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Antiqua

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04.01.2002
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Antiqua

Antiqua entstieg, durch das Schnattern von Gänsen geweckt, den tiefen Sphären eines süßen Traumes. Viel zu lange hatte sie geschlafen, sich in Gefilden verloren, in denen ihr das eigene Wunschdenken eine paradiesische Wirklichkeit vorgegaukelt hatte. Ein zartes, brüchiges Konstrukt aus Illusionen, das nun, beim Gleiten in das Hier und Jetzt erst leicht erzitternd, dann stark schwankend, der gnadenlosen Gegenwart zum Opfer fiel. Mit jedem Lidschlag wurde der Schleier transparenter, der die Sicht auf diese, in seltsamer Weise veränderte Welt verborgen hatte. Eingeschränkte Perspektive barg stets die Gefahr von Irrtum in sich, weshalb die eben erst Erwachte, zwecks besserer Übersicht, mit ruhigen und doch entschlossenen Schritten den hohen Turm erklomm. Von dort oben die frisch erstarkten Sinne auf die Menschheit richtend, öffnete sie ihren Geist, versenkte sich in den Moment. Eine Flut von Bildern und Gefühlen überschwemmte ihr Bewusstsein, das an dem ungeschönt Vermittelten zu verzweifeln drohte. Ihr Glaube an Bestand der alten Werte wurde durch das Treiben, das sich ihren Blicken bot, bis in das Fundament hinein erschüttert. Jedwede Tugend, die sie kannte, schien einer Wandlung unterworfen und hatte sich ins Gegenteil verkehrt.

Sie sah, wie Freundlichkeit und Mitgefühl im Kampf um Ansehen untergingen. Gerechtigkeit, Ehre und Treue wurden mit Füßen getreten, bis sie sich zu Staub zermahlen im Wind der Neuzeit verflüchtigten, um Intrigen Platz zu machen. Egoismus, geprahltes Nichtstun, Lug und Trug – zutiefst verabscheut vor Dekaden, segelten im Auftrieb der Begehrlichkeit in unfassbare Höhen. Der Starke wurde stärker, der Schwache immer schwächer und verlor. Applaus, Applaus! Erfolg, um jeden Preis. Die Brut, äußerlich wohlgestaltet, doch innerlich verdorben und hässlich, stand grinsend selbstverliebt dabei und klopfte sich, nie müde werdend, gegenseitig auf die genormten Schultern. Eine ständig wachsende Zahl selbsternannter Übermenschen, durch Machthunger vereint, verkaufte ihre billigen Seelen an Gigantomanien, Götzen, Geld.
Genug gesehen.

Tränenblind stieg Antiqua hinab, trat hinaus ins Freie und setzte sich auf eine kleine, kühle Mauer. Warmer Wind strich ihr sanft über das Gesicht, trocknete die letzten salzigen Rinnsale auf ihren Wangen, während sie mit geschlossenen Augen traurig Erinnerungen an vergangene, bessere Zeiten nachhing.

Plötzlich tippte jemand mit dem Finger auf ihre Schulter. Sie öffnete die Augen, registrierte erstaunt eine bekannte Gestalt und lächelte freundlich. Es war der weise Lautenspieler, ein alter Freund, der immer Rat gewusst hatte, selbst in scheinbar aussichtslosen Fällen. „Ah, ist es endlich aufgewacht, das kummervolle Häuflein Elend, das da vor mir sitzt! Was ist es, das dich quält?“, fragte er mit sorgenvoller Miene. Mit knappen Sätzen schilderte sie ihm, was sie bedrückte, welche Art von Sturm in ihrem Innern tobte. Nach kurzer Pause: „Was ist bloß aus den Tugenden geworden? Heißt es nicht, das Gute ist zu tun, das Böse zu meiden?“ Er setzte sich neben sie, überlegte kurz und sprach: „Das galt und wird wohl immer gelten. Moralische Werte bestehen nicht von Natur aus, sondern aufgrund von Festlegungen.“ Antiqua runzelte die Stirn. „Ja, sicherlich, doch dachte ich immer, das Streben nach dem Guten läge in jedem selbst.“ Der Weise spielte ein paar Töne auf seiner Laute und schüttelte den Kopf. „Nicht unumschränkt. Die Ganzheit der Gesellschaft bestimmt über die jeweiligen Maßstäbe und legt die Gesetze fest. Es gibt Grundsätze der Ethik, die unveränderbar sind, doch alles ist im Fluss. Die Wichtigkeit von Tugenden kann sich verschieben. In die eine oder andere Richtung." Er entlockte seinem Instrument eine kleine Melodie und fuhr dann fort: "Was gestern noch erstrebenswert schien, kann morgen schon überholt sein. Sieh dir nur die Menschen an,“ er machte eine ausholende Handbewegung, „sie scheinen ganz zufrieden mit ihrem Zustand zu sein. Was sich bewährt und ob dies dann so bleibt, wird jedoch die Zukunft zeigen.“

Antiqua nickte resignierend. „Ich sehe schon. Wenn ich mir selbst und meinen Prinzipien treu bleiben möchte, habe ich nur noch die Wahl, mich den Gegebenheiten anzupassen, oder mich wieder dem Träumen zu widmen.“ Der Weise zwinkerte ihr zu und flüsterte: „Es gibt noch eine Möglichkeit. Man kann auch mit offenen Augen träumen.“ Seine Worte schienen Antiquas Verwirrung zu besänftigen. Ihre Haltung entspannte sich, neuer Glanz kehrte in ihre Augen zurück, während sie geschmeidig von der Mauer glitt. "Stimmt", lachte sie und begann, zu den Klängen der Laute zu tanzen.


Für S.

 

Hallo morti!

Es freut mich sehr, dass Dir diese Geschichte gefällt und die Sprache zusagt. Einige Leser mögen solchen Stil für veraltet halten, aber bei Themen wie diesem verwende ich ihn gerne. Solange man nicht in die Kitschkiste fällt ... :)

Die verwendete Sprache sprüht vor Melancholie. Zuerst düster, am Schluss hell und leuchtend.
Das hast Du wunderschön ausgedrückt!

Danke für Deinen Kommentar!


Lieben Gruß
Antonia

 

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