkeit, die ihr angsterfülltes Gesicht übernetzt, und sie muss das kleine Kinderkarussell in der Mitte des fackelscheinerfüllten Raumes nur verschwommen wahrnehmen können.
Es ist ein kleines, portables und altes Karussell welches nicht mehr funktioniert, und fünf bunte und verniedlichte Tiere lachen das Hinterteil der Vorderfigur an. Ein Elefant, eine Maus, ein Nashorn, ein Tiger und ein Pferd.
„Gefällt es dir?“
Anna scheint sich tatsächlich zu sammeln, heult nicht mehr und starrt das verstaubte und rostige Kinderkarussell an, sagt aber nichts. Ich kann ihre Angst riechen.
„Sascha sitzt am liebsten auf der Maus.“
„Sascha?“, fragt sie und schaut mich an.
„Ja, Sascha. Er ist dort drüben in der Ecke.“
Und schon merke ich, wie Annas Angstspiegel drastisch nach oben steigt, wie sie panisch wird, das Blut zu kochen beginnt, - sie sieht die Kette die Sascha um den Hals hat und die fest in der Wand verankert ist, die das Fackellicht reflektiert – sie beginnt zu zittern, erst langsam, dann immer schneller, denn sie sieht wie sich der kleine Junge in seinem „Bett“ aus Stroh, Urin, Kot und Blut rekelt und Anstalten macht, uns endlich zu bemerken; als würde er aus einem Koma erwachen.
Wie ein Nachttier scheint er das Feuer zu verabscheuen, gebärt sich, als würde er versuchen zu schreien, und hat vergessen, dass ich ihm die Zunge rausgeschnitten habe.
Vor ihm ist seine Schüssel mit zermanschten Brot und mehrere Flaschen Pepsi.
Das Geräusch der schweren Kette durchkratzt den Raum und Anna ist steif geworden, als hätte sie gerade den Tod gesehen.
Dann höre ich Stimmen. Annas Name durchdringt kaum merklich den Beton. Ich höre Paletten rumpeln.
Anna schreit als würde sie verbrennen, schreit lange und schrill. Jetzt ist die Fabrik für einen Moment still. Dann jagen sie die Treppen hinunter. Für mich gibt es keinen Ausweg mehr, keinen anderen Ausgang. Ich hole mein Messer aus der Tasche. Anna kann jetzt ruhig schreien. Sie schwitzt.
Ich packe sie fest und schneide ihr einen Riss in ihre Handfläche, dann in meine, und presse unsere Hände aufeinander. Anna wird ohnmächtig.
Gleich werde ich mir das Messer mehrmals und kraftvoll in meinen Bauch rammen. Aber in der Angst, die Anna, Sascha und die anderen ihr Leben lang in sich tragen werden, werde ich weiterleben.
Viele haben mich schon verlassen, weil sie Kinder wollten, Mütter werden wollten. Nur konnte ich diesen Wunsch nicht erfüllen. Ich kann mein Leben nicht in eine neue Generation schenken. Neben den Genen ist es nur noch die Angst, die man ein Leben lang mit sich tragen kann. Und ich bin mit sicher, dass Anna, Sascha und die anderen, meine Angstkinder, mich für immer in sich tragen werden.