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Angust
Angust
Es fürchtete sich, wollt' nicht weg. Nicht ins, nicht ans Licht. Hing an seinem Heim wie die Zecke am Wirt - ob der will oder nicht. Das Früchtchen liebte diesen Ort. Kannte eh keinen andern. Hier fand sich alles zum Leben: Wessen es bedurfte, kam ihm zu - wie von selbst. Kostete nichts. Also drängte es ihn nicht, den Ort zu verlassen. Wer hätte schon das Paradies freiwillig verlassen? Oder das Schlaraffenland.
Doch eines Tages geschah, was der Balg nicht verstand. Der Mutter Mund behauptete, 's wär an der Zeit, den Ort zu verlassen. Selbständig zu werden. "Aber ich fühl mich wohl, Mama", jammerte der Balg. "Lass zusammen uns bleiben!" Doch der Mutter Mund spie ihn aus: "Du musst hinaus ins richtige Leben!" "Aber Mama!", rief erstaunt der Balg, "war unser Leben falsch?"
"Wie könnte unser Leben kein richtiges gewesen sein?", fragte der Balg und verirrte sich in Zweifeln. "Mama, warum hast du mich verlassen?" Das grelle Licht der Erkenntnis blendete ihn. Wie er sich nach Mäßigung und Eindeutigkeit sehnte, lernte er den Zweifel hassen. Gegen alle Erkenntnis setzte der Balg sich eine dunkle Brille auf - auch zum Schutz vor den Blicken der andern, die auf einmal um ihn und Mama herum waren. Mama und der Balg waren nicht einzigartig. Die Welt bereitete nichts denn Angst und Bange. Daher kam dem Balg auch Name und Geschlecht: Angust und Bängel.
Langsam wurd es auch in Angusts Kopf hell. Erinnerte sie sich der Heimat, schüttelte es sie nun. Wie konnte sie sich wohlgefühlt haben zwischen Blase und Mastdarm in direkter Nachbarschaft von Harn und Kot? Man hatte sie von Beginn an belogen und betrogen. Mutter Mund tut keine Wahrheit kund! Ohne ein "A dieu" sagte Angust von der Mutter sich los, wünschte die Mutter zum Teufel und das Leben mitsamt der Welt gleich hinterher. Welchen Sinn hätt das Leben. Morgens hineingeschlüpft in Schuh und Kleid und wieder hinaus geschält aus Kleid und Schuh abends. Nicht jede findet ihren Leonce, nicht jeder eine Lena ...
Alles schien verloren zu sein, was vordem sie geschätzt hatte. Angust dachte ans Ende. Seit sie die Heimat verloren hatte, war sie nicht sicher. Wie also sollte das Ende erreicht werden? Angust konnte kein Blut sehen, da würde ihr flau und das Abenteuer des Abschieds wäre abgebrochen, bevor es richtig begonnen hätte. Viele Wege waren ihr zu ihrem Ende damit verwehrt. Einfach ins Wasser zu gehen taugte nicht, sie war eine begnadete Schwimmerin. Zudem wäre Ersticken kein angenehmer Tod. Aber alle Methoden könnten fehlschlagen: ein Strick könnte reißen. Die Feuerwehr sie auffangen usw. usf., dass wir nicht ins Detail gehen wollen und es uns in die Depression triebe, dass wir Hand an uns legten.
Eines Tages hörte Angust von einem Initiationsritual auf einer fernen Insel im Südpazifik. Da war die Lösung ihres Problems! Die konnte nur in der Verquickung zweier todsicherer, zudem unblutiger Methoden liegen und noch schöner wäre: sie reifte eben dadurch zu ihrem Ende zum Manne! Würde ein ganzer Kerl, streifte den Bängel ab.
Heute nun hat Angust sich ein Herz und ein Seil geronnener Wolfsmilch gepackt und genommen. Mit ihrem Freund besteigt sie den höchsten Turm der Stadt. Einmal noch schaut sie sich um, herab auf die Welt, pfeift auf die armseligen Kreaturen dort unten. Ein letztes Mal.
Angust wird ganz anders. Der Freund legt Hand an, hilft Angust ans Seil. "Mir ist angst und bang", zittert Angust. "Ist es das wert?" Der Freund und Helfer unterbricht: "Noch können wir's lassen", sagt er beruhigend. "Du brauchst dich aber nicht zu fürchten, Angust. Gleich hast du alles überstanden und wer weiß, ob danach nicht alles schöner ist als hier. Vielleicht winkt das Paradies ..."
Angust schließt die Augen. Springt. Vierzig oder mehr Meter tief.
Wie das Ende des Seils erreicht ist, knackt's im Fußgelenk und Angust fährt auf -
himmelwärts ...