Asche
„Wieso geht’s nicht weiter?“ fragte der Junge. Er saß auf dem Rücksitz des Mercedes und umklammerte seinen Rucksack. Luca Lamberti war zierlicher als andere Achtjährige, doch seine vor Angst ausgedünnte Stimme, ließ ihn in diesem Moment noch zerbrechlicher wirken als sonst.
„Ich hab’ keine Ahnung“, antwortete Sofia, die am Steuer saß und sich nach vorne beugte, um die Ursache für den Stau besser erkennen zu können. Doch das Einzige was sie sah, war das Glühen der Rücklichter ihres Vordermannes, das verschwommen durch den Schmutz auf der Frontscheibe drang.
Ihren Mann Enrico hatte sie vor einer Stunde zum letzten Mal über das Handy erreicht.
„Ihr müsst zum Hafen fahren“, hatte seine Stimme kaum noch verständlich aus dem Telefon geschnarrt. „Nehmt das Boot, der Schlüssel hängt neben der Tür. Ich weiß nicht, ob ich es zu euch ...“
Dann brach die Verbindung ab. Es war Mittag, doch die gewaltige Eruptionswolke des Vesuvs, die sich beinahe über den gesamten Himmel Neapels ausdehnte, hatte nicht nur das Funknetz lahm gelegt, sondern auch dazu geführt, dass die Dämmerung vorzeitig über die Stadt hereingebrochen war.
Vor einem Jahr hatten sie beide geheiratet. Enrico war einundvierzig, zwölf Jahre älter als sie, und er hatte Luca mit in die Ehe gebracht. Sofia versuchte den Gedanken an die Möglichkeit zu verdrängen, dass sie seit einer Stunde Witwe war.
Mit zusammengepressten Lippen stellte sie den Motor ab. Das Hupen der anderen Autos und das Kratzen der Scheibenwischer, bei ihrem immer aussichtsloserem Unterfangen die Asche von der Frontscheibe zu schieben, wirkten wie die Musik einer Totenkapelle für eine untergehende Stadt.
„Wir müssen zu Fuß weiter“, sagte Sofia und schaute in den Rückspiegel. Sie musterte den zitternden Jungen, der sich hinter seinem Rucksack in die Ecke der Rückbank drückte und sie mit weit geöffneten Augen anstarrte.
„Nein, ich bleibe hier“, erwiderte er und hustetet. Sie hatte die Belüftung zwar auf Umluft gestellt, doch von Minute zu Minute krochen immer mehr der schwefeligen Dämpfe ins Wageninnere.
„Ich will zu Papa!“
„Enrico ist nicht hier und er kann uns jetzt nicht helfen.“ Sie drehte sich zu ihm um. „Vertrau mir doch, wir werden das schaffen.“
„Ich geh’ nicht mit dir mit.“ Er drückte sich noch tiefer in den Sitz. „Ich warte hier, bis Papa mich holt.“
Sofia spürte Wut in sich aufsteigen, doch sie unterdrückte den Impuls zu schreien und legte stattdessen ihre Hand auf sein Knie.
„Luca, bitte!“, sagte sie. „Wenn du Papa wiedersehen willst, müssen wir losgehen.“ Sie blickte ihm fest in die Augen. „Hier werden wir sterben.“
Luca wollte etwas erwidern, doch dazu kam er nicht. Ein Knall und das Klirren der explodierenden Frontscheibe ließ beide zusammenzucken. Sofias Starre hielt nur für eine Sekunde an, Glassplitter hingen in ihren rotbraunen Locken wie Bergkristalle, dann schaute sie nach vorne. Ein dampfender Felsbrocken von der Größe eines Kürbisses war in den Motorblock eingeschlagen und hatte ihn zertrümmert.
„Los raus Luca“, schrie sie, doch als sie über die Schulter blickte, erkannte sie, dass der Junge unter Schock stand, unfähig sich zu bewegen.
Sie schüttelte das feuchte Handtuch aus, das auf dem Beifahrersitz gelegen hatte, und drückte es sich vor Mund und Nase. Dann stieg sie aus, rannte um den Wagen herum, riss die Tür auf, hinter der Luca saß, und zerrte den Jungen samt Rucksack auf die knöcheltief mit Asche bedeckte Straße. Sie holte ein zweites Tuch vom Rücksitz und drückte es Luca an den Mund.
„Hier, atme nicht soviel von der Asche ein.“
Luca regte sich nicht, seine Augen fixierten einen Punkt in der Ferne.
Dann krachte es erneut, und diesmal folgten Schreie. Ein weiterer Lavabrocken war zwei Wagen weiter in das Dach eines vollbesetzten Fiats eingeschlagen und hatte es eingedrückt. Blut lief an der Innenseite der noch intakten Heckscheibe herab.
Sofia ging in die Hocke, versuchte Lucas Blick zu treffen und schüttelte ihn an den Schultern.
„Luca, verdammt! Wir müssen hier weg.“
Er reagierte nicht. Asche regnete auf sie nieder, wie der Schnee am Weihnachtsabend ihres ersten gemeinsamen Skiurlaubs in den Alpen. Langsam klarte der Blick des Jungen auf.
„Was ...?“, stammelte er.
„Los jetzt!“, sagte sie nur und zerrte ihn an den Autos vorbei, die Straße entlang. Als sie den zertrümmerten Fiat passierten, aus dem nur noch ein dünnes Wimmern drang, schirmte sie seinen Blick ab.
„Wollen wir nicht helfen?“, fragte er.
„Zu spät.“
„Aber wir müssen ...“
„Geh’ weiter!“, entgegnete sie und schubste ihn vorwärts.
Sie pressten sich die Handtücher vor die Gesichter und stolperten durch die mit Bimssteinen und Trümmern durchsetzte Asche über den dreieckigen Platz an dem die Via San Carlo und die Via Roma zusammentrafen. Immer mehr Menschen verließen ihre Autos und schlossen sich einem Strom an, der für die meisten nur eine Bestimmung hatte - den Tod.
Sofia blickte ständig nach oben, um herabfallenden Trümmern oder Felsen rechtzeitig ausweichen zu können. Stellenweise hatten sie Mühe, sich durch die teilweise verkeilten und mit einem grauen Leichentuch bedeckten Autos hindurch einen Weg zu bahnen. Dann öffnete sich vor ihnen die Fläche der Piazza Plebiscito.
Auf der linken Seite schlugen meterhohe Flammen aus den Fensteröffnungen der klassizistischen Fassade des Palazzo Reale. Verschmorte Papierblätter, Jahrhunderte alt, wehten wie Herbstlaub durch die giftige Luft; mehr war von der Nationalbibliothek und den Gemäldegalerien nicht übrig geblieben.
Sofia blieb kurz stehen und versuchte sich zu orientieren, doch ihre Augen begannen von den ätzenden Dämpfen zu tränen. Von überall her drangen Schreie zu ihr, dumpf, durch die Asche gedämpft. Rechts stand der Dom mit seinem den halben Platz umspannenden Säulengang. In seiner Kuppel gähnten mehrere Löcher, aus denen schwarze Rauchsäulen emporstiegen.
Sofia entschied sich durch die dahinter liegenden Gassen zum Hafen von Santa Lucia zu gelangen, um der Menschenmenge auszuweichen, die zum Fährhafen an der Molo Beverello drängte. Sie zog Luca an der Jacke und sie setzten ihren Weg fort.
Nachdem sie den Dom umrundet hatten, tauchten sie in die engen Schluchten zwischen den Stadthäusern aus dem neunzehnten Jahrhundert ein, wo nur wenige Menschen unterwegs waren; graue Schatten, die durch eine sterbende Welt huschten. Hier regierte das Chaos. Die Tische und Stühle vor den Cafés lagen umgestürzt in der Asche, ein zertrümmerter Verkaufsstand schwelte in einem Hauseingang, der Boden war übersäht mit Glassplittern, Dachziegel und Bimssteinbrocken und über alles legte sich die Asche, unaufhörlich und leise.
Sie liefen schnell weiter. Irgendwo weinte jemand.
Rechte Hand brannte ein Dachstuhl und sie beeilten sich an dem Haus vorbeizukommen.
Sofia betrachtete Luca von der Seite, auf dessen Kopf und Schultern sich eine Ascheschicht gebildet hatte. Sie streckte die Hand aus, um ihm den Staub abzuklopfen, doch er wich ihrer Bewegung aus. Dann sahen sie ein verlassenes Auto der Carabinieri mit geöffneten Türen auf einer kleinen Kreuzung stehen. Die Frontscheibe war von einem Felsbrocken zerschlagen worden, der noch qualmend auf dem Beifahrersitz lag und sich in das Polster schmorte.
„Bleib hier stehen“, sagte Sofia. Luca gehorchte.
Sie ging um das Auto herum und entdeckte einen Polizisten, der mit zertrümmertem Schädel, ausgestreckt auf dem Bauch lag. Sofia starrte auf die Blutlache, die sich neben dem Kopf ausbreitete. Im diffusen Licht sah sie aus wie Teer, unendlich tief, als wäre dort ein Loch in der Realität aufgerissen.
Ihr Blick fiel auf das Holster des Mannes, in dem noch die Dienstwaffe steckte. Ohne lange zu überlegen, nahm sie die Pistole an sich.
Als sie sich wieder aufrichtete, war Luca verschwunden. Augenblicklich schnürte ihr aufkommende Panik die Kehle zu. Sie blickte sich hektisch um, dann erkannte sie in der Gasse, die links von ihr abging, einen sich langsam entfernenden Schemen.
Luca!
Sie schob die Waffe am Rücken unter ihren Gürtel und rannte ihm hinterher.
„Luca, bleib stehen!“, rief sie, doch er schien sie nicht zu bemerken.
„Papa, warte!“, hörte sie ihn rufen.
Etwas weiter die Gasse hinauf sah Sofia einen Mann die Straße entlang torkeln, bei dem es sich eindeutig nicht um Enrico handelte. Luca lief nur langsam und sie kam rasch näher, doch als sie nur noch ein paar Meter von ihm entfernt war, erfüllte plötzlich ein lauter Knall und das Geräusch von zerberstenden Dachziegeln die enge Straßenflucht. Ohne anzuhalten, blickte sie nach oben und sah bereits die ersten Trümmer herabstürzen. Sie machte einen Satz nach vorne, packte den Jungen und riss ihn mit sich in den Schutz eines nahen Hauseinganges. Kaum waren sie auf dem Boden gelandet, als eine Lawine aus Asche und Trümmern vor ihnen auf die Straße krachte und eine Wand aus Staub aufwirbelte. Sie schlossen die Augen und pressten sich die Handtücher vors Gesicht; trotzdem wurden beide von einer Hustenattacke geschüttelt. Als es vorbei war, bemerkte Sofia, dass Luca in ihren Armen leise weinte.
„Schon gut Luca, es ist nichts passiert“ sagte sie und wiegte ihn sachte.
„Das war nicht Papa, stimmt’ s?“ schluchzte er.
„Nein.“
„Werden wir ihn wieder sehen?“
„Ja, Luca, das werden wir. Ganz bestimmt.“
Eine kurze Pause trat ein.
„Es tut mir Leid, Sofia“, sagte er schließlich. „Bist du mir böse?“
„Nein.“ Tränen rollten über ihre staubverkrusteten Wangen. „Nein.“ Sie drückte ihn fest an sich.
„Ich hab’ dich lieb“, flüsterte er.
„Ich dich auch“, sagte sie und versuchte die Tränen zu unterdrücken, die mittlerweile wie Säure brannten.
Sie halfen sich gegenseitig auf und setzten ihren Weg fort. Als sie in die breit angelegte Via Lucia einbogen sahen sie wieder mehr Leute. Dutzende von verlassenen Autos hatten die Straße für den Verkehr unpassierbar gemacht. Vereinzelt lagen erschlagene Menschen dazwischen.
„Da vorne ist es. Wir sind da!“ rief Sofia.
Die Sicht wurde zum Meer hin etwas besser. Sie beschleunigten ihren Schritt und wenige Minuten später erreichten sie die Anlage des Jachthafens.
Hinter dem Hafenbecken erhoben sich schemenhaft, die monolithischen Mauern des Castel dell’ Ovo, über denen schwarzer Rauch aufstieg, konturlos, wie ein Gespenst.
Sofia und Luca liefen die Rampe zum Kai hinunter, auf den Liegeplatz der Segeljacht zu, doch als sie nur noch wenige Meter davon entfernt waren, erstarrten sie bei dem Anblick, der sich ihnen dort bot.
Das einzige was Sofia von dem Boot noch sah, war der Mast, der aus der schlammigen Oberfläche des Hafenwassers ragte. Ein Lavabrocken musste es getroffen und versenkt haben.
Sie spürte, wie sich Verzweiflung in ihr ausbreitete und ihre Gliedmaßen zu lähmen begann. Eine Lavabombe, die unweit in das Hafenbecken klatschte und eine in Dampf gehüllte Schlammfontäne aufsteigen ließ, riss sie aus ihrer Starre heraus. Vielleicht konnten sie ein anderes Boot im Hafen klar machen.
„Sofia, schau, da vorn!“, rief Luca mit sich überschlagender Stimme.
Er deutete auf den Umriss eines Mannes, der auf dem Kai in Richtung Hafeneinfahrt an einer Segeljacht hantierte. Sofia schaute sich kurz um. Außer ihnen und dem Mann war bisher niemand auf die Idee gekommen in den Hafen zu laufen. Doch das konnte sich rasch ändern.
Sie gab Luca ein Zeichen und dann rannten beide auf die graue Gestalt zu.
‚Enrico’, schoss es ihr kurz durch den Kopf, doch als sie näher kamen, erkannte sie, dass es sich um einen jungen Mann handelte, der gerade dabei war die letzte Halteleine des Bootes zu lösen.
„Warten Sie“, rief sie. „Bitte nehmen sie uns mit.“
Er drehte sich zu ihnen um, hielt in der einen Hand das Seilende und hob die andere zu einer abwehrenden Geste.
„Nein, bedaure, wir sind voll.“
Sofia blieb stehen und schaute zum Achterbereich des Bootes, in dem sich lediglich zwei Frauen aufhielten, deren modische Kostüme völlig verdreckt waren.
„Wieso? Da ist doch noch Platz“, sagte sie.
„Mach schnell Marco, wir werden sonst noch getroffen“, rief eine der Frauen.
„Wenn sie mich entschuldigen wollen Seniora“, sagte der Angesprochene, wobei er ausholte um das Tau an Bord zu werfen.
Sofias Herz begann zu rasen – vor Zorn und vor Angst. Mit einer blitzschnellen Bewegung zog sie die Pistole aus dem Gürtel und richtete sie auf den den Mann, der sie mit aufgerissenen Augen anstarrte und das Seil fallen ließ. Sofia hoffte, dass er sich ebenso wenig mit Waffen auskannte wie sie, denn sie wusste nicht einmal, ob die Pistole überhaupt entsichert war.
„Seniora, bitte ...“, stieß er hervor.
„Ich meine es ernst“, erwiderte sie. „Auf dem Boot ist genug Platz für mich und ...“
In diesem Moment erschütterte ein Erdstoß den Hafen und alle drei verloren das Gleichgewicht. Sofia ließ die Pistole fallen, die genau zwischen ihr und dem Mann in der Asche landete. Der rappelte sich jedoch schnell wieder auf und wollte gerade nach der Waffe greifen, als seine Bewegung abrupt erstarb. Luca stand neben ihm. Er war noch schneller aufgesprungen, hatte einen vor der Jacht liegenden Bootshaken aufgehoben und drückte nun dessen Spitze an die Halsschlagader des Mannes.
„Lass sie in Ruhe du …“
„Aufhören!“ drang eine tiefe Stimme vom Boot. “Was soll den das? Hier ist noch genug Platz.“
Im Eingang zur Kajüte war ein älterer Mann aufgetaucht.
„Aber …“, stammelte der am Boden Liegende.
„Kein aber! Lass sie an Bord, Marco“, sagte der Ältere. „Wir legen sofort ab. Und Seniora - keine Waffen an Bord, bitte.“
Sofia ließ ihren Blick noch einmal kurz über den Hafen schweifen, doch von Enrico war nichts zu sehen. Ihnen blieb keine Zeit mehr. Sie stiegen hastig auf das Boot und nur wenige Minuten später fuhren sie bereits auf das offene Meer hinaus. Sofia und Luca blieben draußen an Deck und schauten nach Süden, wo eine gewaltige Aschesäule aus dem Krater des Vesuvs in die staubige Dunkelheit des Himmels aufragte. Blitze zuckten durch die Schwaden, als würde die Wolke jeden Moment zum Leben erweckt werden. Schwarzer Rauch stieg überall aus der Stadt auf, beleuchtet von unzähligen Feuern.
„Mama?“
„Ja?“
„Werden wir Papa wieder sehen?“
„Ja, das werden wir“, sagte sie und wischte sich eine Träne von der Wange.