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Argonaut
ARGONAUT
Alle Schlachten waren geschlagen. Es gab nichts mehr, was noch lohnen würde, menschliche Ressourcen zu vergeuden. Die Erkenntnis kam freilich zu spät. Und während die Mächtigen erbittert um den wertlos gewordenen Planeten gekämpft hatten und nun mit leeren, blutbeschmierten Händen ihr eigenes Elend bedauerten, waren es die kleinen Staaten, die still und leise inmitten kriegerischer Wirren ihr Heil in einer vielversprechenden neuen Welt suchten...
Verbleibende Flugdauer: 08Y / 12M / 06D / 23H / 05M / 03S
Die ‚Argonaut‘ befand sich im vierzehnten Jahr ihrer Reise ohne Wiederkehr. Ohne Probleme hatte sie den Asteroidengürtel durchquert, hatte sie zweimal den Riesenplanet Jupiter umrundet, um mit neuem Schwung die Besatzung dem Ziel ein weiteres Stück näher zu bringen. Jenes Ziel, was einige Millionen Kilometer vor Pluto lag. Wenn der vor Jahrzehnten ausgebrütete irrwitzige Plan tatsächlich gelingen sollte, würde sich die ‚Argonaut‘ mit den anderen einundzwanzig Raumschiffen an einem bestimmten Punkt treffen, dort miteinander eine gigantische Station bilden, und diese nach und nach weiter zu einer künstlichen Welt inmitten des Raumes ausbauen. Zwar wäre die Sonne nur noch ein kleiner heller Punkt unter vielen, dennoch würde ihr Licht ausreichen, um die neu entstandene Welt ausreichend mit Energie zu versorgen.
So wie die anderen Schiffe wurde die ‚Argonaut‘ von einem Computer gesteuert. Völlig unabhängig von den rivalisierenden Supermächten, im Verborgenen von ehemals unwichtigen Staaten miteinander konzipiert und realisiert, bildete er das Kernstück eines jeden Raumschiffes. Hatten sich einstige Super- und Atommächte damit begnügt, ihr gewaltiges Potential in immer zerstörerische Waffen zu investieren, waren es merkwürdigerweise kluge Köpfe in Afrika und Südamerika gewesen, die zu dem Entschluß kamen, dass es für ihr jeweiliges Land das Beste wäre, sich nicht an diesem selbstmörderischen Wettlauf zu beteiligen. Sie konnten Land und Politiker überzeugen, die wenigen Mittel einem kolossalen Projekt beizusteuern, dessen Teilresultat nun Milliarden Kilometer von der zerstörten Erde entfernt einsam und lautlos durch das All schwebte. Nachdem sie die Anziehungskraft von Jupiter überwand, hatte die ‚Argonaut‘ das Maximum an Geschwindigkeit erreicht. Der Zentralrechner stand in ständigem Funkkontakt mit den anderen Schiffen, die in einem Gebiet von annähernd vierhunderttausend Kilometern mehr oder weniger eine Formation bildeten. So sehr sich damals in geheimen Konferenzen die Köpfe des Projekts einig waren, dass nur so der Untergang der Menschheit zu vermeiden sei, so sehr waren sie sich uneinig in der Frage, wie dies zu bewerkstelligen war. Manche schwörten auf den Mars als Katapult für die enorme, dringend benötigte Beschleunigung, andere setzten auf den Jupiter, wiederrum andere präsentierten einen Antrieb, der ein solch waghalsiges Manöver gar unnötig erschienen ließ. Letztendlich versprach jede Methode Erfolg. Kurz vor dem ultimativen Kraftakt zwischen den Krieg führenden Parteien gelang es allen Beteiligten, ihr Raumschiff von der Erde aus zu starten, oder direkt aus der Umlaufbahn heraus auf die Reise zu schicken. Eines hatten alle Raumschiffe gemeinsam: Einen Computer, der alles kontrollierte, alles lenkte. Und CHE gab es genau zweiundzwanzig Mal.
Über die ‚Argonaut‘ herrschte CHE-12. Er war es, der das Schiff steuerte, leichte Kurskorrekturen vornahm, für das Wohlbefinden der Crew in ihren Behältern sorgte. Es gab kein Heute, kein Morgen, kein Gestern. Keine Gegenwart, keine Zukunft, keine Vergangenheit. CHE-12 besaß kein Zeitgefühl. Nur eine rückwärts laufende Uhr, irgendwo im riesigen Rumpf des Schiffes versteckt, zeigte an, wenn CHE-12 die Dauer der Reise ein wenig veränderte. Sekundenbruchteile wurden dann hinzu gerechnet, oder abgezogen. Je nachdem, wie sehr der Kurs von der einprogrammierten Route abwiech. Jedoch unausweichlich verging Sekunde um Sekunde, in denen die ‚Argonaut‘ durch den Raum schoss, bis sie einen Punkt erreichen und CHE-12 seinen Befehlen entsprechend das langsame Abbremsen einleiten würde. Anschließend würde er die Crew von ihrem jahrelangen Tiefschlaf erlösen. Einige Stunden später würden die Menschen an Bord das Kommando übernehmen und den kurzen Rest der Reise das Schiff navigieren. CHE-12 wäre dann zwar immer noch ein enorm wichtiges Rad im Getriebe, aber bei weitem nicht mehr so wichtig, wie er es am jetzigen Punkt der Reise war. Klugerweise hatten Ingenieure, Designer, Wissenschaftler und Programmierer darauf verzichtet, der CHE-Reihe einen denkfähigen Prozessor einzubauen, der individuell reagieren und entscheiden konnte. Unzählige Szenarien wurden diskutiert und beraten, die realistischen Lösungen in die Routinen der Rechner einprogrammiert. Eine plötzliche ‚Neurose‘, wie man sich hinter vorgehaltener Hand zuraunte, wollte und konnte man nicht riskieren. Kubricks Klassiker „2001“ war zwar seit mehr als zweihundert Jahren überholt, hatte aber Möglichkeiten gezeigt, wie eine Mission scheitern konnte.
Verbleibende Flugdauer: 04Y / 09M / 12D / 03H/ 46M / 12S
Kleine mechanische Drohnen glitten über die leeren Korridore des Schiffes, beseitigten Staubpartikel, überprüften Zustand der Elektronik und die Verkleidungen der Wände, kontrollierten die Schlafbehälter der Menschen. CHE-12 wiederholte unablässig Schritt für Schritt der ihm einprogrammierten Codes. Immer und immer wieder. Sekunde für Sekunde. Unaufhaltsam steuerte er die ‚Argonaut‘ auf den finalen Punkt ihrer Reise zu. Ab und an änderte er leicht den Kurs, wenn etwa Asteroiden die Bahn zu kreuzen drohten, oder Partikel eines heftigen Sonnensturms sich gefährlich dem Schiff näherten. Die Tage vergingen und wurden zu Wochen und Monaten. Während auf der Erde sich die dunklen Wolken langsam auflösten, und die wenigen Überlebenden seit Jahren wieder einmal den Anblick der Sonne erleben durften, schossen die ‚Argonaut‘ und die anderen Schiffe durch den Raum einer neuen Welt entgegen. Und dann, eines Tages, passierte etwas, das in keiner der millionen Programmzeilen von CHE-12 verzeichnet war.
Verbleibende Flugdauer: 03Y / 01M / 04D/ 20H / 12M / 47S
Direkt unter dem Rumpf der ‚Argonaut‘ hatte sich etwas festgesetzt. Alle Abwehrmaßnahmen brachten keinen Erfolg. CHE-12 ging die Aufnahmen durch, welche die digitalen Kameras an den Außenflächen zum Zentralrechner sendeten, konnte aber nichts Vergleichbares in dem terrabyte großen Archiv finden. Alle Drohnen befanden sich im riesigen Versorgungstrakt. Fünfzig Zentimeter Titan trennten sie von dem merkwürdigen Etwas, das wie aus dem Nichts aufgetaucht war und nun CHE-12 mehr beschäftigte, als die letzten Jahre zusammen. Surrend versuchten sie mit ihren winzigen Sensoren und Antennen durch die Wand hindurch das fremdartige Ding zu analysieren. Zwecklos. CHE-12 wies das System an, die Bordcrew zu wecken.