- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 4
Arnes Muse
Dirk sah aus dem Fenster und blickte in Schwärze. Der Blick in den Spiegel und damit in ein müdes und verwittertes Gesicht war nicht minder resignierend. Und als Arne durch die Tür kam, beschlich Dirk das bezwingende Gefühl, die Distanz zwischen ihnen sei nicht nur räumlich. Und so führten Dunkelheit, Hässlichkeit und Angst zu einer Verzweiflungstat, die aus den flehend gesprochenen Worten „Heirate mich.“, bestand.
„Mach endlich die Rouleaus hoch, Dirk, rasier‘ und wasch dich mal wieder- und trotzdem heirate ich dich nicht.“
Dirk verlebte seine Tage in gewählter Isolation, die manchmal durch Arne unterbrochen wurde, aber Arne hatte noch ein anderes Leben. Eines außerhalb.
Das Außerhalb war Dirk feindlich geworden und Arne die einzige Verbindung.
Am Anfang, vor fünf Jahren, hatte Dirk noch Angst gehabt, verrückt zu werden, ginge er nicht mehr raus. Mittlerweile war ihm selbst das egal geworden. Vielleicht brächte ihm der Wahnsinn ja neue Erkenntnis. Aber er hatte noch einen Anhaltspunkt, der ihm zur Argumentation entgegen eines bereits eingetretenen Wahnsinns diente, eine bildliche Vorstellung: Sein Gehirn war ein Topf, in dem eine Pflanze gedieh. In all den Jahren bildete sich eine Erd- und Kalkkruste um den unteren Topfrand, die jedoch nur sichtbar wurde, verrückte man den Topf.
Und da Dirk noch nichts von diesem Rand sah, der nur bei Verrückung sichtbar wurde, stand noch alles, wo es sollte.
Zufrieden legte er sich ins Bett und versuchte sich zu erinnern, ob Arne ihn heute oder gestern beleidigt hatte. Er wusste es nicht mehr, aber bei den vielen verdichteten Ereignissen, die hier in seinen vier Wänden stattfanden, konnte er Kleinigkeiten schon mal vergessen.
Sein Freund kam aus dem Bad und ging an den Schrank.
„Kommst du ins Bett?“
Arne drehte sich zum Antworten nicht mal um. „Ich geh arbeiten.“
Dann sah Dirk zu, wie sich sein schöner Freund ein weißes Hemd anzog.
„Wie schön du das zuknöpfst. Das sieht bei dir aus wie ein Striptease rückwärts.“
Knapp gab Arne etwas kaum verständliches zurück, dass Dirk als „Wenn du meinst“ interpretierte.
Im Büro war es still und dunkel, leer bis auf Arne, der seinerseits auch wieder leer war. Sein Gemüt war wie diese Räume, dunkel und leer. Vielleicht nicht derart verlassen, aber das bedauerte er eher.
Arne griff zum Telefon und sagte mit matter Stimme, er komme später. Als er den Hörer aus der Hand legte, rieb er sich über die Stirn.
Er hatte nicht mal Lust in sein Auto zu gehen, das schon lange zum Müllwagen geworden war. Er mochte Dreck und Unordnung nicht, aber davon gab es in seinem derzeitigen Leben genug. Alles schwamm vor sich hin. In Wasser, das zwar klar, aber trotzdem vergiftet war. Keine undurchsichtige Brühe, aber das war Trug. Es tummelten sich kleine krankheitserregende Tiere darin.
Ein Tierchen wie sein Freund, der sich jetzt zu Hause ins Bett legte und einverstanden war, ohne Arne zu schlafen, dafür aber am nächsten Tag umso mehr darauf drängen würde, mit ihm zu schlafen.
Auf dem Bildschirm schloss Arne das CAD-Programm und wartete, dass der PC auf seinen Befehl herunterfuhr. Er dachte schon wieder an Dirk. Alles in seinem Leben war Dirk, dieser Parasit, gegen den er machen konnte, was er wollte- Dirk würde nie auch nur einen einfachen Befehl von Arne ausführen, aber immer von ihm zehren.
„Weißt du, dass mein Name aus dem Griechischen kommt?“, fragte das blonde Mädchen neben ihm, bevor sie fast vom Barhocker fiel, hätte Arne sie nicht festen Griffes an der Taille gepackt.
„Na so was“, sagte er etwas spöttisch, und blieb in Bereitschaft, sie noch einmal zu halten, als sie unsicher auf den Hocker kletterte.
„Aaaalso…“, hob sie an, „Hast du nen Stift? Du hast nen Stift. Das seh ich. Bestimmt in der Brusttasche deines weißen Hemdchens. Du Blondchen bist ein Büroschimmel, oder?“
„Nein, ich stecke keine Stifte in meine Hemdtasche, könnte Flecken machen.“, sagte er ebenso trocken wie es der Martini war, von dem er trank. Als er ihre Hand auf seinem Oberschenkel spürte, packte er ihr Handgelenk und zog sie vom Stuhl. „Hör mal- ich würd das lassen, okay?“
Plötzlich stand sie still, das Schwanken von eben war verebbt, die Unsicherheit war auf ihren Blick übergegangen.
Er sah sie immer noch mahnend an, ließ aber langsam los und wandte sich dann wieder ab.
Im Augenwinkel sah er sie ihr Glas nehmen und gehen. Ruhe.
Ruhe war das Einzige, was er sich wünschte, und es war wirklich alles was Arne wollte. Auszeit, Pause- Ruhe vor kaputten Spinnern.
Es dauerte nicht lange, bis der einzige freie Platz in der Bar der neben Arne war, und das Mädchen wieder obdachlos war. Aus Schuldgefühl sah er sie wohlwollend an und erteilte ihr damit die Erlaubnis, diesen Platz wieder einzunehmen. Diesmal tat sie es mit noch stärkerer Alkoholfahne. Als sie anhob etwas zu sagen, hob Arne mahnend den Finger.
„Hör mal, ich bin hier sozusagen auf der Flucht vor solchen wie dir, also bitte- mach mir den einzig angenehmen Ort nicht verhasst.“
„Es gibt hundert Bars, du kannst überall hin, wo ich nicht bin.“, sagte sie, und erstaunte ihn mit ihrer plötzlichen Bitterkeit. Sie hatte einen neuen Wirkungsgrad des Alkohols erreicht. Arne kannte diese aus Erfahrung mit Dirk. Von lustig über aggressiv hin zu depressiv. Bei Dirk war besonders die letzte Stufe am schwersten zu ertragen.
Arne warf ihr einen Seitenblick zu und betrachtete sie, nicht ohne Mitleid zu spüren.
„Verdammt. Tut mir leid.“
„Ach ja?“ Sie lächelte und schüttelte den Kopf, „Ich heiße Thalia. Das ist aus dem Griechischen. Ich kann es sogar schreiben. Aber dich beeindruckt man bestimmt nicht damit. Sonst kann ich das, bei dummen Kerlen. Die denken dann alle: Scheiße ist die gebildet- besonders wenn ich‘s besoffen tu. Ich wollte dir ja nicht an die Wäsche. Ich wollte erst mal nur… deinen Stift- und deinen Namen.“
Sie hatte die Augen halb geschlossen und stützte sich mit dem Ellbogen auf die Theke. Arne hielt sich in Bereitschaft, sie erneut zu halten, fiele sie.
Er seufzte und sagte ihr seinen Vornamen.
„Was machste denn so, Arne, du Büroschimmel?“, fragte sie mit einem matten Lächeln.
„Innenarchitekt.“
„Hum… so siehst du auch aus. Schwul?“
„In Teilzeit.“
„Na das ist originell.“
Er hob sein Glas und stieß mit ihr an, wobei sie den Inhalt ihres Glases beinahe gänzlich verschüttete, was Arne jedoch als positiv einstufte. So landete es wenigstens nicht in ihr.
„Du bist alt, oder?“, fragte sie, und fügte dann entschuldigend hinzu, „Also für eine Neunzehnjährige wie mich.“
„Vierzig.“, sagte er zwischen zwei Schlucken Martini, „Ich könnte dein Vater sein, da war es nur richtig dich zu maßregeln.“
„Willst du mich ohrfeigen?“
„Nein, das bestimmt nicht.“, gelassen trank er einen weiteren Schluck und vertiefte sich in seine Müdigkeit, bis er leicht erschrak, als sie ihren Kopf auf seine Schulter legte.
„Kannst du mich halten?“
Er spürte sie schwerer werden, immer mehr verlagerte sich ihr Gewicht auf ihn, und ihre Bitte wurde zur Notwendigkeit, wollte er nicht mit ihr zur Seite fallen.
An seiner Schulter flüsterte sie: „Wir sollten zusammen in ein Schnittke Konzert gehen. Seine Musik ist so dramatisch düster wie du.“
„Sag mal, Thalia, weinst du?“, er hielt sie mit dem einen Arm, und hob ihren Kopf unterm Kinn an, „Gut, sieh mich an. Ich geh mit dir raus uns setz dich in ein Taxi. Das fährt dich Heim.“
„Da willst du doch auch nicht hin, Heim.“
„Nein.“, er zuckte mit den Schultern, „Aber das ist etwas anderes. Ich bin erwachsen.“
„Ja, und teilzeit schwul. Was auch immer… “
In dem Moment fiel ihm auf, dass sie ihre Hand wieder auf seinem Oberschenkel hatte, aber diesmal wahrscheinlich aus praktischen Gründen. Ein guter Ort zum Abstützen.
Eigentlich sollte Arne den Fehler, den er Dirk vorwarf, nicht auch machen, aber er hatte das bezwingende Gefühl, dieser Abend erlaubte ihm kein anderes Handeln.
Ein weiteres Getränk stand wenige Momente später vor ihm, dem, der ein fremdes Mädchen tröstend in den Armen hielt und sich vorrangig betrinken wollte.
„Wenn die hier ein Schachbrett hätten, würde ich dir schon zeigen, dass ich nicht dumm bin.“, flüsterte sie.
„Ich denke nicht, dass du dumm bist. Leichtsinnig vielleicht.“
Arne fühlte sich nicht im Geringsten angetrunken, konnte aber nicht erklären, warum jede Wirkung der alkoholischen Getränke ausblieb.
„Hast du grade einen Freund?“, fragte sie aufblickend.
Ihre Augen schienen alles Licht dieses im Schummrigen liegenden Raumes zu absorbieren, um es in hellem Grün rück zu strahlen. Der Rest ihres Gesichtes jedoch verriet leise das Geheimnis ihres Rumreitens auf dem Intellekt. Er seufzte, als er sagte: „Seit vierzehn Jahren.“
„Ah!“, rief sie eilig, „Sechsundzwanzig. Seit du sechsundzwanzig bist hast du ihn also! Siehst du, ich bin noch ganz fix im Rechnen.“ Ihr nachgeschicktes Lachen stand umso heftiger im Kontrast zu dem was sie noch imstande war zu sagen.
„So, und jetzt Arne…“, sie setzte sich und versuchte aufrecht, aber an der Theke abgestützt zu sitzen, „…werde ich deine Psychologin. Was ist dein Zuhauseproblem?“
„Einen besoffenen Therapeuten hatte ich auch noch nicht. Na gut. Er hat vor fünf Jahren seine Arbeit verloren- seine Galerie. Er hat es als… Versagen seiner Person angesehen, nicht nur beruflich. Und er geht nicht mehr raus. Ich denke er würde nichts mehr essen wenn ich mich nicht drum kümmerte.“
„Also fühlen wir uns verantwortlich für ihn.“
Arne hob resigniert den Daumen, „Richtig.“
„Wollen wir das psychoanalysieren?“
Er sah sie etwas befremdet an und schüttelte dann den Kopf.
„Na gut, ich bin auch zu erschöpft.“ Sie sank mit dem Kopf langsam auf die Theke und sah ihn an, „Gib mir deine Hand.“
Er zögerte, gab dann nach und legte seine Rechte neben ihren Kopf. Lange, schien ihm, sah er ihr dabei zu, wie sie seine Hand betrachtete. Plötzlich fiel ihm etwas auf, das er nur so derart scharfsinnig fand, weil der Alkohol doch wirkte, „Fünf Finger- fünf Jahre. Es ist genug. Dirk hat mir eine ganze Hand genommen. An die Zweite geht er nicht auch noch.“
Als er seine Rechte zurückzog, und sie in die andere legte, sie eingängig ansah, war Thalia das erste Mal befremdet von ihm.
„Wieso hast du mir das vorhin gesagt? Mit dem teilzeit?“, fragte sie sich aufsetzend und ihn stark ins Auge fassend.
Erschrocken wie er war, über ihren Kopf auf seiner Schulter, war er jetzt allein durch ihren Blick. Und plötzlich verhalf ihm das Angetrunkensein zu einer neuen Logik. „Du wolltest auf das Unbewusste kommen. Du wolltest mich dazu bringen, zu sagen, ich hätte dir unbewusst gesagt, dass ich…“
Sie nickte, nicht mit einem Lächeln, ihre Augen leicht verengt und den Mund fest geschlossen.
„Gibst du mir jetzt einen Stift?“
Er griff verwirrt in seine Jackentasche und reichte ihr einen schwarzen Kugelschreiber.
Sie griff nach einer Serviette, beschrieb sie, drehte sie um, legte den Kugelschreiber darauf und ging, sich mit einem Kuss auf Arnes Schläfe verabschiedend.
Als sie weg war drehte er das Papier um, auf dem griechische Lettern und eine lange Nummer standen.
Als Arne die Bar verließ und auf den Parkplatz trat, fiel es ihm schwer zu beurteilen, ob er noch fahren konnte. Er fuhr. Kaum Verkehr in dieser Nacht, und der Leichtsinn zwang ihn, an einer Kreuzung die rote Ampel zu überfahren. Er überlegte und kam zu dem Schluss, dass er bei dem ganzen Mist in seinem Leben wenigstens einmal Glück haben müsste. Hatte er.
Kaum hatte er die Tür geöffnet, schmiegte sich Dirks magerer Körper an ihn. Wegen solchen Unglücksfällen konnte er es sich leisten, bei rot zu fahren. Dirk schnurrte leise, als seine Finger knochig und kalt über Arnes Oberschenkel fuhren, sich den Weg durch die Hose bereits gebahnt hatten. Was war mit Widerstand?
Er griff nach Dirks Handgelenk, was dieser jedoch nicht als Abwehr, sondern Richtungsweisung deutete. Im Dunkeln sah Arne ein anzügliches Grinsen, das ihm endlich dank Kraft der Abstoßung verhalf sich dem Ungeliebten zu entwinden.
„Was ist?“
„Du überfällst mich hier regelrecht und fragst was ist?“
Arne drehte sich um, sah Dirk im Dunkeln in die Augen und stellte fest, dass es wirklich nur noch Verantwortungsgefühl war, das ihn hielt. Wäre es anders, wenn Dirk nie so Bemitleidens würdig geworden wäre? Die Frage stellte sich jetzt nicht mehr.
„Wie ich dich sehe- das weiß ich- willst du nicht gesehen werden.“
Sie schwiegen. Nur Dirks fragendes Gesicht, der Ausdruck des gänzlichen Nichtverstehens, sprach.
„Ich…“, Dirk rang nach Worten, die er in letzter Zeit wenig gesprochen hatte, „…ich mag wirklich nicht, was hier…grade geht.“, er schlug sich die Hand auf den Mund, vermutlich erschrocken über seine Unfähigkeit zum Sprechen. Arne entging das beständige Zucken in Dirks Hand nicht, ebenso wenig das Zittern in den sehnigen Beinen.
„Du musst zum Arzt, zum Therapeuten, zum Entzug- wirklich. Und das bald. Ich habe die Zeit verschwendet. Ich habe einfach weitergemacht. Aber mein Alltag ist nicht gefährlich wie deiner. Den, den du hier verlebst, dieser Alltag, ist lebensfeindlich. Du hast dich von der Kunst ficken lassen, sie hat dich verlassen, und du bleibst einfach postkoital im Bett liegen. Fünf Jahre.“
„Fang nicht damit an.“, flüsterte Dirk und ging an ihm vorbei.
„Es ist nicht deine Schuld, dass du den Markt unterschätzt hast. Es war deine Liebe zur Kunst und… teilweise zu Künstlern“, Arne berührte eine eigene Wunde, „Aber alles was danach kam, ist deine Schuld. Dieses verblühen im Selbstmitleid… Hör auf. Damit bindest du mich jetzt auch nicht mehr an dich. Wenn ich jetzt gehe, und du auf dich selbst gestellt bist, tut dir das besser, als wenn ich bliebe.“
Arne sah Dirk nicht nach, aber spürte in seiner Rechten die Serviette und den Kugelschreiber.