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Atemübungen
ATEMÜBUNGEN
Von Y.Ella
Sie wusste, dass sie wach war.
Ihr Körper aber gehorchte ihr nicht. Oder gehörte ihr nicht. Etwas war anders.
Sie beließ es dabei und verschwand wieder.
Stunden später schlug sie plötzlich und ohne Vorwarnung die Augen auf. Es dauerte eine Weile, bis sie die weißen Wände um sich herum und den Fernseher unter der Zimmerdecke wahrnahm. Er war ausgeschaltet.
Sie versuchte sich zu erinnern.
Nichts.
Ihr war, als wenn sie tief drinnen einen hohlen Schmerz spüren konnte. Und als ob etwas fehlen würde an ihr.
Dann hörte sie ein Rascheln und Räuspern neben sich. Langsam bewegte sie den Kopf zur Seite. Ihre Augen folgten nur unter Mühen.
Als erstes sahen sie eine rote Rose, die jemand in seiner Hand hielt. Sie wanderten weiter von der Hand den Arm entlang über die Schulter Richtung Hals in das Gesicht ihres Ehemannes.
Wie lächerlich dachte sie, was soll die rote Rose?
Sie war versucht, ihren Kopf wieder wegzudrehen, besann sich aber.
Der Ehemann blickte sie besorgt an und wedelte dabei mit der Rose.
Ihr Blick wollte ihm befehlen, bloß nicht den Mund aufzumachen und zu reden.
"Wie geht es Dir, Liebes?", fragte er.
Laß mich in Ruhe, geh weg, sagten ihre Augen.
Seine freie Hand legte sich behutsam auf ihren linken Arm. Ihr fehlte die Kraft, um sich der Berührung zu entziehen.
Sie starrte an ihm vorbei auf die weiße Wand.
Als er sich mit einem Kuss von ihr verabschieden wollte, schaffte sie es gerade noch rechtzeitig, sich abzuwenden und die Augen zu schließen. Sie spürte seine Unentschlossenheit. Und atmete auf, sobald sie hörte, wie er die Tür hinter sich zuzog.
Erschöpft von der Anstrengung der Ablehnung und etwas anderem, an das sie sich immer noch nicht erinnern konnte, überließ sie sich der Welt des traumlosen Schlafes.
Am nächsten Morgen weckte sie Geschirrgeklapper. Eine junge hübsche Frau stellte ein Tablett auf ihrem Nachttisch ab und beugte sich flötend zu ihr herunter.
"Guten Morgen Frau Dreegs, lassen Sie ihren Tee nicht kalt werden und essen Sie bitte ein wenig. Der Chefarzt kommt gleich zur Visite."
Frau Dreegs gehorchte und während sie das Kunststück vollbrachte, im Liegen aus der hässlichen Schnabeltasse ein undefinierbares Gebräu zu trinken, das nicht im Entferntesten an den Geschmack von Tee heran reichte, und eine in handliche Häppchen tranchierte Scheibe labbeliges Toast von vorgestern mit schon leicht angetrocknetem Schmierkäse zu essen, wurde ihr mit durchbohrender Gewissheit klar, dass sie sich in einem Krankenhausbett befand.
Vorsichtig begann sie nun ihren Körper zu inspizieren. Zehn vollständige Finger lupften die Bettdecke. Auch weiter unten gab es zehn komplette Zehen.
Bevor sie jedoch weiteres erkunden konnte, öffnete sich die Tür und ein Trupp in weißen Kitteln rauschte herein. Sechs Augenpaare richteten sich auf sie.
Angstschweiß und Alarmglocken nahmen augenblicklich Besitz von ihr.
"Guten Morgen Frau Dreegs!“, hörte sie nochmals und erstickte dabei fast an ihren eigenen Ausdünstungen. Das Dröhnen in ihrem Kopf erhob sich zu einem wahren Glockenorchester und nur mühsam erreichten sie die Worte des älteren Herrn mit randloser Brille und Halbglatze, der der Anführer der Gruppe zu sein schien.
Chefarzt, fiel ihr wieder ein.
"Wie geht es Ihnen?"
Sie nickte unbeholfen.
"Sie haben die Operation den Umständen entsprechend gut überstanden. Mein Team und ich haben fünf Stunden lang unser Bestes für Sie gegeben und nun liegt es an Ihnen, Frau Dreegs. Je mehr Sie mitarbeiten, um so schneller können Sie in Ihr altes Leben zurückkehren. Das wollen Sie doch, oder?"
Durchdringend aber auch ein wenig belustigt, so erschien es ihr wenigstens, schaute er sie über seine Brille hinweg an.
Wieder brachte sie nur eine unsichere Kopfbewegung zustande. Und erhaschte gerade noch einen Blick auf den letzten Weißkittel, der ihre Zimmertür hinter sich schloss.
Heiße Tränen liefen die Wangen herunter bis in ihre Ohren.
Eine lautlose Leere nahm Besitz von ihr.
Vielleicht bin ich gar nicht in einem Krankenhaus, sondern schon dort, wo das Leben aufgehört hat, dachte sie zweifelnd.
Sie schloss die Augen, ergeben und kraftlos.
Und dann kamen Bilder, eine wahre Flut an Bildern, die auf sie einstürmten.
Eine Party in einer urigen Kneipe.
Ein roter Geländewagen.
Hunde spielten in einem Garten.
Kinder rannten vom Strand in die Wellen.
Ein Fahrrad lag mit zerbrochenem Lenker auf dem Gehweg.
Ein ausgeklapptes Schlafsofa in einem großen leeren Zimmer.
Mehrere Holzstapel.
Ein Mann, der an einem Tresen stand, vor ihm ein Herrengedeck.
Bienen umsurrten einen Rosenbusch.
Eine Frau drehte einen Joint im Gras sitzend.
Pferde galoppierten über verschneite Felder.
Sie erkannte ihre Eltern, die an einem See spazieren gingen.
Sie sah sich selbst mit ihren Hunden durch einen Wald laufen.
Dann erinnerte sie sich an den Tag ihrer Hochzeit und spürte plötzlich den Schmerz eines Messers, das langsam in ihren Rücken glitt, Zentimeter für Zentimeter.
Sie fing an zu schreien, bäumte sich auf unter der Bettdecke.
Das Messer begann sich zu drehen. Immer schneller und brutaler.
Sie wurde ohnmächtig.
Vierzehn Tage später verließ sie das Krankenhaus aufrecht gehend mit einer Erkenntnis, die zwar schwer wog, sie jedoch nicht belastete - nicht mehr.
Ihr Ehemann holte sie ab. Die Hunde lächelten, als sie vorsichtig ins Auto stieg.
Fuer viele Wochen durfte sie nur ein paar Minuten am Stück sitzen. Die Physiotherapeuten gaben ihr strenge Vorlagen, die sie diesmal auch wirklich ernst nahm. Sie wollte vorbereitet sein auf den richtigen Moment.
Der Sommer kam und ging. Am Haus verfärbte sich der Wein in leuchtende Rottöne. Nachtfrost meldete den in jenem Jahr früh nahenden Winter an. Sie konnte den Schnee bereits in der Morgendämmerung schmecken. Das Fell der Hunde wechselte über zu dickem Winterhaar.
Sie würden es brauchen, dachte sie noch, während sie das erste Mal seit Monaten ihren alten Chevrolet startete. Dies war die letzte große Hürde, die sie bewältigen musste. Es gab keine Alternative, keinen Plan B.
Die ersten Fahrten ängstigten sie. Jedes Schlagloch, jede Bodenwelle und jede Kurve ließen sie den Atem anhalten. Die Säule ihres Körpers weigerte sich standhaft.
Ihre Therapeuten rieten zu Atemübungen.
Sie versuchte sich Zeit zu geben.
Und endlich, es war schon kurz vor Weihnachten, wagte sie es und fuhr die lange Strecke in die nächstgelegene Stadt. Nach gut eineinhalb Stunden parkte sie den Wagen in einer Tiefgarage und grinste sich selbst im Rückspiegel an.
Sie genoß das wilde Treiben in den geschmückten Straßen und Läden. Es störte sie auch nicht, in endlosen Schlagen an den Kassen warten zu müssen.
Innerlich atmete sie tief auf.
Sie spielte wieder mit beim Spiel mit dem Offenen.
Über die Feiertage kam Besuch. Familie und Freunde ihres Ehemannes nahmen die eheliche Festung fröhlich ein. Es wurde viel und laut gelacht. Dreißig Zentimeter Neuschnee am Heiligen Abend rundeten das Bild der Harmonie ab.
Auch der Ehemann lächelte, denn er war sich sicher, dass seine Frau wieder in ihr altes Leben zurückgekehrt war. Er glaubte fest daran, sich vergeben zu können, vergessen zu können.
Der viele Trubel im Haus half ihr, die eigene Veränderung in für sie unangenehmen Momenten zu verbergen. Es war auch nicht üblich, viel und lange zu reden, um zu verstehen.
Mitte Januar erst verschwand der letzte Gast. Und nur ein paar Tage später legte sich das Eis zentimeterdick übers Land. Bei minus vierunddreißig Grad tänzelte die Sonne über gefrorenen Spiegel.
Dann kam der schwere Sturm, der in bizarrer Schönheit für Stunden zerstörerisch wütete. Er hinterließ ein trügerisches Märchenland, das sich bei Plusgraden in ein Disaster verwandeln würde.
Es gab über lange Zeit keinen Strom im Haus, die Zufahrtsstraßen konnten nur mühselig geräumt werden.
Fuer sie war nicht viel zu tun, also las sie mehr als sonst und wartete.
Machte lächelnd Atemübungen.
Er hielt sich so oder so in seiner Werkstatt auf, da spielte weder das Wetter noch irgendetwas anderes eine Rolle.
Ende Februar waren die Hunde die ersten, die es spürten. Sie wurden von Tag zu Tag unruhiger. Das Eis hatte begonnen zu schmelzen. Es war an der Zeit.
An einem Mittwoch wachte sie früh morgens auf. Schwer fiel ihr Blick auf ihn, der noch leise schnarchte. Sie weckte ihn zärtlich und schlief ein letztes Mal mit ihm.
Ihr tiefer langer Orgasmus glich einem Abschiedsgeschenk, auch wenn sie sich ein ganz klein wenig schämte fuer ihren Dreist.
Nach dem Frühstück belud sie den Chevrolet mit Taschen und Kisten.
Die Hunde saßen bereits wie angenagelt auf der Rückbank, als sie kurz vor Mittag zu ihm in die Werkstatt ging. Sie schaute ihn an und sagte:
"Ich fahre nochmal eben ins Dorf Zigaretten holen."
Er blickte nicht auf von seiner Arbeit, sondern brummte nur zustimmend und nickte.
Sie und die Hunde und der Chevrolet verschwanden.
Erst Stunden später fragte sich Herr Dreegs, wieso seine Frau Zigaretten holen gegangen war. Sie rauchte doch gar nicht.
Das war in den ganzen acht Ehejahren noch nie vorgekommen.