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Anjuscha und Sam
Neun Mal schlug der Klöppel. Langsam schwang die Glocke, drehte still, schwang vor und zurück. Ein paar Sternenlichter oben am vergessenen Himmel und unten am Strand flackerten vereinzelt ein paar Laternen. Der Strand war leer. Auf der Strandstraße fuhr nur hin und wieder ein Auto, einsam.
Folgte man der Strandstraße nach Osten, so schlängelte sie sich an alten Hütten vorbei, vorbei an schlafenden Hunden, vorbei an versteckt liegenden Clochardsi.
Und weiter hinten, wo die alten Kräne waren stieg qualmend dünner Rauch aus verlassenen Fabrikschornsteinen. Autoreifen lehnten an bröckelnden Wänden, rostige Eisenstangen daneben. Glucksendes Wasser. Tief, unheimlich. Irgendwo draußen schwammen wohl ein paar Wasserleichen. Niemand interessierte es.
Und dann, noch hinter den alten Kränen lag Mystique, die Kneipe hinten am allerletzten Kran,am Ende der staubigen Straße. Mystique - die Station vor dem Nichts und der einsamen Nacht.
Ein dünner Backenbart zog sich bis vorne zu seinen Mundwinkeln. Schwarz die Augen, schwarz das Haar. Zusammengewachsene Augenbrauen. Vielleicht fünfunddreißig Jahre alt, ungefähr einsfünfundachtzig groß und 180 Pfund schwer. Man sah es Dimitri. Er hatte sein großes kariertes Hemd an, dass sich über seinem Bauch spannte. Fettflecken darauf, seine fettigen Finger wischten achtlos darauf herum. Kam ein Besucher, sah ihn Dimitri durchdringend an. Schnell. Hart. Dimitri sprach nicht viel. Er handelte. Alle wussten es. Und es war gut.
Hinter dem Tresen verlief ein Flur zu mehreren Türen. Manchmal trafen sich ein paar Freunde Dimitri's dort in einem der Zimmer. "Gentlemen", sagte Dimitri räuspernd, wenn einer fragte. Mehr sagte er nicht. Er räusperte sich immer und seine Augen schillerten dann. Man fragte nie weiter.
An jenem Abend musste Sam einen Brief an meine Frau schreiben.
"Ja", hatte Dimitri gesagt und sich geräuspert. "Ne halbe Stunde, Sam, klar?".
Im Raum hingen Masken. Masken aus Holz, oft mit rotem und goldenem Anstrich, mit ovalen Punkten. Sam dachte an die Sonne über den Feldern. Er dachte an den Blitz. Der Nordost hatte das Feuer angefacht. Nur ein paar Holzbalken waren übriggeblieben. Der Teddy von Elizabeth.
Sam hatte Whisky getrunken. Seine Frau war zu den Eltern geflohen. Sam hatte noch mehr Whisky getrunken.
Absätze klackten. Sam sah in weiße Augen, weiße Zähne, in ein schwarzes Gesicht. Sie stellte das Bier hin. Sam nahm einen Schluck. Sie machte einen Strich. Die Absätze entfernten sich.
Er schrieb den Brief, steckte ihn in die Innentasche seiner Jacke. Er fühlte das Metall. Gestern hatte er die Waffe erstanden. Sein Leben war anders geworden. Ein Revolver. Elizabeth hätte es nicht verstanden. Eine Träne lief seine Wange hinab. Er hatte keine Hoffnung, dass sie wieder kam. Er wischte sich die Träne ab, trank einen Schluck, schaute auf die Masken. Stickig war die Luft hier unten. Er nahm noch einen Schluck, das trocknete die Kehle, hob den Geist, da sah er einen Schatten.
Sam tastete nach seiner Pistole. Der Schatten Wand setzte sich in Bewegung. Sam wurde heiß. Eine Ewigkeit verstrich. Langsam bewegte sich der Schatten, behutsam. Sam spannte den Abzug.
Sam schaute in blaue Augen. Sein Finger fest am Revolver. Sie hatte blonde Haare. Ihre Haut wie weiße Tauben.
"Hi, Taube", räusperte sich Sam. "Du hast mich erschreckt."
Sie schaute ihn an.
"Ja, Mister", antwortete sie mit einem versteckten Lächeln.
Sie setzte sich an seinen Tisch.
"Anjuscha", sagte sie. "Anjuscha, heiße ich. Wenn die Sonne scheint, glänzen die Kuppeln golden, glänzen klar in Russland", sagte sie leise und rauh.
Sam lauschte. Ihr"r" klang wie das Gurren von Tauben.
"Ich komme aus Alabama, Täubchen. N paar tausend Meilen von deiner Heimat weg!"
Anjuscha schaute ihn mit großen Augen an, ihr Haar schimmerte sanft.
Die Schwarze kam wieder. Anjuscha bestellte Rotwein.
"Eine lange Geschichte, mon Americaine,", sagte sie und schaute ihn traurig an. "Lange Geschichten haben wir alle", sagte Sam mit einem harten Unterton.
"Manche Geschichten bringen auch Geld ein."
Anjuscha lächelte ihn an. "Ich bin nicht so eine", sagte sie. "Jedenfalls heute abend nicht."
Sie nahm einen Schluck Rotwein.
"Lensk, meine Heimatstadt liegt in Sibirien. Die Winter sind dort kalt, und die Sommer sehr heiß. Ich liebe Sibirien", sagte sie. Ihre Stimme leise, rau, sehnsuchtsvoll.
"Hast du Feuer?", fragte sie dann.
Sam gab ihr sein Feuerzeug.
"Licht macht die Welt heller", sagte sie und machte das Feuerzeug an.
"Die Dunkelheit kommt ganz von alleine!"
Sie zog ein paarmal.
"Hör zu, Sam! Ich will von Wladimir erzählen. Wladimir war mein Freund."
"Viele, die hier in den Kneipen sitzen und trinken, waren früher einmal bei der Fremdenlegion", sagte sie. "Dimitri vorne auch. Er kommt aus Griechenland. Wenn du bei der Legion warst, hast du keine Wurzeln mehr, sagen alle."
"Nur der teuflische Teil der Seele, bleibt."
Die Farbige kam wieder, stellte Rotwein und Bier hin, machte ein paar Striche auf die Deckel und verschwand.
Anjuscha schaute ihr hinterher, wie in Gedanken. Dann schaute sie auf Sam. Wieder verzog sich ihr Mund zu einem Lächeln.
"Wladimir und ich kamen von Russland, weil wir glaubten, es gäbe hier Arbeit und Geld. Doch Wladimir bekam keinen Job. Er trank Wodka damals. Nach ungefähr einem halben Jahr bekam er einen Job in einer kleinen Werkstatt. Doch etwas machte ihn krank und unglücklich, ich weiß nicht was es war. Ich glaube, er dachte an das Geld, und dass es zuwenig für uns beide sei. Vielleicht hatte er Heimweh. Es war da eines Tages noch eine andere im Spiel. Ich habe es nicht herausgefunden. Jedenfalls wollte Wladimir kurze Zeit später zur Fremdenlegion. Ich dachte, das geht vorüber, aber ich täuschte mich.
"Anjuscha", sagte Wladimir, "bleib du in Marseille! Ich heirate dich nach der Legion. Ich kann dann Franzose werden!" Ihre Stimme wurde dunkel. Sie trank.
"Doch jetzt fliegt seine Seele hier irgendwo nachts in Marseille umher. Das tun die Seelen, wenn sie wegen der Legion sterben. Der Himmel nimmt sie nicht auf!"
"Ist Wladimir bei der Legion gestorben?", fragte Sam.
"Ja und Nein!" sagte Anjuscha leise. Sie hob ihr Glas und trank in großen Schlucken, dann setzte sie ab.
"Wladimir hatte sich Geld für die Überfahrt verdient“, fuhr sie fort. „Eines Nachts ist er mit seinen Freunden auf das Schiff gegangen. Niemand hat es später wieder gesehen.
Vor ungefähr einem Jahr soll man den Kapitän gesehen haben. In Port Said hätte er ein großes Warengeschäft gekauft, obwohl er vorher nie Geld gehabt hätte.
Anjuscha trank. "Selina - die, die uns hier bedient - hat ihren Liebsten auch bei der Legion verloren. Es war ein Jahr bevor Wladimirs Schiff verschwand. Unten in Djibouti soll es irgendwelchen Ärger mit Matrosen gegeben haben. Das Schiff lag zwei Tage im Hafen. Ihren Verlobten haben sie drei Wochen später mit Messern in Bauch und Rücken tot neben einem alten Verladekran gefunden. Nackt und blutüberströmt. Niemand kümmert sich um die, die auf das Schiff gehen."
Anjuschas Worte hatten Sam ernüchtert, sein Bier hatte er nicht mehr angerührt.
"Hör zu", sagte er, "das ist eine böse Geschichte. Aber ich will auch auf das Schiff. Ich habe alles verloren, Anjuscha. Meine Frau, mein Kind, meine Farm. Nur durch einen verdammten Blitz in einer einzigen verdammten Nacht. Mein Haus verbrannte. Meine Familie flüchtete zu ihren Eltern. Ich weiß nicht, ob sie auf mich warten. Aber ich will es versuchen, vielleicht kommen sie zurück. Hör zu, ich kann nicht ohne das alles sein. Das ist kein Leben für einen Farmer wie mich. Ein Farmer braucht sein Land, er braucht eine Frau und er braucht Kinder."
Anjuscha lächelte ihn an. "Ich dachte es mir schon, dass du fort willst. Dein Gesicht sagte es mir!"
"Mein Gesicht?", fragte Sam.
"Ja, Sam, in deinem Gesicht sind viele ungelöste Fragen und auch viel Traurigkeit. Solche Menschen nehmen das Schiff heißt es."
Sam schwieg. Konnte man schon wirklich so viel in seinem Gesicht sehen?
"Das Schiff zu nehmen, Sam, ist aber das gleiche wie Abschied zu nehmen", sagte Anjuscha. „Abschied – für immer. Verstehst du? Wer Abschied nimmt, geht in ein anderes Leben, Sam. Das alte Leben verschwindet! Niemals machst du dort weiter, wo du aufgehört hast. Und wenn du in der Legion warst, erst recht nicht."
Sam schaute sie nachdenklich an. Die Gedanken kreisten in seinem Kopf. Es spürte wieder, wie schwer es war, auf sich allein gestellt zu sein und Entscheidungen nur für sich zu treffen. Manche Entscheidungen konnten auch einfach falsch sein. Einfach, weil man sich alles im Kopf ausgedacht und mit niemandem darüber gesprochen hatte. Im Denken war er nicht so gut. Sein Leben war die Farm, die Erde, die Ernte.
"Nimm das Schiff, Sam", sagte Anjuscha, "aber deine Frau und dein Kind werden ganz anders leben als du. Ganz anders! Niemand passt nach dieser Zeit mehr zum alten Leben. Du erlebst Dinge, die niemand versteht. Grausige Dinge. Man passt am besten zu den anderen Legionären, sagen sie hier. Ich aber werde hier am Hafen bleiben, Sam, und vielleicht von dir hören, wenn sie dich aus einem Hafen fischen oder wenn du in der Wüste gefunden wirst. Und wenn du lebend zurückkommst, wirst du auch keine Frau mehr in mir sehen, sondern nur eine Prostituierte, die du für die Liebe bezahlst."
Die Wellen brandeten leise und der Himmel war sternenlos. Das Schiff mit den schmutziggelben Fenstern war unter tiefliegenden, schwarzen Wolken in den Hafen eingefahren.
"Von hier aus schaue ich immer, wenn das Schiff kommt und wenn es fährt. Ich bete für ihre Seelen", hatte Anjuscha ihm zugeflüstert. Sam rauchte. Sein Entschluss mit dem Schiff zu fahren, war ihm plötzlich unüberlegt erschienen. Anjuschas Worte waren so klar, so logisch, so einfach. Zwischen den vielen Gedanken an Tammy und Sarah, an seine Farm und Zukunft, hatte sie Klarheit gebracht. Die Waffe war ihm eingefallen. Für ihn würde die letzte Kugel nicht sein, wie er einmal gedacht hatte. Auch nicht für jemand anderen. Er sollte sie verkaufen oder wegwerfen. Anjuscha hatte Recht. Tammy würde einen anderen haben und vielleicht in der Stadt wohnen. Auch er würde wahrscheinlich eine andere haben. Es waren immerhin fünf Jahre! Es machte wenig Sinn, zu hoffen, zu warten. Man musste die Dinge nehmen, wie sie kamen.
Er spürte den Wind in seinem Gesicht, Anjuscha saß in einer Decke neben ihm. Eine Stunde später hatte das Schiff die Anker gelichtet und war auf die offene See hinausgefahren. Zweimal war sein Signalton dumpf und verloren auf dem Meer verklungen.
Es sei schwer, sich von der Vergangenheit zu lösen, hatte er gesagt. Anjuscha hatte ihn angesehen. Der Himmel helfe einem dabei, der Zukunft zu lauschen, sagte sie. Man müsse eben nur still genug sein. Sam hatte aufs Meer hinausgeschaut. Irgendwann hatte er ganz leise genickt und sanft seinen Arm um sie gelegt.