Anything Goes - Author´s Cut
Anything Goes - Author´s Cut
Der Teufel ist kein Puppenspieler, er bereitet lediglich die Bühne vor. Für die Vorstellung sorgen wir allein.
Flammen loderten plötzlich empor und im Schein des Feuers war ein Gesicht zu sehen, eine grinsende Fratze, die sogleich wieder in der Dunkelheit verschwand. Es stank nach Schwefel und mit dem Geruch dehnte sich eine anschwellende Hitze im Raum aus. Niemand wusste so recht, was als nächstes passieren würde. Keiner sprach.
Da unterbrach das erneute Auflodern der Flammen das Schweigen und die Fratze erschien abermals, doch diesmal verschwand sie nicht. Sie blickte auf die Menschen herab und begann scheußlich zu lachen. Sie schien sich lustig zu machen über jene, die gekommen waren, und so als schüre die Bosheit das Feuer der Hölle, schwollen die Flammen erneut an.
Ein Gesicht erstreckte sich nun zu einem behörnten Haupt und ein unmenschlich muskulös aussehender Körper tanzte makaber zu einer stillen Musik.
Dann erstarrte das Geschöpf, als hätte es ein Geräusch vernommen, sich aber nicht sicher war, ob sie es tatsächlich gehört hatte. Stille.
Dann fletschte es die Zähne und brüllte: „Willkommen in der Hölle! Flammen explodierten und Heavy Metal Musik ertönte. Scheinwerfer leuchteten im Takt dazu.
„Willkommen in der Hölle!“ wiederholte der etwas übergewichtige Moderator, der ohne Höllenatmosphäre ziemlich harmlos aussah. Er ging auf der Bühne hin und her und blickte theatralisch in den Zuschauerraum.
„Ich sehe bekannte Gesichter“, begann er seine Eröffnungsrede, „Ich sehe neue Gesichter. Ich sehe dünne Gesichter, dicke Gesichter, schöne Gesichter“, er warf eine Kusshand zu einer Frau in der dritten Reihe, „und furchtbar hässliche Gesichter“, er deutete auf den Mann daneben, der offensichtlich ihr Begleiter war, „geschminkte Gesichter, beschwipste Gesichter, weiße Gesichter, braune Gesichter, fahle Gesichter, bleiche Gesichter. Gesichter, die wie der Arsch meiner Großmutter aussehen“, er wartete kurz das vereinzelte Lachen des Publikums ab und holte dann tief Luft. „Aber ich sehe keine ängstlichen Gesichter und das ist gut.“ Er streckte das „u“ und sprach es tiefer, so dass es sich bald wie das Knurren eines hungrigen Bären anhörte. Wieder loderten die Flammen auf und unterstrichen das rot geschminkte Gesicht des Moderators.
Er setzte fort: „Denn das hier ist keine gewöhnliche Show. Keine Show für Luschen und Tussis. Diese Show kommt direkt aus der Hölle hierher nach Kleinrammswinkel. Eine Show, in der die Kandidaten alles machen dürfen um die Gunst des Publikums zu gewinnen. Alles ist erlaubt- anything goes!“ Die Flammen loderten. „Der Gewinner, der durch das Publikum gewählt wird, erhält anschließen fünft Tausend Euro nur für sich.“ Der Moderator hob die Hände in die Luft und zitterte, als hätte er Unzucht mit einer Hochspannungsleitung getrieben. „Und das beste: wirklich alles ist erlaubt, es gibt nichts, das es nicht gibt. Liebe Wanderer im Dunklen Tal, liebe Schäfchen! Lasst euch entführen für zwei Stunden in das tiefste Tal der Hölle: Anything Goes!!!“ Die Flammen loderten nun wieder auf, sie schienen die rote Fratze des Mannes auf de Bühne zu verschlucken, schienen ihn einzuhüllen, wie ein Mantel und als sie schließlich verschwanden, war auch der Moderator nicht mehr zu sehen.
Applaus für eine gelungene Eröffnungsshow.
„Gute Show, Charly!“, sagte jemand zu dem dicken Burschen, der gerade in den Backstagebereich kam und mühsam versuchte die Tür zu schließen, die kaputt zu sein schien und klemmte. Als er es geschafft hatte, wischte er sich den Schweiß und somit etwas von der roten Schminke aus dem Gesicht, das unter dem Make-up eine kränklich aussehende, weiße Haut erkennen ließ und winkte dem Kompliment etwas beschämt ab. Stefan Schrammel, so Charlys bürgerlicher Name, war im wirklichen Leben Informatikstudent, Amateurschauspieler und, da dieses Talent für wirkliche Auftritte nicht reichte, arbeitete er bei Anything-Goes als Moderator, womit er Geld verdiente, das er schließlich in Fachlektüre und Computerspiele steckte. Dass diese Show streng inoffiziell geführt wurde und sie wahrscheinlich illegal war, verdrängte er so gut es ging.
„Sind die Kandidaten bereit?“, fragte er eigentlich nur, um irgend etwas zu sagen. Er kümmerte sich nicht um den Ablauf, wollte das auch gar nicht. Er hatte genug Stress auf die Bühne zu gehen und zu Beginn den Eröffnungssatz zu sprechen und am Ende den Gewinner durch den Beifall des Publikums zu ermitteln.
„Ja, das sind sie“, antwortete der Kandidaten-Promoteur, dessen Aufgabe es war, die Kandidaten in einer beliebigen Reihenfolge auf die Bühne zu schicken. Er war Betriebswirtschaftsstudent, dessen von Eiterbläschen zerfressenes Gesicht und unterdurchschnittliche Noten für ein richtiges Praktikum nicht ausreichten. „Sie sind vollzählig hinter der Bühne.“
„Na ob das gut geht...“, sinnierte Charly und zündete sich eine Chesterfield an.
Im Wartesaal, in dem die Kandidaten mit ihren Requisiten ihrem Auftritt entgegen fieberten, saß Martin aufgeregt neben Andreas, seinem besten Freund und heutigen Bühnenkollegen. Seine Beine klopften in einem unmusikalischen Takt gegen die Sesselbeine, sein Magen verkrampfte sich und sein Gehirn wob einen Gedanken nach dem anderen zu einem unüberschaubaren Netz, das sein Bewusstsein bildete. Nur ein Gedanke, ein Spinnfaden, leuchtete stark heraus: Er musste heute gewinnen. Zu lange und zu erfolglos war seine bisherige Bühnenerfahrung. Er hatte es bereits mit Kabarett versucht, mit Theater und einzelnen Laienauftritten in irgendeiner namenlosen Fernsehserie. Er hatte sogar Gitarre gelernt um eine Karriere als Musiker zu starten. Doch jeder Versuch brachte ihn seinem ersehnten Verlangen im Applaus zu baden und von allen Menschen geliebt zu werden, nicht näher.
Dies, so schwor er sich, sei seine letzte Chance, sollte er sie vermasseln, dann gebe es für ihn nur noch die Karriere als Installateur, deren Lehre er vor Jahren abgeschlossen hatte. Doch diese Möglichkeit gab es nicht wirklich. Nur eine: Gewinnen, mit Hilfe seines übergewichtigen Freundes Andreas.
Während er seinen Gedanken nachhing, öffnete sich plötzlich die Tür und das Narbengesicht, dass sie vor einigen Stunden gebeten hatte, in diesem Raum zu warten, öffnete die Tür.
Es deutete auf den erst Besten und sagte mit befehlendem Tonfall: „Du da! Du bist der erste!“
Der, der gemeint war, nahm eine Kiste und verließ den Wartesaal. Kurz darauf tauchte er auf dem Monitor auf, der unter der Uhr befestigt war. Er zeigte die Bühne und die Kandidaten starrten den Bildschirm gespannt an.
Doch sie sollten enttäuscht werden. Die erste Vorstellung war eine lausige Feuerschluckernummer, in deren Verlauf dem Publikum nicht einmal ein „Oh!“ entlockt wurde. Nach etwa fünf Minuten gab der Kandidat auf und verließ durch einen zähen Sumpf aus Buh-Rufen die Bühne.
„Ich denke, da werden wir leichtes Spiel haben!“, meinte Martin zu seinem Freund, dessen dicklicher Körper durch ein monströses Kostüm noch verstärkt wurde. „Police“ stand auf seinem T-Shirt. „Du Cop!“
Andreas lächelte etwas unbehaglich zurück. Auf seiner Stirn hatte sich eine Gruppe von Schweißperlen entschlossen, gemeinsam die dicken Backen hinunterzurutschen.
„Ich weiß nicht so recht“, meinte Andreas unsicher. „Das Publikum ist ziemlich hart.“
Aber Martin winkte mit der Hand ab. Er war sich mit seiner Show ganz sicher. Andreas sollte den Cop abgeben. Unter dem T-Shirt befand sich eine Einrichtung, gefüllt mit künstlichem Blut und Martin war der Copkiller, der eine Pistole bedienen würde, deren ersten drei Kugeln echte Patronen für eine Demonstration am Bühnenboden gedacht und drei Platzpatronen enthielt. Theatralisch würde Martin auf den Cop schießen und bei jedem Schuss würde Andreas die Einrichtung unter seinem Kostüm betätigte und das Kunstblut würde sich über die Bühne ergießen und vielleicht sogar ins Publikum spritzen. Das war eine Show, die dem Polizeihassertrend folgte und sie todsicher zum Sieg führen sollte.
Martin führte seinen Blick durch den Wartesaal. Er sah viele Menschen, die mehr oder weniger alle in ihrer Alltagsgarderobe erschienen waren und sich allein durch ihre Requisiten unterschieden. Und dieser Haufen an unbrauchbaren Zeug bestätigte die Qualität seiner eigenen Vorstellung. Er sah ein Nagelbett, das anscheinend irgendeiner Fakirnummer dienen sollte, er sah einige Kästen, Zauberhüte und Jonglierkegeln. Irgendjemand hatte sogar drei Hühner, die in Käfigen eingeschlossen waren, vor sich stehen, die wahrscheinlich irgendein atemberaubendes Kunststück gelernt hatten.
Sein Blick blieb an einem Baseballschläger hängen und als er zu dessen Besitzer aufsah, blickte ihm ein dunkelbraunes, beinahe schwarzes Augenpaar an. Er zuckte etwas zusammen und das verzog den Mund unter den Augen zu einem verächtlichen Grinsen. Hatte er seinen Blick etwa schon die ganze Zeit verfolgt?
So als könnte sein Gegenüber Gedanken lesen, nickte es langsam.
Martin entschloss sich, dem Besitzer des Baseballschlägers zurückzunicken. Sein Aussehen hatte etwas von Johnny Knoxville aus dieser seichten Serie auf M-TV und Martin befürchtete, dass er auch etwas ähnlich stuntmanhaft Selbstverstümmelndes vor hatte. Neben ihm saß sein Partner, der Martin ebenfalls ansah. Etwas Unheimliches ging von den beiden aus, er spürte es ganz genau, doch seine Konzentration auf seine Empfindungen wurde unterbrochen, als die Tür aufging und der Feuerschlucker von der Bühne zurückkam. Hinter ihm waren noch vereinzelte Buh-Rufe zu hören. Er starrte zu Boden, packte seine Sachen zusammen und verließ den Wartesaal durch die Ausgangstür.
„Gut“, dachte Martin nun weit von den unbehaglichen Gedanken entfernt, „ein Konkurrent weniger.“
Die nächsten Auftritte verliefen ähnlich. Kandidaten führten mehr oder weniger erfolgreich Kunst- und Zauberstücke vor, die alle mit einem einheitlich beschlossenem Buh-Ruf verabschiedet wurden. Einem der möchtegern Zauberer wurde sogar eine Flasche auf den Kopf geworfen, weil er bei seinem Kartenstück alle Karten zu Boden hatte fallen lassen.
Im Nachhinein scheint es so, als wären alle Kandidaten, dessen Auftritt eine Themenverfehlung zu dem Titel „Anything goes“ darstellte, aussortiert worden, denn mit der Vorstellung des Hühnermannes begann das Grauen und der Horror, der am Ende die Zuschauer beinahe verrückt werden ließ..
Ganz harmlos fing es an und die ersten Buh-Rufe entfleuchte dem bereits enttäuschtem Publikum. Der Hühnermann, wie er sich selbst nannte, hatte die etwas verwirrt aussehenden Hühner auf der Bühne frei gelassen und einige Maiskörner auf dem Boden verstreut, über die sich die Tiere sofort hermachten. Der Hühnermann warf die Hände in die Luft und verbeugte sich lächelnd, so als ob seine bisherige Leistung bereits das Kunststück gewesen wäre. Misslaute drangen aus dem Publikum, doch das Lächeln des Hühnermannes verschwand nicht. Er hob eines der drei Hühner auf und hob es hoch in die Luft, als erwartete er sich, dass es sich ebenfalls verbeugen würde, anstatt nach Körnern gierend auf den Boden zu blicken. Die Misslaute der Zuschauer schwollen an, doch anders als die vorherigen Kandidaten, stand der Hühnermann auf der Bühne wie ein Berg im Wind. Und mit dem Brechen des Genicks des ersten Huhnes ertönte der erste Applaus des Abends.
Die Menge war begeistert. In der Psychologie nennt man so etwas Kontrastverzerrung, doch es war nicht allein die Langeweile, die bei den bisherigen Kandidaten aufgekommen war, die die Vorstellung des Hühnermannes so gewaltig wirken ließ. Spätestens zu dem Zeitpunkt, zu dem er dem zweiten Huhn einen Tritt verpasste, sodass es quer über die Bühne flog, ließ jedem Zweifler die Qualitäten des Entertainers erkennen.
Langsam schritt die Gestalt, zu dem zweiten Huhn, das sichtlich einige Knochen gebrochen hatte und hilflos mit den Flügeln flatternd kreisförmig auf der Bühne umherirrte. Die Gemächlichkeit, mit der der Hühnermann seine Show nun vorantrieb, ließ dem Publikum Zeit, sich ihn näher zu betrachten. Unscheinbar war er bislang gewesen und niemanden war die hoch gewachsene, schlaksige Erscheinung besonders vorgekommen. Doch nun, Hühner mordend, wuchs er zu einer unmenschlich gewaltigen, Stärke ausstrahlenden Gestalt an. Das Publikum feuerte jeden seiner Schritte lautstark an.
Als er das Huhn erreichte, hob er seinen rechten Fuß, der von einem groben Stiefel geborgen wurde und ließ ihn langsam über dem Huhn sinken. Ekstatisch rief das Publikum nun und als der Hühnermann die Bewegung abbrach, als er den Kopf des zappelnden Huhnes erreichte, standen einige der Männer in den teueren Anzügen auf und klatschten mit hoch erhobenen Armen, so als ob sie einen Rocksänger anfeuerte, der gerade ein schwieriges Gitarrensolo spielte. Die Zurufe auskostend, zertrat der Hühnermann den Kopf des zweiten Huhnes und das schmatzende Geräusch des zertretenen Gehirnes erklang in dem Saal. Niemanden kam es wirklich seltsam vor, nicht einmal jenen in der letzten Reihe, dass sie dieses eigentlich leise Geräusch, durch die Rufe und den Applaus trotzdem vernehmen konnten.
Dann wandte sich der Hühnermann dem letzten seiner drei Hühner zu. Es pickte noch immer gackernd Maiskörner von der Bühne und hatte die bisherigen Ereignisse, die so lautstark seinen Tod eingeläutet hatten, kaum bemerkt.
Hocherhobener Arme schritt der Hühnermann auf das Huhn zu und hob es hoch. Das Publikum schrie wild durcheinander.
„Erwürg es!“ schrieen manche. „Rupf es bei lebendigen Leibe!“, schrieen andere. Wild war das Toben und der Hühnermann bewegte sich nicht, bis schließlich jemand rief: „Iss es auf!“
Langsam kann er ins Bewegung, legte eine Hand um den Bauch des Huhns, die andere um dessen Kopf, sodass er seinen Hals strecken konnte. Das Publikum wurde schlagartig still, wie eine Kindergartengruppe, denen in kürze das zauberhafteste Märchen erzählt werden würde, das sie je gehört hatten.
Einen schrillen, überraschten Schrei ließ das Huhn los, als der Hühnermann seine Zähne in seinem Hals vergrub. Der Schrei hallte durch den Saal und erinnerte eher an ein Schwein, als an einen Vogel. Der Mann auf der Bühne zerrte etwas an den beiden Enden des Tieres, bis er schließlich die Halswirbeln und die zähe Haut durchgebissen hatte. Blut rann über sein Kinn und rote Punkte bedeckten sein Gesicht. Er ließ den Kopf und den Rumpf des Huhnes fallen und zu Freude des Publikums strampelte das geteilte Huhn noch einige Sekunden, als könnte es sein Schicksal nicht fassen und versuchte, aus dem schrecklichen Traum aufzuwachen.
Das Publikum dankte den letzen Nervenzuckungen mit einem tosenden Applaus. Der Hühnermann verbeugte sich und die Zuschauen reagierten mit Standing Ovations. Durch die Lautsprecher, die zu Beginn Charlys Anmoderation verstärkt hatten, schallte ein tiefes, brummendes Lachen, das den Hühnermann etwas zusammenzucken ließ. Auch einigen Zuschauern lief es kalt über den Rücken hinunter, als sie dieses Geräusch vernahmen, doch die meisten hörten in ihrer Ekstase nur eine elektronische Rückkopplung am Ende einer gelungenen Show.
„Verdammte Scheiße, was war denn das?“, stieß Andreas aus, der Hinter der Bühne die Vorstellung des Hühnermannes nur zur Hälfte verfolgt und die andere Hälfte am WC verbracht hatte. „Was war das für ein Geräusch?“
„Bestimmt nur eine Rückkopplung“, beschwichtigte Martin, doch auch er war sich nicht ganz sicher. Es erinnerte ihn ein wenig an ein Lachen, nicht an irgendeines, sondern an das jenen Mannes, der ihm vor zwei Wochen zu dieser Veranstaltung eingeladen hatte.
Martin war an jenem Tag durch das Klingeln des Telefons geweckt worden. Es war zwar schon weit nach Mittag, doch er sah keinen Grund, die schützende Wärme seines Bettes zu verlassen. Doch als das in seinem Schädel kratzende Leuten vernommen hatte, war er zum Telefon geschlendert und hatte „Hallo?“ in den Sprechapparat gekrächzt.
„Guten Morgen, Herr Gugler!“, brummte eine Stimme, die sich anhörte, als entstünde sie direkt in seinem Kopf und als wäre das Telefon lediglich ein Hilfsmittel, das dieses Gespräch authentisch machen sollte.
„Ja? Wer ist da?“, hatte Martin noch verschlafen gefragt, war aber mit der Zeit aufgewacht und bei dem Angebot schließlich hellwach gewesen.
„Und was soll ich für diese 5000 Euro machen?“, hatte er aufgeregt gefragt.
„Alles womit sie glauben, das Publikum unterhalten zu können!“, hatte die Stimme eine Antwort gebrummt. „Anything Goes ist der Titel der Veranstaltung und ich denke, Sie sind einer der wenigen Kandidaten, die wirklich etwas mit dem Titel anfangen können.“
„Aber ja, das kann ich bestimmt!“, hatte er gerufen und im Kopf schon sein Programm zusammengestellt.
„Davon bin ich überzeugt!“, hatte es am anderen Ende gebrummt und dann wurde die Leitung unterbrochen. Zuvor hatte er aber eine Rückkopplung – ein Lachen - am anderen Ende der Leitung gehört, das selbe Geräusch wie das nach der Vorstellung des Hühnermann und beide Male hatte er ein schmerzendes Kribbeln in seinen Genitalien verspürt.
„Bestimmt nur eine Rückkopplung“, wiederholte er nun im Wartesaal der Anything Goes Show. Er sah, dass ihm sein bester Freund nicht glaubte, aber ihm zu Liebe nickte und sich wieder auf seinen Platz setzte. Er treuer Freund, denkt Martin und bekommt Mitleid mit ihm. Er sieht blass aus und Spritzer von Übergebenen klebten an seiner Hose. Martin wusste, dass er ihm Qualen antat, dass sich sein Freund nichts sehnlicher wünschte, als zu Hause bei seiner schwangeren Frau zu sein. Und umso mehr schätzte er seine Gegenwart in dieser etwas verdrehten Lage. Die Show des Hühnermannes war krank und das Publikum hatte es geliebt. Ihre Show war auch krank und wenn sie es gut inszenieren würden, vielleicht sogar besser und vielleicht konnten sie das Geld, das sie beide dringen benötigten mit nach Hause nehmen. Dieses mögliche Ergebnis war er seinem Freund schuldig und so musste er ihn zum Durchhalten bringen.
„Sitzt das Kostüm noch?“, fragt er Andreas und dieser nickte nachdenklich mit hängendem Kopf. „Wenn es kaputt geht, sind wir im Arsch!“
Dann betrat der Hühnermann mit blutverschmiertem Gesicht den Wartesaal. Er grinste siegessicher und in seinen Augen glänzte eine Mischung aus Entschlossenheit und lüsternen Wahnsinn, was Martin lieber nicht gesehen hätte.
Erneut blickte das Narbengesicht bei der Türe herein und winkte dem Fakir zu, er solle kommen. Als dieser auf die Bühne ging, waren sie lediglich zu fünft im Wartesaal. Die Kandidaten, die bereits ihren Auftritt gehabt hatten, waren bei dem Anblick des Todes der Hühner bereits geschlagen geflohen und die meisten, die ihre Chance noch nicht hatten, verließen beim Anblick des blutverschmierten Gesichtes des Hühnermannes den Wartesaal durch die Tür mit der Aufschrift „Exit“. Nur noch Martin und Andreas, der Jonny-Knoxville-Verschnitt mit seinem Partner und der Hühnermann, der sich gerade am WC saubermachte, waren noch im Raum.
„Unsere Chancen vergrößern sich“, meinte Martin lächelnd und Andreas, dessen Gesicht noch immer nicht von dem Weiß der Tapete zu unterscheiden war, nickte. Doch seine Augen erzählten von anderen Gedanken: „Ich bin dein bester Freund Martin und ich folge dir blind auf deinen Wegen. Ich vertraue dir und tue alles, um dich zu unterstützen. Ich hasse es hier zu sein, ich werde krank von den Taten dieser Menschen und ich werde krank von der Verfolgung deines Traumes, berühmt zu sein, der sich so von meinen Vorstellung von Familie und Zufriedenheit unterscheidet. Doch ich folge dir. Ich vertraue dir.“
Dieser Blick stach tief in Martins Herz und er wandte seinen Kopf in Richtung Monitor, um die Vorstellung des Fakirs zu verfolgen.
Im Nachhinein gesehen, lange nach den Ereignissen jener Tage, kann man wohl etwas schmunzelnd behaupten, dass der Fakir der nun die Bühne betreten sollte, der wohl schlechteste Fakir war, der je auf der Welt gelebt hatte, und jedes nach Selbstdisziplin lüsternes Kloster, froh gewesen wäre, diesen hageren Burschen loszuwerden. Doch er hätte wohl auch nicht das Verlangen verspürt, keusch und schweigsam zu leben und dem profanen Wunsch zu entsagen, das Publikum für sich zu gewinnen. Denn genau das konnte er gut.
Schon sein erster Versuch, sich auf das Nagelbrett zu legen misslang. Er schaffte es wohl, sich rücklings darauf niederzulassen, doch dann schien es für ihn keine Möglichkeit mehr zu geben, sich wieder aufzurichten. Er schrie und brüllte, was das Publikum etwas in Sorge versetzte, doch als er dann mit Händen und Armen wild in der Luft wedelte und er aussah wie ein Hirschkäfer, den ein bösartiges Kind auf den Rücken gelegt hatte, blühte der Humor der Zuschauer wieder auf und sie begannen zu lachen und zu applaudieren. Wenn man genau hinsah, und das taten zu diesem Zeitpunkt die meisten, dann konnte man stellenweise sehen, wie die Farbe der Nadeln und des Brettes unter dem Leib des Mannes, langsam von Silber und Hellbraun zu Rot übergingen. Ein Raunen ging durch die Menge und als der Fakir den Mann aus der ersten Reihe bat, auf die Bühne zu kommen, so war dieser überglücklich. Er sollte dem Fakir aufhelfen und so packte der junge Mann mit dem schwarzen Frack aus der ersten Reihe den Fakir am Arm und zog ihn hoch. Sprichwörtlich steif wie ein Brett stand der Kandidat der Anything Goes Show nun da, denn das Nagelbrett steckte noch immer in seinem Rücken. Der gut gekleidete Mann befreite ihn schließlich von seinen Qualen und zog das grausame Requisit mit einem harten Ruck aus seinem Leib. Dann zeigte er seinen Rücken und die Zuschauer rasteten vor Freude aus, als sie die vielen kleinen, unregelmäßig angeordneten Löcher in seinem Rücken sahen. Unterhalb vielen von ihnen hatte sich ein kleiner Rinnsal aus Blut gebildet.
Auch der Zuschauer, der noch immer auf der Bühne stand, applaudierte wohl gesonnen. Zur Belohnung hatte er nun eine spezielle Aufgabe. Der Fakir drückte ihm eine Klammermaschine in die Hand und trug ihm auf, das ganze Magazin an Klammern, das sich darin befand, in beliebige Stellen in seinen Körper zu schlagen. Zuerst zögerte der Zuschauer, doch wieder ertönte die Rückkopplung aus den Boxen, die so sehr nach einem Lachen klang. Doch diesmal nicht bösartig sondern beinahe etwas aufmunternd, ermutigend. Der Zuschauer, dessen besorgtes Gesicht sich nun aufhellte, grinste verschmitzt über diesen elektronischen Zufall und besorgte sich von seiner Freundin, die neben ihm in der ersten Reihe gesessen ist, zustimmenden Applaus.
Die erste Klammer setzte er im Oberarm des Fakirs an und dieser jaulte vor Schmerz, als der klickende Geräusch durch den Saal klang. Beifall ertönte und der Zuschauer, der sich noch vor wenigen Momenten an einen anderen Ort gewünscht hatte, setzte eine weitere Klammer in den Unterarm, der so verlockend vor ihm baumelte. Wieder heulte der Fakir, diesmal schossen Tränen in seine Augen. Das Gelächter im Publikum war groß und schwoll noch mehr an, als ohne lange Pause eine weitere Klammer in die Brust gesetzt wurde.
Und es kam auf seinen Höhepunkt, als der Fakir bei der dreizehnten Klammer, die in das sensible Fleisch der Innenseite seiner Oberschenkel geschossen wurde, kurz das Bewusstsein verlor und zusammensackte, wie ein Weihnachtsmann, an den keiner mehr glaubte. Der Aufprall des leblos wirkenden Körpers drohte für kurze Zeit, das lauteste Geräusch zu werden, aber das Publikum hielt dagegen und brüllte nun vor Lachen und applaudierte.
Als der Fakir kurze Zeit darauf wieder zu sich kam, entließ er den Kandidaten, der so brav mitgearbeitet hatte und holte aus seiner Kiste zwei Nägel und einen Hammer heraus.
Im Wartesaal zweifelte Martin immer mehr an seiner Copkiller-Show, während er mit größer werdenden Entsetzen, die Vorstellung des Fakirs verfolgte. Hundertprozentig sicher war sie, sollte sie je vor einem gewöhnlichen Publikum, das etwa zwischen sechzehn und vierundzwanzig Jahre alt sein und einen überdurchschnittlichen Marihuanakonsum haben sollte, aufgeführt werden. Doch dieses Publikum, gekleidet in der feinsten Abendgarderobe und Fräcken, war eindeutig krank. Wer waren diese Leute, überlegte Martin, der das erste Mal im Laufe dieser Show auf das Publikum achtete. Sie sahen gerne Tod und Verderben von Hühnern und waren diversen Selbstverstümmelungen, wahrscheinlich solange es andere betraf, nicht abgeneigt. Vielleicht waren sie ja wirklich nicht richtig hier.
„Oh mein Gott!“, rief Andreas plötzlich aus und rannte auf die Toilette. Verständnislos betrachtete Martin die WC-Tür, hinter der sich sein bester Freund zum zweiten Mal übergab.
„Der Wichser hält wohl gar nichts aus, was?“ Die Stimme kam von dem Jonny Knoxville Kandidaten. Martin lächelte zustimmend. Ihm machte es nichts aus, wenn sein bester Freund beleidigt wurde, war schließlich nicht sein Problem und irgendwie stimmte das schon, das mit dem Wichser.
Dann lenkte er seinen Blick zurück auf den Monitor und sah den Fakir, der es irgendwie geschafft hatte, sich selbst zwei Zehn-Zentimeter-Nägel in die Schulter zu klopfen. Natürlich steckten sie nicht bis zum Anschlag in dem dürren Männlein, das hätte er wohl nicht überlebt, aber sie saßen zumindest fest.
Nun war seine Show vorbei und der geschändete Körper des Fakirs sah aus, wie eine Karikatur von Herman Monster, dessen Erzeuger unbeabsichtigt die Schrauben statt im Hals an der Schulter befestigt hatte. Das Publikum winselte nach einer Zugabe, als der Mann die Bühne verließ, doch er kam nicht wieder.
Kurze Zeit später steckte das Narbengesicht seinen Kopf bei der Tür herein und holte die vorletzten Kandidaten. Es entschied sich für die Gruppe mit dem Baseballschläger.
„Fahr gleich nach Hause, du Wichser!“, schimpfte einer der beiden in Martins Richtung. „Hier ist kein Platz für eine beschissene Copkiller-Nummer!“
„Selber Wichser!“, rief jemand hinter Martin und als er sich umdrehte, sah er Andreas, der gerade wieder von der Toilette zurück kam. Die anderen beiden hatten keine Chance mehr, etwas zurück zu sagen, denn ihr Auftritt war gekommen.
Martin starrte seinen besten Freund mit einer Mischung aus überraschtem Stolz und erschrockenem Selbstzweifel an. Zum einem hatte er die selbstlose Verteidigung nicht erwartet, schließlich hätte er sie selbst nie gegeben. Andererseits, und dieses verletzende Gefühl war im Moment der größte Faden, der im Netz seines Verstandes gesponnen wurde, überwog das Entsetzen, dass jemand seine geniale Show erraten und lächerlich gemacht hatte. Dies war das erste Mal an diesem Abend, dass er wirklich nach Hause wollte. Hier war es nicht der richtige Ort für ihn und schon gar nicht für seinen besten Freund. Die Leute hier waren verrückt, gleich ob Publikum oder Kandidaten. Und irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Ein süffisantes, boshaftes Lachen lag in der Luft und schien sich über seine Not nur noch mehr zu amüsieren.
Jetzt im Nachhinein gesehen, wäre es wohl wirklich besser gewesen, wenn Martin entschieden hätte, seine Sachen zu packen und zu gehen. Er hätte sich ein dramatisches Ende erspart. Doch wie immer im Leben, im Nachhinein weiß man es eben besser. Und so blieb Martin und verfolgte die vorletzte Show des heutigen Abends.
Die beiden jungen Männer, die nun die Bühne betraten, sahen eigentlich recht sympathisch aus. Lässig gekleidet in Jeans und T-Shirt wirkten sie wie zwei Freunde, die gemeinsam an einem Grillnachmittag teilnehmen wollten. Nur ihre Augen verrieten etwas anderes. Nervöse Anspannung lag in ihren Augen, wie ein endloser Ozean. Doch mitten in dieser Nervosität, funkelte etwas Gemeines, Fieses, und trieb wie eine Nussschale hin und her. Oder stand es wie ein Dreimaster hinten am Horizont und wartete auf den Angriff? Die Entfernung war nur schwer abzuschätzen.
Sie stellten sich als Tim und Tom vor, obwohl sich einige Zuschauer dachten, dass Johnny anstatt Tom wohl angebrachter gewesen wäre. Doch sie konnten sich nicht lange darüber den Kopf zerbrechen, denn Tim begann die Show, indem er Tom so stark rempelte, dass dieser stolperte und beinahe fiel.
Das Konzept der Darsteller war denkbar einfach, aber ebenso erfolgreich. Sie prügelten sich und ließen das Publikum daran teilhaben.
Nachdem Tom angerempelt worden war, schlug er seinem Bühnenkollegen in den Magen. Ein dumpfer Schlag gepaart mit einem atemlosen Stöhnen von Tim ließen das Publikum in frohes Gelächter ausbrechen. Applaus wallte auf und Tom ließ sich von der jubelnden Menge feiern, als der wieder zu Atem gekommene Tim ihn von hinten ansprang - sodass sie aussahen, als wären sie Kinder die sich Huckepack nahmen -, mit der linken Hand den Kopf seines „Feindes“ hielt und mit der rechten drei gezielte Faustschläge auf der verschwitzten Stirn Toms landete.
Die Platzwunde brachte endlich das lang ersehnte Blut ins Spiel. Das Publikum jubelte und diesmal war es Tim, der sich feiern ließ. Doch er konnte den Jubel für die erbrachte Leistung nicht lange genießen, denn Tom schien wütend geworden zu sein. Er taumelte hinter Tims Rücken zu der Tasche, in der sich die Requisiten befanden.
Das Publikum jauchzte laut auf und Tim dachte, der Applaus sei für ihn und streckte die Hände höher in die Luft. Doch der Baseballschläger, den Tom nun heldenhaft hinter Tims Rücken in die Luft hielt, war Grund der Ekstase, die zu ihrem Höhepunkt aufloderte, als der erste Schlag Tim zu Boden streckte.
Bisher war ihre Show einer Wrestling Vorstellung sehr ähnlich gewesen, doch das Knacken von Tims Oberarmknochen, der trotz der Jubelruf deutlich zu hören war, bildete ein eindeutiges Unterscheidungsmerkmal.
Tim wälzte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht am Boden und dann trat Tom ihm ins Gesicht. Natürlich wollte er seinen Bühnenkollegen nicht töten, aber er wollte ihm die Nase brechen, was ihm auch gelang.
Tim stand nicht mehr von alleine Auf und als ihn Tom nach einigen Minuten des Applauses auf die Beine hievte, konnte man sein Blutüberströmtes Gesicht und seinen grotesk abstehenden Oberarm bis in die letzte Reihe sehen. Welch großartige Show!
Ein Tisch und ein Stuhl, auf den sich Tim dankbar fallen ließ, wurden auf die Bühne gebracht und Tom, alias Johnny, kündigte nun eine Überraschung an, für die er eine Freiwillige aus dem Publikum benötigte.
Natürlich meldete sich niemand, obgleich jede Zuschauerin insgeheim hoffte, Teil dieser erregenden Show zu werden. Schließlich traf es eine hübsche, junge Frau, bekleidet mit einer weißen Bluse und einem knielangem Rock. Ihr Haar war zu einem Zopf gebunden, was ihr ein ein wenig biederes Aussehen verlieh. Zum Abschied küsste sie ihren Begleiter und schritt auf die Bühne.
Tom empfing sie mit einem ausdehnenden Handkuss und fragte sie, wer ihrer Meinung nach, der wahre Gewinner dieses Schlagabtausches gewesen sei, Tom oder Tim. Die junge Frau blickte auf den schwer atmenden Tim, der bedauernswert auf dem Stuhl lehnte und wählte schließlich Tom. Das Publikum klatschte zustimmend.
Dann fragte sie Tom, ob er zur Belohnung ein Küsschen auf die Wange bekommen würde. Die junge Frau willigte ein, spitzte ihre Lippen und näherte sich Toms Wange.
Doch dieser hatte nicht vor, sich mit einem Küsschen zufrieden zu geben. Kurz bevor die junge Frau seine Wange berührte, drehte er blitzschnell den Kopf, küsste sie auf den Mund und packte sie bei den Hüften.
Noch bevor sie wusste, wie ihr geschah, wurde sie über den Tisch gelegt, wie ein Kind, das nun Schläge auf sein Hinterteil zu erwarten hatte. Tom drückte sie am Rücken fest gegen den Tisch und Tim, der urplötzlich aus seinem Leid erwacht war, packte ihre Hände.
Die junge Frau schrie überrascht auf, doch die Männer hatten kein Mitleid. Tom schob ihren Rock etwas nach oben und machte obszöne Bewegungen mit seinen Hüften. Die Frau begann sich zu wehren, doch unter dem Griff der beiden Männer hatte sie keine Chance.
Im Wartesaal verfolgte Martin mit immer größer werdender Verzweiflung die Show. Nie würde er gewinnen. Diese beiden Schläger, die sich gegenseitig die Nase brachen und blutende Wunden schlugen, waren die Nummer eins, da gab es keine Zweifel. Seine beschissene Cop-Killer Nummer war ein einziger Schwindel, mit Kunstblut und falschen Emotionen. Die beiden, die nun auf der Bühne ihre Show vollführten, waren echt. Sie waren authentisch.
Allein dass er nun ihre Show erriet, gab ihm ein kleines Glücksgefühl. Sie hatten die Frau geholt und spielten eine kleine Vergewaltigungsnummer, doch zum eigentlichen Akt sollte es nicht kommen. Zuvor soll der Begleiter der Dame auf die Bühne kommen und sich mit Tim und Tom um seine Freundin schlagen. Authentizität pur.
Martin betrachtete gespannt den Bildschirm und wirklich, die beiden Männer auf der Bühne machten nicht die Anstalten die Freiwillige sexuell zu belästigen. Ihre Taten bestanden eher aus eindeutigen Gesten und Worten und ständigen Blicken zu dem Begleiter der jungen Frau.
Doch dieser machte keine Anstalten sich auf die Bühne zu bewegen und an der Show teilzunehmen. Erregt saß er an seinem Platz und blieb auch dort sitzen.
Tom irritierte diese Reaktion und presste die junge Frau noch fester gegen den Tisch, sodass sie laut aufschrie. Doch auch diese Rufe der Frau berührten ihn nicht.
Hinter der Bühne konnte Martin einen Anflug an Verzweiflung in Tim und Toms Augen sehen. Nun mussten sie ihre Show wohl abbrechen.
Doch das war keineswegs im Sinne der Zuschauer. Vereinzelte Rufe wurden laut, und schließlich einigte sich das Publikum auf einen einheitlichen, auffordernden Applaus. Ein Rückzug würde nicht gewährt werden. Tom und Tim wechselten verzweifelte Blicke. Das Mädchen unter ihren Händen begann verzweifelt zu schreien, niemand war mehr auf ihrer Seite. Losgelöst von der Masse war sie nun selbst Opfer.
Irgendetwas in der Akustik der Lautsprecher und Mikrofone grollte unwillig. Tom schwitzte. Die Zuschauer wurden langsam ungeduldig und die junge Frau schrie, als brannte sie.
Dann schob der Mann hinter ihr ihren Rock bis über die Hüften, zog ihren Schlüpfer zu den Knöcheln und zog sich selbst aus. Mit einer bizarren Erektion vollzog er seine eigene Vergewaltigung.
Die Hilferufe der jungen Frau drangen bis in den Wartesaal, wo Martin und Andreas fassungslos auf den Monitor starrten. Wie konnte das sein? Vor ihren Augen wurde eine Frau vergewaltigt, doch niemand tat etwas. Weder das Publikum noch die Veranstalter, sie selbst nicht ausgenommen. Was geschieht hier?
Das Rufen war unerträglich, doch wirklich schlimm war die Stille, die nach einigen Sekunden nach beginn des Aktes eintraten. Die junge Frau schrie nicht mehr. Sie stöhnte. Doch nicht aus Lust oder Erregung, es war tiefste Scham, Erniedrigung, die mit jeden weiteren Stoß in ihren Körper gepumpt wurde und ihr Dasein schändete. Hin und wieder schluchzte sie.
Dann, irgendwann, kaum abzuschätzen wie lange das Martyrium dauerte, war es vorbei. Tom und Tim verharrten für einige Sekunden regungslos auf der Bühne, während sich die junge Frau anzog und nun weinend durch den Notausgang ihre eigene Hölle verließ. Lachend und applaudierend wurde sie vom Publikum verabschiedet. Dann stolperten Tim und Tom hinter die Bühne zurück in den Wartesaal, hinter ihnen das honorierende Klatschen der Menge.
Als Martin Tim und Tom durch die Tür den Wartesaal betreten sah, erblickte er zwei Fremde, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Sie waren nicht mehr die großen Helden, die sie vor ihrer Show gewesen waren; nicht mehr die harten, siegessichere Kerle, die ihre Konkurrenz beschimpften. Mit blutverschmierten Gesichtern nahmen sie Platz, umschlangen ihre Knie und wippten zu einer lautlosen Musik hin und her, den Blick starr auf etwas Unsichtbares weit in der Ferne gerichtet.
Dann wurde die Tür geöffnet und ein letztes Mal spähte das picklige Gesicht in den Wartesaal. „Ihr seid an der Reihe“, sagte es zu Martin und Andreas mit zitternder Stimme. Sie fühlten sich wie betäubt, hatten die letzten Bilder die sie gesehen hatten, noch immer nicht richtig verarbeitet und traten so beinahe willenlos auf die Bühne. Nun war ihr großer Augenblick gekommen.
Das Klatschen und Jubeln der Menge weckte die beiden aus ihrer Benommenheit und sie wurden sich ihrer Situation nun so richtig bewusst. Ihre Nummer übertraf die ungewollte Vorstellung von Tim und Tom auf keinen Fall, aber – so dachte Martin – falls sie es richtig hinbekamen, dann würden sie vielleicht einem Aufstand entgehen. Eine gute Copkiller Nummer übertraf zwar mit Sicherheit nie eine echte Vergewaltigung, aber mit all dem Kunstblut konnte die zähnefletschende Menge vielleicht besänftigt werden. Dieser Gedanke beruhigte Martin und so bereiteten sie sich für die Show vor. Nun würde Andreas an einen Sessel gebunden und geknebelt werden und Martin würde theatralisch um ihn herum schreiten und schließlich drei Kugeln in den Boden schießen. Die nächsten drei, die Platzpatronen, würde er schließlich auf den Cop feuern.
Doch es verlief ein wenig anders als geplant. Der Gedanke an eine gute Show mochte zwar Martin beruhigt haben, doch Andreas zitterten die Knie und hätte er sich nicht erst vor einer Stunde übergeben, würde er nun einen ganzen Schwall aus heruntergeschlucktem Ekel und Angst erbrechen. Und genau diese Angst war schließlich das erste Glied in jener Kette, die ihn umbringen sollte.
Denn während er auf dem Stuhl gefesselt, zitternd da saß und Martins hasserfüllter Rede gegen das Gesetz lauschte, betätigte er mit seinen zitternden Händen den Schalter, der das Fließen des Kunstblutes auslösen sollte. Natürlich war es zu früh und natürlich ruinierte es die Show der beiden, aber die Schuld bei Andreas zu suchen wäre wohl falsch gewesen.
Ein Mann in der ersten Reihe entdeckte als erster die rote Flüssigkeit, die sich aus drei Löchern in Andreas T-Shirts ergoss und begann prustend zu lachen. Seine Freunde stimmten ein und bald spottete das ganze Publikum.
Ziemlich als letzter bemerkte Martin, was geschehen war und während er in Andreas unterwürfig entschuldigendes Gesicht sah, verwandelte sich die Welt um ihn herum. Zuerst bestand sie nur aus Blut, das aus dem Körper seines besten Freundes strömte. Wie eine Vision umhüllte sie seinen Verstand. Er sah, wie es seinem fetten Bauch hinunterlief, wie es sich auf seinem Schoß ergoss und schließlich auf die Bretter des Bühnenboden tropfte, zäh und klebrig floss es durch seinen Verstand.
Dann sah er Andreas, der wimmernd in seinen Fesseln saß. Er hatte ihre Show versaut, er hatte MARTINS Show versaut und das live, vor den Augen eines kranken Publikums. Er sah seinen besten Freund winselnd und gefesselt und empfand Abscheu für ihn, nichts als Abscheu. Wieso musste er sich auch auf diesen fetten Idioten verlassen? Wieso hing sein Glück von diesem Trottel ab? Wieso?
In Martins Verstand, der sich so sehr vor der Reaktion des Publikums fürchtete, verschwand sein bester Freund Andreas, war einfach nicht mehr existent. Allein eine riesige, gelbe Fettansammlung mit einem menschlichem Gesicht war er jetzt, das all sein Glück und seinen Erfolg auffraß.
Und zuletzt nahm er das Publikum wahr. Es machte sich über ihn lustig, es verspottete ihn. Ihn, Martin, der schon so viele Auftritte geleistet hatte, der sein ganzes Leben für Applaus und Beifall geopfert hatte. Sprechchöre wurden laut, unzählige Münder überschwemmten den Boden seines Daseins mit widerlichen Worten.
Und auch die Elektronik schien seine Missbilligung Kund zu tun. Wieder hallte die Rückkopplung durch den Saal und wieder klang es wie ein Lachen. Diesmal verhöhnte es die lächerliche Leistung zweier Vollidioten, die sogar diese mickrige Vorstellung nicht auf die Reihe bekamen. Auch die Bretter der Bühne knarrten und das Licht flackerte rot und gelb und ließ die Zuschauer wie Teufel in einer Hölle zucken und tanzen. Ja, er war nun in der Hölle, unschuldig gefangen in seiner ganz persönlichen Hölle.
Stefan Schrammel, alias Charly, hatte etwas Mitleid mit den Männern auf der Bühne. Es war wirklich nicht leicht, nach der grausamen Show der letzten Kandidaten auf die Bühne zu müssen, aber gleich zu Beginn einen solchen Fehler zu machen, war natürlich noch schlimmer. Er wollte dem Spuk gerade ein Ende bereiten, auf die Bühne gehen und das Publikum den Gewinner bestimmen lassen, als der eine Mann auf der Bühne, jener der stand, zu schreien begann.
Und dieses Schreien, so durchdringend und wahnsinnig in seinem Klang, brachte das Publikum zum Schweigen.
„Du Teufel, du verdammter Teufel!“, schrie Martin in die Menge, als wäre sie eine Person. „Zu was zwingst du uns? Zu welchen Gräueltaten befähigst du uns? Ist es das Blut, das du sehen willst? Ja? Aber Kunstblut reicht dir nicht aus, wie?“
Martin schritt zu seinem gefesselten Bühnenkollegen, hielt ihm die Waffe ans Knie und drückte den Abzug. Ein Schuss hallte durch den Saal, ohrenbetäubend und schrecklich präsent. Andreas schrie auf und wollte sich ans Bein fassen, doch stattdessen zappelte er nur in seiner Gefangenschaft und der Knebel ließ sein Gekreische zu einem dumpfen Geräusch mutieren. Blut floss unter dem Hosenabschluss hervor, sein Knie hatte eine groteske Form angenommen.
„Ist es das, was du willst?“, schrie Martin weiter. „Ist es das, was du von mir verlangst? Von uns allen, die täglich ihr Leben verkaufen um dir zu dienen. Um deine Lust nach Fehlern anderer zu befriedigen, deine Gier nach dem Leiden anderer zu stillen. Du Voyeur machst aus uns allen grausame Exhibitionisten, die auch vor der Entblößung des Lebens anderer nicht zurückschrecken. Du machst uns zu Seelenhändlern, die dir Ware verkaufen, doch nie entlohnt werden. Ist es das Grauen, das du willst?“
In Martins Kopf verschmolz das Publikum im roten Licht zu einer einzigen, grinsenden Fratze. Aus ihren Mundwinkel floss gieriger Speichel und die Augen flackerten lüstern.
Martin schritt zu Andreas und schoss ihn in den Arm. Durch den Schuss löste sich der Knebel und sein Gebrüll füllte nun den Saal aus. Doch brüllte er nicht wie ein Krieger oder wie ein Soldat, er kreischte wie ein Antilopenbaby in den Fängen eines Löwen.
Im Backstagebereich beschlossen nun Stefan und der Kandidaten-Promoteur die Grausamkeiten auf der Bühne zu beenden. Der Kandidat schien verrückt geworden zu sein. Doch die Tür klemmte und den beiden war es unmöglich, hinaus zu gehen, so sehr sie sich auch dagegen warfen. Auch die Leitung des Telefons war tot und Handys funktionierten im Keller sowieso nicht. Und so blieb ihnen nichts anderes übrig, als auf den Monitor zu starren und die Show zu verfolgen.
„...was du willst? Dann sie her, Teufel. Ich habe mich schon verkauft, meine Seele ist schon lange dein, doch nichts habe ich dafür bekommen. Nichts! Ich diente dir solange doch du ignorierst mich!“
Andreas Bewusstseinszustand wechselte jeden Augenblick von schreienden Wachzustand zur gnädigen Bewusstlosigkeit und wieder zurück. Er fühlte sich wie in einem Alptraum, dessen schmerzhaften Elemente grausame Realität waren. Doch bald würde er aufwachen, vielleicht weckte ihn ja das Schreien seiner kleinen Tochter. Dann würde er in den Armen seiner Frau aufwachen, seine Tochter beruhigen und schließlich feststellen, dass er noch gute drei Stunden zu schlafen hatte, bevor er zur Arbeit musste.
In Martins Verstand spukte eine andere Vorstellung, in der ihn die Fratze weiterhin angrinste, kaum beeindruckt von dem theatralischen Gerede ihres Sklaven. „Ich will ein Opfer, schaffst du das?“, flüsterte sie ihm ins Ohr.
Ohne zu zögern hob Martin die Waffe, hielt sie an Andreas Schläfe und drückte ab. Der Kopf des Mannes mit dem dicken Bauch und dem verschwitzten Polizei-T-Shirt explodierte und der zuckende Körper sackte von Fesseln gehalten auf dem Sessel zusammen. Der Bühnenboden sah aus, als hätte sie ein untalentierter Malerlehrling mit roter und grauer Farbe ausgemalt. Hie und da hatte sich graue Masse versammelt. Knochensplitter lagen herum.
„Bitte schön“, sagte Martin und die Fratze in seinem Verstand lachte, lachte und lachte, lauter und immer schriller, bis sich das Gelächter wie Schreien einer Menschenmenge anhörte und zu diesem Zeitpunkt zerfiel die Fratze und Martin konnte wieder das Publikum sehen, das nun in Panik geraten wild durcheinander lief.
Hatte die Show schon begonnen?, fragte er sich, doch als er zu seinem besten Feund hinüber sah, begriff er. Die Show war gerade zu Ende gegangen. Er hob die Pistole abermals, doch zielte er diesmal auf seinen Kopf und drückte ab...
Ob er nun Glück gehabt hatte oder nicht, entzieht sich jeder Burteilung, fest stand nur, dass die Rettung schließlich einen schwer verletzten, aber nicht getöteten Mann von der Bühne trug, der auf sich selbst geschossen hatte. Glück oder Unglück, seine Waffe war nur mehr mit Platzpatronen gefüllt gewesen.
Nachdem sein Zustand nicht mehr kritisch war, bekam er eine Gerichtsverhandlung, in der sich Staatsanwaltschaft und Verteidigung auf eine Einlieferung in die Psychiatrische Anstalt für gewalttätige Geisteskranke entschieden. Dort sollte der nicht mehr ansprechbare Mörder, der unter einer Art Wachkoma litt, solange bleiben, bis er als geheilt angesehen werden konnte, was nach einhelliger Meinung wohl nie eintreten würde.
Fernsehen war das einzige in seiner Umwelt, auf das der Patient reagierte. Und so stellte man einen Fernseher Tag und Nacht neben ihn, in der Hoffnung, irgendein Ergebnis zu bekommen.
Doch das Ergebnis war in Martins Verstand, tief verborgen vor dem Erkennen der Ärzte. Nun gab es nur noch ihn, der für immer seinem Herrn diente.
Einmal fragte er sich selbst, die intimsten Sachen.
(„Martin, Sie sagen also, sie seien der Vater von Martin, dem Sohn ihres verstorbenen Freundes. Stimmt das denn?“, wollte Martin von sich selbst wissen.
„Natürlich stimmt das! Und als guter Vater werde ich mich stets um meinen Martin kümmern“, antwortete er sich.)
Ein andern Mal sang er die dümmsten Lieder und kritisierte sich selbst auf möglichst beleidigende Weise. („Martin, bevor ich dich noch einmal singen hörne will, erschieße ich lieber meinen besten Freund, ehrlich!“)
Und immer war die Fratze da, betrachtete seine Show und lachte und weinte lüstern grinsend mit ihm. Und wenn er einmal keine Show lieferte und vor dem Einschlafen im Dunklen noch einmal kurz die Augen öffnete, so sah er noch immer ein rotes Auge der Fratze, die nur darauf wartete, wieder unterhalten zu werden.