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Aria
Rauschend stürzte der Wasserfall hinab in den kleinen See. Auf vollgesogenen Blättern spiegelten sich Sonnenstrahlen und tauchten die Lichtung in funkelndes Licht. Ein Regenbogen wölbte sich über der aufgeregten Wasseroberfläche. Aria kniete mit ihrer zierlichen Gestalt auf einem Felsblock direkt am Rande des Sees und spürte die feinen Wassertropfen, die der Wind zu ihr hinüber wehte. Sie prickelten auf ihrem Gesicht. Mit ihrem dunklen Umhang war Aria der Schatten inmitten dieses Farbenspiels. Sie erinnerte sich, wie sie zum ersten Mal an diesen Ort geführt wurde: Als fröhliches Kind, lachend im Wasser spritzend mit Erena und Albora, ihrer Mutter am Ufer ein strahlendes Lächeln zuwerfend, voll von kindlichem Übermut bei diesem himmlischen Vergnügen. Die Ehrfurcht vor dem See des Lebens, wie ihr Volk diesen Ort nannte, wurde ihr am selben Abend eingeflüstert. Hier fanden Luft, Wasser und Erde zusammen wie sonst nirgendwo. Als Aria sich einige Jahre später mit den Elementen und den Wäldern verband, füllte sie diese Ehrfurcht völlig aus; in ihrem Herzen, ihrem Körper und in ihren Gedanken. Darauf war sie stolz. Stolz, Wanderin ihres Volkes genannt zu werden.
Es folgte eine lange Zeit des Begreifens. Ihre Magie war vor allem eine Frage des geduldigen Fühlens der Natur und ihrer unglaublichen Widersprüche: Die Kraft eines Jahrhunderte alten Baumes, die Energie des Wassers, wenn die Wellen tobten oder die Macht des Windes im Sturm. Gleichzeitig die Verletzlichkeit einer Knospe, die Leichtigkeit eines Tropfen oder eines Windhauchs. Die Natur konnte alles sein, vereinte alle Gegensätze. Und wer sie fühlte, in sich aufnahm und verstand, dem wohnte auch ihre Kraft inne. Aria beherrschte jetzt die Macht der Natur, besaß ihre Anmut, ihre Fröhlichkeit, ihre Freude. Und manchmal ihre Grausamkeit.
Jetzt konnte sie ihr Spiegelbild nur noch schemenhaft im Wasser erkennen, es war nur noch eine Frage von Minuten bis die Sonne ganz hinter den Bergen verschwand. Ihre tiefschwarzen Augen ruhten abwartend auf dem Wasser, die Spitzen ihres langen dunklen Haars berührten den Felsen. Die Dämmerung schritt schnell voran. Sie schloss die Augen, versank ganz in ihrem Inneren, eins mit den Elementen. Ihre scharf geschnittenen Gesichtszüge spannten sich. In wenigen Minuten würden sie sich verzerren, ihr Denken würde verblassen hinter den anschwellenden Emotionen. Ihr Instinkt würde sie vorwärts treiben. Sie würde den Wald durchstreifen, nur den Zwang zur Erfüllung des Rituals spüren. Während ihre dunkle Erscheinung mit der Nacht verschmolz, würden ihre Augen sehen, beobachten und ruhelos umherschweifen. Aria hatte Angst. Angst vor sich selbst. Denn heute Nacht würde sie jagen.
In der Stille des Waldes klangen die einsamen Geräusche wie ein Donnerschlag. Hier ein brechender Ast, dort eine fallende Eichel. Nicht mehr. Tiere hielten sich in solch einer Nacht fern von diesem Teil des Waldes. Lautlos schlich Aria zum Licht, hörte schließlich das Prasseln des Lagerfeuers. Als sie näher kam, erkannten ihre Augen jede Regung im Gesicht der drei Männer. Pferde waren nicht in der Nähe, das spürte Aria, die Männer waren zu Fuß unterwegs. Hier hatten sie ihr Lager aufgeschlagen, tranken jetzt am Feuer, grölten und lachten. Ihre Kleidung, zwei waren eher zerlumpt, einer trug einen feinen Umhang, kannte sie nicht – es war ihr auch egal, woher sie kamen. Aber sie konnte spüren, wie das Blut im Herzen der Männer pulsierte. Ein kurzer Anflug von Bedauern. Drei. Ein einziger wäre ihr lieber gewesen. Nur diesen einen benötigte sie. Noch ein Blick, dann schlich sie heran und betrat den Lichtkreis des Feuers. Dunkel wie die Nacht selbst, hochaufragend, umgeben von wildem schwarzen Haar erschien sie den Männern. Kurz herrschte Stille.
„Na, was für einen Überraschung.“, rief dann der Erste, „verlaufen?“
„Du kommst uns ja gerade recht.“, grinste der Zweite. „Sie will uns bestimmt den Abend versüßen.“ Die beiden lachten laut auf und sahen sie gierig an. Im Gesicht des dritten Mannes stand lähmende Furcht. Er ahnte, was über sie kam. Langsam ging sie auf den Bärtigen zu, der ihr am nächsten saß, griff in seine Haare und zog ihn auf die Beine. Der Mann schrie und versuchte sie mit der Hand abzuwehren. Mit einer kurzen Bewegung fing sie diese ab und riss mit ihren Zähnen seine Kehle auf. Der Schrei verstummte und machte einem Röcheln platz. Blut sprudelte hervor. Im Rücken spürte Aria den zweiten Mann. Ein Schwert glitt aus der Scheide. Ohne, dass sie sich umdrehte, fuhr ihr rechter Arm geschmeidig nach hinten, zerfleischte mit den Fingernägeln die Brust, drang ins Herz, tötete sofort. Sie achtete nicht mehr darauf, wie der Mann zu Boden fiel, legte den Ersten vorsichtig auf sein Gesicht, so dass sein Blut ungehindert in den Waldboden fließen konnte und sich das Ritual vollendete. Dann schaute sie zum dritten Mann. Er starrte sie an und sah das Blut auf ihren Lippen, Fetzen von Fleisch an den Fingern. Er rührte sich nicht. Ein Augenblick - und Aria verschwand in der Stille der Dunkelheit.
Balzac bewegte sich lange nicht. Keine Regung war in seinem Gesicht zu erkennen, vielleicht ein Lidschlag dann und wann. Lange Minuten vergingen bis er den Kopf zur Seite drehte und sich würgend übergab. Gelber Schleim rann in den Waldboden, vermischte sich an einigen Stellen mit rotem Blut. Hektisch spülte Balzac Wasser in seinen Mund und trank gierig bis sein Beutel leer war. Dann sah er sich um. Seine beiden Begleiter waren tot. Nein, sie waren zerrissen. Das Ritual der Wanderinnen war ihm aus vielen Geschichten der Herren bekannt, die er selbst in den letzten Jahren junge Adepten erzählt hatte. Doch der Unterricht ersetzte keine Erfahrung. Dass diese um so vieles anders, grausamer sein könnte als eine Erzählung, hätte er nicht für möglich gehalten. Erst jetzt bemerkte Balzac sein Zittern und den kalten Schweiß auf seiner Stirn, seinem ganzen Körper. Er hatte den Tod gesehen. Auch den kannte er nur aus Erzählungen. Nie hatte er diesen Hauch so nah gespürt. Seine Augen versuchten am Rande des Feuerscheins eine Bewegung auszumachen, etwas zu erkennen. War sie noch in der Nähe? Wenn er seinem Wissen, hach, seinem Bücher-Wissen, über das Ritual der Waldvölker Glauben schenkte, war sie verschwunden und würde auch nicht mehr auftauchen. Frühestens zum kommenden Neumond, wenn die Nacht wieder so dunkel war wie heute.
Immer wieder sah er vor seinem geistigen Auge, wie sie unter Graf und Orlik wütete – schnell, wild und gewaltig. Balzac raffte hektisch seine Sachen zusammen, zog seinen dünnen Umhang fest um sich und floh von der Feuerstelle. Es mochte ein Weg von gut fünf Stunden sein, bis er Karpina erreichte. Hätten sie nur nicht übernachtet, sondern wären weitergewandert, wie sie es vorgehabt hatten. Nur mühsam kämpfte er sich durch den Wald, hielt aber stur den Weg zur Stadt. Zweige zerschnitten seine Hände und Arme, sein Gesicht. Balzac spürte es nicht, sah nur ihre Augen vor sich – schwarz und grausam. Die erste Wanderin seines Lebens.
Als er am nächsten Tag erwachte, verriet ihm kein Funken seiner Erinnerung wie er in das Haus seines Ordens gekommen war. Langsam richtete er sich auf, hob Beine und Füße aus dem Bett und versuchte zu stehen. Kaltes Wasser aus der bereitstehenden Messingschüssel weckte ihn. Er sah in einen Spiegel, dunkle Ränder unter den sonst meist fröhlich blickenden Augen, erster Schorf auf zwei Schnittwunden an Wange und Kinn. Die Erinnerung kehrte zurück. Aber auch seine Beherrschung hatte er wiedergefunden. Ohne zu zögern, streifte er sich ein langes Hemd über, verließ die Kammer und machte sich auf zu Ronder, dem höchsten Magier des Ordens, seinem Herrn.
Ronder erwartete ihn bereits beim Mahl im mittleren Saal. „Reichhaltiges Frühstück, wo doch der Tag noch nicht einmal sein volles Licht hat“, sagte Balzac mit dem ersten Lächeln seit vielen Stunden.
„Ich sehe, du hattest zu viele Freiheiten in Merkura, Schüler, dass du dir solche dreiste Reden erlaubst. Und offensichtlich hast du zu wenige Stunden Unterricht erhalten, wenn du die Morgendämmerung nicht von der Abenddämmerung unterscheiden kannst. Aber es freut mich, dass du deinen Humor trotz der Erlebnisse nicht verloren hast.“
Das Lächeln verschwand.
„Habe ich so lange geschlafen?“ Er hielt einen Moment inne.
Ronder stand auf, umarmte ihn und sah ihm tröstend ins Gesicht: „Ich freue mich sehr, dich wieder zu sehen. Und vor allem unversehrt.“
„Ich freue mich auch Vater, aber es war eine grausame Nacht.“
„Wir haben es schon gehört, zwei Köhler haben die beiden Leichen gefunden. Der Stadtrat erwägt eine Hundertschaft zur Siedlung am Konesberg zu schicken und Rache zu nehmen.“
„Woher wissen sie, dass es das Waldvolk war?“
„Du selbst hast es der Stadtwache erzählt – zumindest sprachst du halb in Trance von schwarzen Augen, von einer Wanderin, von Blut – der Rest war einfach als die Köhler aufgeregt hier in Karpina eintrafen. Wer hätte gedacht, dass du nach Deiner langen Ausbildung in Merkura so zurückkehrst“
„Aber seit wann erwägt man das Waldvolk anzugreifen? Sie erfüllen ihre Rituale seit Jahrhunderten – oder hat sich hier in den vergangenen Jahren soviel verändert?“, hakte Balzac nach.
„Der Stadtrat will seine Macht zeigen. Schon länger weitet der Herzog sein Einflussgebiet aus und so langsam hat er Karpina damit eingekreist. Nur mit Stärke kann der Rat seine Position hier halten – und diese will er jetzt beweisen. Wir sollen ihn übrigens ebenfalls unterstützen. Ratsherr Kraun wünscht, dass einer unserer Magier seine Männer begleitet.“
„Das werden wir nicht tun, das Waldvolk wird jeden Mann töten.“
„Trifft mein Schüler hier die Entscheidungen? Wir werden. Dem Rat jetzt etwas abzuschlagen, erhöht die Gefahr, dass wir zum nächsten Ziel der Machtspiele werden. Ich werde unseren Orden heraushalten, bis der Kampf zwischen Herzog und Stadt entschieden ist. Hektor wird die Krieger begleiten.“
„Lasst mich gehen, Herr.“
„Fünf Jahre warst du nicht hier. Hast du überhaupt schon in einer Schlacht deine Magie eingesetzt? Wieso sollte ich den Schüler, der gekommen ist, um zum mächtigsten Magier unseres Hauses aufzusteigen, in dieses Gemetzel schicken? Man hat mir berichtet, dass deine Macht nur noch von uns Herren übertroffen wird. Noch. Etwas mehr Erfahrung und weniger Leichtsinn und du wirst ein Magier, wie ihn unser Orden noch nie gesehen hat. Das will ich nicht aufs Spiel setzen.“
„Ich war dabei als die Wanderin ihr Ritual vollzog.“
„Und dort hast du bereits versagt.“
„Ja, ich war wie gelähmt. Aber diesmal weiß ich, was mich erwartet. Ich kann die Männer am besten schützen, vielleicht verhindern...“
„...und außerdem sehe ich noch etwas anderes in deinen Augen.“
Einen Moment war Balzac sprachlos.
Ronder sah ihn durchdringend an. „Gut. Aber achte auf dich. Du hast immer die Macht, dich selbst zu retten. Vergiss die Krieger, wenn es um dein Leben geht. Und nun zieh dich zurück, sobald die Nacht herein gebrochen ist, wird der Tross aufbrechen. Alles weitere, wenn du wieder zurückkehrst.“
„Ja, Herr.“
Nachdenklich sah Ronder seinem Schüler und Sohn hinterher.
Gebrüll, Gestank und Gedränge beherrschten den Marktplatz von Karpina. Es waren sicher nicht die besten Truppen, die der Stadtrat in diesen fast aussichtslosen Kampf schickte, aber wohl die wildesten Männer und Frauen der gesamten Armee. Axtschwingende Krieger, mit langen Bogen bewaffnete junge Frauen und zehn handvoll Speerträger. Balzac schüttelte den Kopf. Was sollten sie mit ihren langen unbeweglichen Speeren ausrichten? Sie eigneten sich als erste Reihe gegen heranstürmende Reiter oder Fußvolk auf offenem Gelände – aber die Angreifer in der Waldlandschaft würden sie nicht einmal sehen, bevor ihre Pfeile sie durchbohrten.
Langsam und unter dem Gebrüll ihrer Hauptmänner setzten sich die Kämpfer in Bewegung und bahnten sich ihren Weg durch die matschigen Strassen der Stadt – nur ängstlich und still beobachtet von den Bürgern. Zu groß schien ihnen wohl die Gefahr, dass einer der Krieger einen langen Blick falsch auffasste. Die Menschen empfanden eher Angst als Bewunderung. Allerdings noch mehr vor dem Waldvolk als vor den Kriegern. Balzac las in so manchen Gedanken auch die Furcht vor Rache für diesen Angriff. Der Rat irrte, wenn er mit dieser Strafaktion, die Menschen auf seine Seite ziehen wollte. Dann passierte der Tross das Stadttor.
Während des langen Marsches durch die Nacht dachte Balzac an die Wanderin. Nie hatte ihn der Anblick eines Menschen innerlich so aufgewühlt. Haare, Kleidung, selbst ihre Augen waren dunkler als jede mondlose Nacht. Er zitterte bei den Gedanken an die Tiefe ihres Blicks. Sie sah tiefer in seine Seele hinein, als es selbst ihm bei anderen möglich war. Und Balzac hatte gespürt, dass sie ihre Kraft anders war als seine. Es gehört zu ihrem Wesen. Er fürchtet sich vor ihr, wie er sich noch nie vor irgendetwas gefürchtet hatte. Er spürte den Tod, wenn er an sie dachte, als ob er in diesem Moment an dem Lagerfeuer sitzen würde und sie ihn als nächstes Opfer auserwählt hätte. Aber er spürte auch Faszination, tiefe Neugier und gar Bewunderung. War das ganze Waldvolk so?
Nach einigen Stunden erreichten die Truppen den Gipfel des Kones. Längst war die Steppe, die Kaprina auf viele Meilen umgab, bewaldetem Gebiet gewichen. Immer wieder wurden dunkle Waldstücke unterbrochen von Lichtungen oder steinigen Hügeln. Der Kones war die höchste Erhebung in dieser Gegend. Von hier aus konnten sie bereits vereinzelte Leuchtfeuer der Siedlung erkennen, die sich vom Dunkel der bald schwindenden Nacht abhoben. Getrennt wurden sie nur noch von einem flach abfallenden Gelände mit vereinzelten Bäumen, die je näher man dem Tal kam, immer dichter wuchsen.
Der Heerführer ließ Balzac zu sich rufen. Er war kleiner aber harter Mann mit wildem dreckigem Haar. Sein Blick war ernst, entschlossen. Seine Hände hart und voller Schwielen. Ein verschmutztes, mit Kerben übersätes Kettenhemd schützte seinen Oberkörper. Er sah Balzac lange an, der in seiner eher zarten und gepflegten Erscheinung ein Widerpart war.
„Wie kannst du uns unterstützen, Magier?“, fragte er fast widerwillig.
„Ich kann einen Teil deiner Männer schützen, eine Aura wird sie umgeben. Entweder die Bogenschützen, damit sie möglichst lang unbehelligt schießen können oder die Truppen mit denen ihr angreifen werdet, damit diese nicht lange bevor sie ihre Gegner erreichen, fallen werden.“
„Dann hätten sie zwei von eurer Sorte senden sollen. Zauberei beherrscht ihr Herren“, das letzte Wort betonte er höhnisch, „einfaches Denken offensichtlich nicht. Wie viele Kämpfe hast Du erlebt?“
„Es wird mein erster sein – aber ich habe das magische Kriegshandwerk gelernt.“ Balzac hielt seinem Blick stand.
„Eine schöne Hilfe. Rennt nur nicht fort, wenn es beginnt.“
„Ich werde tun, was ich kann.“
„Dann schützt zuerst die Lanzenträger.“
Vorsichtig rückten die Truppen gemeinsam vor. Die Lanzenträger an der Spitze, dahinter rund zweihundert Axtschwinger. Mit etwas Abstand folgten ebenso so viele Bogenschützen, die sobald sie auf Schussweite heran waren, das Feuer eröffnen sollten. Umso mehr sie im Schlaf überraschen und töten konnten, desto besser. Langsam und so leise wie möglich bewegte sich der Tross vorwärts. Genau in dem Moment, da sie hielten und der Angriff bevorstand, erfüllte ein Surren die Luft, das jedoch von vorne kam. Die ersten Fußtruppen fielen. Die Überraschung war misslungen. Balzac öffnete sofort den Schirm und umgab sich und die ersten Reihen der Lanzenträger mit dem unsichtbaren Schutz. Die Pfeile des Waldvolks prallten wirkungslos ab. Im Rücken Balzacs wurden kleine Feuer entfacht, an denen die Bogenschützen ihre Pfeile entzündeten. Sekunden später flog ein Feuerhagel auf die Siedlung und die sie umgebenden Bäume zu. Gleichzeitig rückten die Lanzenträger in ihren schweren Rüstungen vor. In wenigen Augenblicken war die Siedlung, die gerade noch in das Zwielicht der Morgendämmerung getaucht war, grell erleuchtet. Überall brannte sich das Feuer seinen Weg. Direkt neben dem Schirm, der wenige Zentimeter hinter Balzac endete, schlugen Pfeile ein, andere erreichten die Bogenschützen und er hörte die Schreie der dort getroffenen Frauen. Balzac zögerte noch einen Moment, wartete bis die Lanzenträger nah genug zum direkten Kampf herangekommen waren und drehte dann den Schild von ihnen weg, nach hinten zu den noch verbliebenen Schützen. Als Balzac seinen Blick wieder nach vorn richtete, sah er drei Wanderinnen am Rande der Siedlung. Schwarz gekleidet erschienen sie in einem kalten blauen Licht. Sie hatten die Augen geschlossen, die Arme eng an ihre schmächtigen Gestalten angelegt. Ein leiser Gesang erklang, eher zu erfühlen, denn zu hören und im nächsten Moment kam Wind auf, der stetig an Kraft zunahm. Dann begann es zu regnen. Nicht stark, sondern feine Tropfen, die sich schnell verdichteten und sich wie eine Wand nassen Nebels über das Land legten. Balzac sah aus der Siedlung Hunderte von Männern des Waldvolkes auf die Lanzenträger zuströmen. Bekleidet mit einem dunklen Schurz um die Hüften und weißen Bändern, die fest um ihren Oberkörper gebunden waren. Sie trugen nur einen kurzen Speer, bewegten sich zielstrebig auf die Spitzen der Lanzen zu. Sie würden von ihnen aufgespießt werden. Die Feuer der Siedlung erloschen im Regen und als Balzac, sich umdrehte, sah er, dass auch bei seinen Bogenschützen nur noch Dunkelheit herrschte. Sofort blickte er wieder nach vorn. Er konnte die eigenen Truppen erkennen. Vom Waldvolk sah er nur noch die drei Wanderinnen in ihrem Licht. Alles andere war im regnerischen Nebel verborgen. Dann hörte er die Schreie der Lanzenträger und Axtschwinger. Mit Grausen sah er mitten in den Gesichtern der Angreifer, genau an der ungeschützten Stelle am Hals die kurzen Speere des Waldvolkes herausragen. Jeder Wurf schien zu treffen, zu töten. Wütend beschleunigten die Angreifer ihre Schritte, um näher an das Waldvolk heranzukommen und sie mit den Lanzen und Äxten zu erreichen.
Balzac eilte nach vorn, ohne entschieden zu haben, was er tun konnte. Den Schutzwall jetzt aufzurichten, war sinnlos, da der Schirm praktisch nicht zu durchdringen war und die Lanzenträger dann selbst nicht angreifen könnten. Aber er konnte einen Mut-Zauber sprechen, der die Angreifer etwas schneller und unbarmherziger machte, sie an den Sieg fest glauben ließ. Vielleicht war es nachher auch wichtig, einen Rückzug zu decken. Balzac wagte sich an den Rand des kleinen Schlachtfeldes heran, sprach die geheimen Worte und richtete sie auf seine Kämpfer. Mit wilden Schreien nahmen die um fast die Hälfte verkleinerten Truppen von Kaprina Tempo auf und erreichten einige der Kämpfer des Waldvolkes. Eine Handvoll Axtschwinger strebte zielsicher auf die drei Wanderinnen zu, die sich augenblicklich zerstreuten. Eine von ihnen wich mit schnellen Bewegungen aus. Sie kam geradewegs auf ihn zu. Drei der Kämpfer waren direkt hinter ihr. Balzac musste sich entscheiden. Er konnte mit seiner verbliebenen magischen Kraft noch einen Zauber wirken, um sie zu verlangsamen, dann aber nachher keinen zweiten Schirm wirken. Er entschied sich, sein langes Messer zu ziehen und ihr entgegen zu treten. Zehn Meter vor ihm, wich sie nach links aus, weiter ab vom Schlachtfeld. Einer der Axtschwinger reagierte schnell und schnitt ihr den Weg ab. Sie war sofort von allen dreien umringt. Dann hielt sie einen Moment inne. Balzac erkannte sie. Einer der Axtschwinger, der mindestens sechs Fuß maß, holte in ihrem Rücken kurz aus und schlug zu. Ihre Reaktion war noch schneller. Fast mühelos wich sie aus, schnellte an die Seite des Kämpfers und riss ihm mit ihren bloßen Händen ein riesiges Loch in den Bauch. In seinen Augen stand Überraschung bevor er fiel. Balzac sah das Zögern der beiden anderen - er selbst immer noch unfähig sich zu bewegen. Sofort war sie beim nächsten Kämpfer, zerfetzte seinen Hals und hielt seinen Kehlkopf zwischen ihren Fingern. Diesmal reagierte der verbliebene Kämpfer schnell, und schwang seine Axt. Sie sprang zu Seite, verhinderte, dass die riesige Waffe sie zerteilte, aber ihr schwarzes Gewand war an ihrem Rücken von oben bis unten aufgerissen. Blut rann an ihr herab. Sie richtete sich auf und floh. Ihre Bewegungen waren langsamer geworden. Der Axtschwinger löste sich aus seiner eigenen Überraschung, sie getroffen zu haben und eilte ihr hinterher. Auch Balzacs Beine gehorchten wieder und er versuchte den beiden zu folgen. Der Kämpfer war nun fast bei ihr, schrie lauthals seinen bevorstehenden Sieg heraus. Er holte im Laufen aus und schlug zu, doch die Wanderin wich an einem mächtigen Baumstamm aus und die Axt fuhr hinter ihr ins berstende Holz. In einer fließenden Bewegung umrundete sie den Baum, tauchte hinter dem Kämpfer auf, der seine Axt aus dem Stamm ziehen wollte, und riss ihm seinen Rücken auf. Er sackte auf der Stelle zusammen. Balzac hatte beide fast erreicht, als sie sich zu ihm umdrehte. Er sah das blaue Licht in ihren Augen, wie es ihre schwarze Iris umgab. Angst überkam ihn, fasste sein Inneres, eine irrsinnige, mächtige Natürlichkeit umgab ihn. Sie sah ihn an, schien zu einem tödlichen Sprung anzusetzen. Dann knickten ihre Beine weg, sie sank zu Boden und das seltsame Gefühl verließ Balzac.
Allein stand er zwei Meter vor der Wanderin, die auf dem Waldboden lag, blutete und sich nicht mehr bewegte. Weit entfernt hörte er nur noch leise die Kampfgeräusche. Langsam kniete er sich neben sie und legte eine Hand auf ihre Schulter, um vorsichtig den Umhang beiseite zu schieben und ihre Wunde frei zu legen. Seine Hand schrak zurück. Ihr Körper war kalt wie Eis. Balzac zögerte einen Moment, dann nahm er seinen Mut zusammen und legte seine Finger weit gespreizt an den oberen Rand der Wunde, die wenige Zentimeter über dem Nacken begann. Ohne eine Sekunde daran zu denken, dass er keinen weiteren Zauber mehr würde wirken können, bevor er nicht eine Weile geschlafen hätte, sprach er die Worte der Heilung und strich dabei vorsichtig an der noch immer blutenden, kalten Wunde hinab. Weit schneller, als er es je an anderen Verletzten gesehen hatte, schlossen sich Fleisch und Haut. Sie musste trotz ihrer Erschöpfung über starke Selbstheilungskräfte verfügen. Mit einem Satz sprang Balzac auf. Er hatte soeben einen Feind geheilt, eine grausame Mörderin, die seine zwei Begleiter und drei Kämpfer praktisch zerfleischt hatte. Aber er spürte, dass hier nur der Verstand zweifelte. Balzac war fasziniert von dieser Wanderin, von ihrer Kraft, die er bei diesen Kämpfen beobachten konnte, die er fühlte, als er sie gerade berührte und die sie wie eine Aura umgab. Und da war noch etwas, das er noch nicht begreifen konnte. Er beugte sich zu ihr hinab und drehte sie vorsichtig auf den Rücken. Behutsam strich er ihr das wilde Haar aus dem Gesicht und fühlte ihre Stirn. Sie war warm, von der eisigen Kälte, die sie noch vor wenigen Augenblicken ausgestrahlt hatte, war nichts mehr zu spüren,. Balzac betrachtete zum ersten Mal ihre Gesichtszüge. Wie sanft sie wirken konnte. Die langen, dunklen Wimpern fielen ihm zuerst auf dann die darüber liegenden feinen Augenbrauen. Ihre fast durchscheinende Haut, unter der sich hohe Wangenknochen abzeichneten, stand in völligem Gegensatz zu ihrem pechschwarzen Haar. Ihre Lippen waren ebenfalls ungewöhnlich dunkel, fast bläulich. Ihre Brust hob und senkte sich in ruhigem Takt. Balzac fühlte sein Innerstes. Dies war keine Neugier, keine Angst im gewohnten Sinne. Es war Aufregung und gleichzeitig ein Kribbeln, ein wohliges, warmes Kribbeln. Wie Ameisen, die in seinem Magen auf und ab tanzten. Verwirrung. Plötzlich blickte er in ihre geöffneten schwarzen Augen und schreckte zurück. Sie sah an ihm vorbei, zischte einen kurzen Laut. Dann erst spürte Balzac die Bewegung hinter sich.
Er erwachte in einer nur schwach beleuchteten Hütte. Vorsichtig hob er seinen Kopf und wartete auf ein schmerzendes Gefühl. Doch er fühlte sich unversehrt, obwohl er sicher war, einen Schlag auf den Hinterkopf bekommen zu haben, bevor er das Bewusstsein verlor.
„Dir geht es gut, du bist unverletzt. Wäre ich nicht im letzten Moment erwacht, hätte er dich mit der Spitze statt dem Schaft des Speeres getroffen, und du würdest jetzt auf dem Haufen mit den anderen Leichen eures Volkes liegen.“
Sie saß einige Meter von ihm entfernt, an die Wand gelehnt, die Beine angezogen und mit den Armen umschlungen wie ein kleines Kind.
Er sah in ihr Gesicht. „Und auch du wärest nicht mehr am Leben, hätte ich deine Wunde nicht versorgt. Obwohl du unsere Männer getötet hast.“
„Du warst auch im Wald, als ich das Opfer der Erde darbrachte.“ Es war eine Feststellung. „Warum hast du mich gerettet?“, fragte sie leise.
Während Balzac über eine Antwort nachdachte, spürte er, wie ein leichter Windhauch seine Gedanken streifte. Er sammelte seine mentalen Kräfte und schirmte sich ab. Das Gefühl verschwand sofort.
„Du bist stark, aber du hast Angst. Das ist seltsam. Also dann sprich, wenn es dir auf diese Weise leichter fällt: warum hast du mich gerettet?“
„Es war ein Gefühl, das in mir lag. Ich habe es einfach getan.“ Dann versuchte Balzac seinerseits ihre Gedanken zu lesen. Langsam sandte er einen sanften Impuls, fühlte vorsichtig in ihrem Innern und spürte überrascht, dass ihn nicht einmal die Gegenwehr eines einfachen Bauern erwartete. Im Gegenteil. Seine suchenden Gedanken wurden begrüßt, offen empfangen, fast hatte er das Gefühl, dass sie umschmeichelt, gar liebkost wurden.
„Wenn du mich lieber in meinem Inneren finden möchtest.“, hörte er sie, nein, fühlte er sie antworten. Sein Körper zitterte unter den zarten Berührungen ihrer Gedanken. Sie schmiegten sich an ihn. Er spürte in ihr eine Leichtigkeit, eine Unbeschwertheit und Sanftheit, die auch ihn erfasste. Sie lockte ihn, streichelte ihn und lud ihn ein, sie ganz zu erfassen und zu erfahren. Er ließ zu, dass sie ihn an sich band, sich mit ihm vereinigte. Balzac war fasziniert von der Natürlichkeit, von dem Leben, dass in ihr pulsierte und an dem sie ihn Teil haben ließ. Nie hatte er sich bisher so von Kraft erfüllt gefühlt, die dabei gänzlich anders war, als die Kraft der Herren, die vor allem aus Konzentration und Anstrengung bestand. Keine Bedenken bei ihr, keine Schranken – nur völliges Hingeben. Balzac fühlte sich zurück versetzt in seine Kindheit. In munteres unbedachtes und unbeschwertes Spielen und Lachen. Dann spürte er, wie er als Kind auf Wiesen tollte, das Gras unter seiner nackten Haut wuchs und lebte. Wie jeder einzelne Halm ihm Leben schenkte. Nie hatte Balzac sich so lebendig, so eins mit der Welt gefühlt. Er sah sich auf Bäume klettern und unter seiner Hand die Rinde ihm Kraft schenken hinauf zu steigen. Dann wieder spürte er prickelndes, kühlendes Wasser, wie einen sanften Wasserfall, der jeden Zentimeter seines Körpers erfrischte. Balzac fühlte das Leben und zum ersten Mal ganz sich selbst. Irgendwann holte sie ihn zärtlich zu sich zurück. Balzac löste sich nur widerwillig aus ihren Gedanken und sah sich etwas erstaunt zurück in der Hütte. Er blickte sie an voller Überraschung, voller Zuneigung. Einige Minuten schwiegen sie beide.
„Was war das?“, fragte er zitternd.
„Das Leben.“
„Zeige mir mehr davon, mehr von dir.“ Er war über sich selbst erstaunt, diese Worte so frei heraus auszusprechen. „Es ist anders, so viel mehr als alles, was ich bisher erleben und erfahren durfte. Ich kann es schwer in Worte fassen.“
Minuten verstrichen.
„Bitte.“
„Du kannst nicht bleiben.“, sagte sie sanft.
„Warum nicht? Mein Herz begehrt es.“
„Das Waldvolk bleibt unter sich. Immer. Aber ich habe dir zu danken. Erinnere dich immer daran, was in Deinem Herz verborgen ist, denn du hast einen Feind gerettet.“ Balzac setzte an zu sprechen, dann spürte er eine schnelle Bewegung ihrer Gedanken und ihm wurde schwarz vor Augen.
Er erwachte am Rande einer kleinen Lichtung. Langsam hob er den Kopf und sah sich verwirrt um. Er befand sich nur eine gute Stunde entfernt von Karpina. Die Siedlung des Waldvolkes lag fernab im Norden. Neben ihm lag ein Beutel mit Brot, ein Gefäß mit Wasser und eine weiße Rose. Mit einer Blüte zwischen seinen Fingern spürte Balzac die frische Erinnerung an die Kraft der Natur. Er sah sich um und hoffte, sie würde neben einem Baum stehen und ihn beobachten. Fast als könne er ihren Blick auf sich spüren. Doch er war nur umgeben von Wald und Wiesen. Während er sich mit dem Wasser erfrischte, wusste Balzac, dass er nicht nach Karpina zu den Herren und seinem Vater zurückkehren konnten. Er hatte mehr erfahren, als er je erlernen konnte und er wusste, dass einstudiertes Wissen ihm nicht ausreichen würde. Jetzt nicht mehr. Balzac stand auf, schulterte den Beutel und machte sich auf nach Westen.
Aria sah in das klare Wasser ihres Sees. Sie verfolgte seine Schritte bis er zwischen den Bäumen verschwunden war, sandte ihm einen sanften Gedanken nach und kehrte dann zurück zu ihrem Dorf.