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Atemlos
von Marvin A.H. Papies
*
Es war doch alles so hübsch gewesen, dachte Sylvie. Allerdings ging es immer noch stetig tiefer und allmählich schwand ihre Hoffnung.
Sie blickte zu Mark rüber, der fassungslos aus dem Fenster starrte. Die Knöchel seiner Hände, die sich eisern um das Lenkrad krallten, zeichneten sich weiß unter der Haut ab. Das sonst immer sorgfältig gegelte Haar fiel ihm in wirren Strähnen in das schweißnasse Gesicht und er kaute wieder einmal entnervend auf seiner Unterlippe – eine Angewohnheit, die er nicht mehr losgeworden war, seit er vor zwei Jahren mit dem Rauchen aufgehört hatte.
Traurig schüttelte Sylvie den Kopf, als sie sich dabei ertappte Mark zum Teufel zu wünschen. Schließlich räusperte sie sich, setzte dazu an etwas zu sagen und verharrte, als sie bestürzt feststellte, dass unaufhaltsam ein Heulkrampf in ihr aufstieg, den Hals zudrückte, und ihr salzige Tränen in die Augen trieb. Dummes Mädchen! Bleib bloß tapfer! schoss es ihr durch den Kopf. Hilflos rang sie nach Atem und seufzte bekümmert als sie merkte, dass sie die Tränen nicht mehr lange zurückhalten konnte. Um auf andere Gedanken zu kommen, strich sie sich zwei Falten aus ihrem Rock.
»Das dauert mir doch jetzt ein bisschen zu lang«, murmelte Mark schließlich, als er bemerkte, dass Sylvie ihn Trost suchend anblickte.
Ein bisschen zu lange? Gottverdammt, Mark! Sie hasste diesen unzerbrechlichen Pragmatismus ihres Mannes. Man lässt eine Tiefkühlpizza ein bisschen zu lange im Ofen und wenn man abends einen spannenden Film sieht, kann es durchaus vorkommen, dass man ein bisschen zu lange aufbleibt. Aber das hier? Ein bisschen zu lange? Das hier war ein grotesker, vollkommen surrealistischer Alptraum. Ein offenbar niemals enden wollender obendrein.
Doch wie lange war es tatsächlich her, seit sich dieser Tag, der doch so hübsch begonnen hatte und alle Vorraussetzungen mit sich gebracht hatte, auch so zu enden, in diesen unvorstellbaren Horror verwandelt hatte? Ein paar Sekunden, allerhöchstens eine halbe Minute. Wo waren sie und ihr Mann da nur hinein geraten, wo eine solch unbedeutend anmutende Zeitspanne ein bisschen zu lang sein konnte?
»Ja«, flüsterte Sylvie schließlich, nur um überhaupt etwas zu sagen und nicht wieder Stille einkehren zu lassen, vor der sie sich plötzlich genauso fürchtete, wie vor dem Moment an dem sie unten ankommen würden.
Sie hörte wie Mark neben ihr tief Luft holte nur um sie einen Augenblick später wieder rasselnd entweichen zu lassen.
Verschwender! dachte sie und spürte wieder wie Wut und Angst in ihrem Bauch gegeneinander rangen.
»Hör mal«, sagte Mark dann und starrte dabei weiter apathisch durch die Windschutzscheibe des Wagens, in die dahinterliegende düstere Welt. »Ich glaube noch immer, dass es das richtige war, im Wagen zu bleiben. Aber wir müssen hier raus. Früher oder später.« Sylvie wimmerte still und griff mit den Fingern, die gerade noch die Falten aus dem Rock gestrichen hatte, nach Marks Hand. Sie fühlte sich kalt und furchtbar angespannt an. Mark zuckte zusammen als Sylvie ihn berührte. »Ich denke nicht, dass es jetzt ratsam wäre, die Nerven zu verlieren, Sylvie.«
Zuerst war Sylvie fassungslos, dann zog sie rasch ihre Hand zurück.
Mark musterte sie kurz kritisch, dann wandte er sich wieder der Windschutzscheibe zu.
Sie erschauerte unmerklich und wusste zugleich, dass es nicht an der Kälte lag, die diesen verschneiten Sonntag wach geküsst hatte und bis zum Abend wie eine frostige Geliebte an seiner Seite verharrt war. Im Auto wurde es allmählich brütend heiß und mit dieser Hitze stieg gleichzeitig ein seltsamer und irgendwie bekannter Geruch herauf, der Sylvie ein bedrückendes Gefühl in der Magengrube verursachte und ihr fast den Atem raubte. Sie strich sich über die Stirn und war kaum überrascht, als sie danach feine Schweißperlen an ihren Fingern glänzen sah.
Sie hatte keine Ahnung, wie lange all das noch auszuhalten wäre, bevor ihre Kehle wie zugeschnürt sein und sie ins Delirium hinüber gleiten würde. Irgendeine dunkle Kammer in ihrem Verstand hoffte bloß, dass sie nach Mark diesen letzten Schritt gehen würde.
»Riechst du das, Mark?« Eigentlich wollte sie nicht mit Mark reden. Sie war wütend auf ihn und konnte nicht umhin ihm eine gewisse Schuld an den Vorfällen zu geben. In den vielen Jahren ihrer Ehe, hatte sie sich nur selten wirklich mit ihrem Mann gestritten. Meistens ging er ihr einfach aus dem Weg, wenn sie einen Groll gegen ihn hegte, zog sich in sein Arbeitszimmer zurück und verschloss die Tür hinter sich. Sylvie mit ihrer Wut einfach allein lassend. Oft sah sie Mark dann erst Stunden später wieder, wenn ihr Zorn bereits verraucht war und einem Gefühl der Leere und Verzweiflung Platz gemacht hatte, welches sie empfänglich machte für Marks sachliche Rechtfertigungen, die ihn nur allzu oft frei jeglicher Schuld dastehen ließen.
Selbst die Sache mit Bridget war so abgelaufen.
»Was?« Mark rümpfte übertrieben die Nase und schüttelte dann den Kopf. »Die Luft wird dicker, das ist alles.«
»Es raubt mir den Atem, Mark. Das musst du doch riechen!« Sie holte Luft und ließ sie rasselnd wieder entweichen; es war ein aasiger Geruch, überdeckt von einem künstlichen Frischeduft. Kalter Schweiß vielleicht, geschwängert durch Adrenalin und Alkohol, bedeckt, aber nicht verdeckt, von einem miefigen Gucciparfüm.
Sie musste ein Aufstöhnen unterdrücken, als sie erkannte, dass der Geruch, den sie so hasste und der ihren Magen rebellieren ließ, Marks Geruch war.
Der Wagen verstärkte den Geruch. Doch wie hatte ihr das nie auffallen können?
Mark roch wie ein Leichnam und es trieb ihr die Galle hoch, daran zu denken, dass sie, wäre nicht dieser unglückselige Unfall dazwischengekommen, nun wahrscheinlich schon längst neben ihm in ihrem Ehebett liegen würde.
Ein Rumpeln riss sie aus ihren schwarzen Gedanken und einen weiteren gequälten Atemzug später schien ein schwerer Schlag die Karosserie des Wagens zu treffen.
Der Verzweiflung nahe warf sie einen Blick zu Mark hinüber, der sich in seinem Sitz zusehends versteift hatte und nun heftig zusammenzuckte.
»Ich glaub das war’s. Wir sind unten«, sagte er schließlich und strich sich nervös eine widerspenstige Locke seines streng frisierten Haares aus dem Gesicht.
»Wir sind unten«, wiederholte Sylvie tonlos und Mark sah sichtlich entnervt zu ihr rüber.
»Und wie geht’s nun weiter?« fragte Sylvie, mühsam ihre Stimme kontrollierend.
Sie betete, dass Mark es wusste. Hoffte, dass er sich in den letzten zwei Minuten einige seiner kühl kalkulierten Gedanken gemacht hatte und sich einen Plan zurechtgelegt hatte, welchen er Sylvie nun in jenem erhabenen Oberlehrertonfall erläutern würde, den man nur hassen konnte. Natürlich würde er nicht alles erklären, die Hälfte von seinen komplexen Gedankengängen würde sie ohnehin nicht begreifen, nur eben das Wichtigste. Die Basics, wie er so gern sagte. Etwas wie: »Baby, überlass das mal mir. Ich kenn da ein paar Leute bei der Küstenwache, bei denen habe ich noch ein Stein im Brett, ein bisschen Telepathie hier, ein wenig da und wir sind hier im Nu wieder raus.«
Schließlich saß da neben ihr Mark J. Dawson, angehender Bezirksstaatsanwalt, per du mit dem Bürgermeister.
Mark war schon mit zwanzig das gewesen, was manche Männer ein ganzes Leben nicht auf die Reihe bekamen: Erfolgreich, selbstbewusst und zielstrebig. Was Mark gewollt hatte, das hatte Mark bekommen, dafür war er stets über Leichen gegangen.
Und vor sieben Jahren hatte Mark Sylvie gewollt.
Schon nach ihrem ersten Date, hatte er sich verheißungsvoll zu ihr rübergebeugt und ihr die drei Worte ins Ohr geraunt hatte, die kein Mädchen in dieser Situation erwarten würde, die aber – was Sylvie erst viel später merken würde – so zu Mark passten, wie Erbsen zu Möhren. Ich will dich, hatte er geflüstert, ihr einen Kuss unter das Ohrläppchen gehaucht und war dann gegangen.
Und vielleicht wegen jenen Worten, wegen Marks bestimmender Art und wegen dem Kuss, der mit traumwandlerischer Sicherheit die richtige Stelle gefunden hatte, hatte er sie auch bekommen.
Für Männer wie ihn, Macher vor dem Herrn, gab es für gewöhnlich keine Hindernisse, nur Ziele.
»Mark?«
Doch Mark antwortete nicht. Er kaute bloß weiter auf seiner Unterlippe herum und warf wirre, gehetzte Blicke durch die langsam beschlagenden Fenster des Wagens.
»Mark, bitte …« stöhnte sie und endlich reagierte er.
»Ich hätte nicht auf dich hören dürfen.«
Sylvie erstarrte.
»Was?«
»Du warst es doch, die unbedingt Paula und Mike besuchen wollte. Und das bei diesem Nebel, Sylvie.« Er warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu.
Oh, er hatte recht, sie hatte Paula und Michael besuchen wollen, das hatte unter anderem den Grund gehabt, dass Paula vor vier Wochen eine bezaubernde Tochter zur Welt gebracht hatte, beruhte aber vor allem auf der Tatsache, dass sie es zur Zeit nicht lange allein mit ihrem Mann, in ihrem großen Anwesen am Stadtrand aushielt.
Dass er ihr nun die Schuld für dieses Desaster zuzuschieben versuchte, machte sie dennoch sprachlos und plötzlich hatte sie wieder Probleme damit Luft zu holen.
Sie rang nach Atem und spürte doch sofort, dass es nicht am schwindenden Luftvorrat, sondern an Mark lag, der sie sogar jetzt noch in die Ecke drängte.
Sie griff sich an den Hals und würgte. Marks Arroganz und sein ablehnender Blick lasteten wie Gewichte auf ihrem Brustkorb.
Und Plötzlich schossen ihr Bilder vom Tage durch den Kopf, als sie jenes erstickende Gefühl zum ersten Mal empfunden hatte.
Als sie seinen Ring am Finger noch mit dem Stolz einer frisch Verheirateten getragen hatte und ihrem entgeisterten Ehemann den Wal-Mart-Schwangerschaftstest zeigte, auf dem drei blaue Blümchen die eigentlich frohe Botschaft verkündeten.
Mark hatte in seinem Arbeitszimmer gesessen und sich, als er von seinen Unterlagen aufsah, nur einen winzigen Augenblick lang nicht unter Kontrolle.
Die Fassungslosigkeit und der Schrecken in seinem Gesicht waren nur einen Sekundenbruchteil später wieder jener unverletzlich sachlichen Grimasse gewichen, die er erst nur im Gerichtssaal und mit den Jahren immer öfter auch zuhause aufgesetzt hatte und die besagte: Baby, ich werd das Ding schon schaukeln. Überlass das mir.
»Ich rufe morgen im Sankt Helenas an. Doktor Martin schuldet mir noch was, weil ich ihm mit Daniel geholfen habe. Wenn alles gut geht, sind wir Sonnabend in Trenton.« hatte er gesagt, die bestürzte Sylvie noch einen Moment mit diesen leeren Augen, die sie später so fürchten lernen würde, angesehen und sich dann wieder seinen Dokumenten gewidmet.
»Mark?«, hatte Sylvie gestammelt und nicht gewusst, ob sie lachen oder schreien sollte.
Er sah noch einmal auf: »Ich habe dir gesagt, dass wir aufpassen müssen, Sylvie. Ein Kind, was denkst du dir? Du weißt genau, dass ich im Moment weder die Muße und noch die Geduld für so was habe. Meine Güte, Sylvie, wir befinden uns doch genau im Zeitplan. Gerade kommt meine Karriere richtig in die Gänge.«
Sylvie war der Test aus den Fingern geglitten und sie war einen Schritt zurückgetaumelt.
»Du-«, doch Mark unterbrach sie, »Wir werden es wegmachen. Darüber diskutiere ich nicht.«
Und dabei war es geblieben. Sylvie hatte schon vier Tage später das Krankenhaus in Trenton, New Jersey wieder verlassen können, doch es dauerte über ein Jahr, ehe es ihr gelang ihrem Mann irgendwie zu verzeihen.
Und wieso erinnerte sie sich gerade jetzt wieder an jenen Vorfall?
Das ganze war sieben Jahre her und kein Thema mehr zwischen ihnen. Sylvie hatte längst gelernt sich Marks Plänen zu beugen, wusste sie doch, dass er immer nur das Beste für sie beide gewollt hatte.
Doch stimmte das noch?
Wäre die Sache mit Bridget nicht gewesen, wer weiß, vielleicht hätte Sylvie sich diese Frage niemals gestellt.
Denn war er ihr nicht trotzdem ein guter Ehemann gewesen?
Er sorgte sich um sie, trank nur selten und schlug sie noch viel seltener. Sie holte Luft, tat einen weiteren kostbaren Atemzug und musste prompt wieder gegen jene schreckliche Übelkeit ankämpfen, die der herrschende Gestank in ihr hervorrief.
Sie musste hier raus!
Wie in Trance hatte sich Sylvie schon der Beifahrertür zugewandt, da spürte sie, wie eine kalte, klamme Hand sie am Nacken packte und unsanft zurückhielt.
»Probier es ruhig«, sagte Mark, »aber ich gehe jede Wette ein, nicht mal ein Elefant könnte die Tür jetzt bewegen.«
Mutlos ließ Sylvie ihre Hand wieder sinken.
Sie dreht sich wieder ihrem Mann zu.
Linkisch blinzelte Mark Schweißtropfen aus seinen Augen und ließ sich wieder in seinem Sitz zurücksinken.
Er atmete tief ein.
Du gottverfluchter Hurensohn, zuckte es Sylvie wütend durch den Kopf und verwundert über diesen Gedanken konnte sie ein Aufkichern nicht unterdrücken.
»Werd jetzt nicht hysterisch«, sagte Mark, dann griff er mit der einen Hand nach der Kurbel, mit der sich sein Fenster herunterlassen ließ und mit der anderen nach der Befestigung seines Sicherheitsgurtes. Mit einem Klacken schnallte er sich ab.
Ohne weiter darüber nachzudenken tat Sylvie es ihm gleich. Mark schien sich immerhin wieder gefangen zu haben. Wieder in der Spur zu sein.
»Wir probieren es gleichzeitig durch die Fenster«, setzte Mark an und straffte sich. »Wir müssen sie so schnell es geht öffnen, aber ich denke, dass sie durch den Wasserdruck sofort verkanten. Wir werden warten müssen, bis der Wagen vollgelaufen ist.«
Und ohne auf ein weiteres Wort seiner Frau zu warten, begann Mark zu kurbeln.
Die Öffnung des Fensters war noch keine zwei Zentimeter breit, da explodierten die ersten Tropfen Wasser, die ihren Weg ins Innere des Wagens gefunden hatten, schon in einer wahren Sturzflut und begruben Mark unter sich. Hastig dreht Sylvie sich zu ihrem Fenster um und begann ebenfalls zu kurbeln. Sie schaffte nicht einmal eine Umdrehung. Wie eine Faust traf sie das Wasser und einen Augenblick kämpfte sie mit der Besinnung, spuckte und versuchte gleichzeitig ihre Lungen mit soviel kostbarer Luft wie möglich zu füllen.
Sie musste sich zusammenreißen!
Das eisige Wasser reichte ihr schon bis zur Taille. Der Wagen füllte sich rasend.
In Windeseile wand sie sich aus ihrem schweren Pelzmantel und streifte ihre Stilettos ab.
Sie durfte nun unter keinen Umständen an das widerwärtig eisige Salzwasser denken, das ihr nun schon bis zu den Schultern reichte.
Mühsam kontrollierte sie ihre Atmung und warf einen Blick zu Mark hinüber, der sich japsend den Wassermassen erwehrte, nun aber auch wieder an seinem Fenster hantierte.
Das letzte, was sie sah, ehe das Wasser ihre Nase erreichte und sie den Kopf in den Nacken legen musste, war, wie sich Marks Fenster schließlich bewegte und er sich zappelnd daran machte, sich aus dem Wagen zu befreien.
Die Hände um die eisern fest sitzende Fensterkurbel, schloss Sylvie die Augen, als diese vom Salzwasser erreicht wurden.
Dann endlich bewegte sich auch ihr Fenster.
Sie brauchte all ihre verbleibende Kraft, um es soweit herunter zu drehen, dass sie sich hindurch zwängen konnte. Sie verschwendete keinen Gedanken daran, dass der letzte, tiefe Atemzug, den sie genommen hatte, tatsächlich ihr letzter gewesen sein mochte.
Dachte nicht darüber nach, dass ihre Lungen wohlmöglich nicht mehr genug Sauerstoff aus der verbrauchten Luft des Wagens ziehen konnten, um sie zuverlässig bis ans Ende dieser Reise zu begleiten.
Alles woran sie dachte, war die Oberfläche, die sie, als sie die Augen wieder öffnete, glaubte in unendlicher Entfernung leuchten zu sehen.
Als sie sich freigekämpft hatte, stieß sie sich von Marks ungeheuer teurem Jaguar, der fast zu ihrem Grab geworden wäre, ab und schoss wie ein Pfeil durch das eisige Wasser hindurch nach oben und nachdem sie den ersten Schock verkraftet hatte, begann sie sich schnell besser zu fühlen.
Das Adrenalin, das durch ihre Adern pulsierte, ließ sie die Kälte vergessen und weil sie seit Jahren eine enthusiastische Joggerin war und in ihrem Leben niemals geraucht hatte - auch weil Mark das an Frauen nicht sonderlich schätzte - schienen ihre Lungen in vortrefflichem Zustand.
Zu erst schien die Welt um sie herum undurchdringlich, nachtschwarz und brannte fürchterlich an ihren, zu Schlitzen zusammengepressten Augen, doch schon nach wenigen Schwimmbewegungen gewöhnte sie sich an das herrschende Zwielicht und erkannte, zumindest schemenhaft, was um sie herum geschah und dass die Oberfläche nicht so weit entfernt lag, wie es zu erst auf sie den Eindruck gemacht hatte.
So sehr sie in sich auch nach Furcht suchte, sie konnte keine finden.
Das leichte Kleid, welches Mark ihr herausgesucht hatte, war im Grunde genommen ein Hauch von Nichts und hinderte sie nicht an ihren weitausholenden Zügen und in dieser Geschwindigkeit konnte es nur noch eine Frage von Sekunden sein, ehe sie die Wasseroberfläche wie ein junger Delphin zerteilen würde, um einen befreiten und tiefen Atemzug … eine erbarmungslose Zombiehand schloss sich, wie ein Schraubstock um ihre nackten Fesseln.
Wie eine heiße Lavawelle überkam sie augenblicklich Panik, sie versuchte die Hand abzuschütteln, verlor ihren Schwimmrhythmus und bewegte sich plötzlich nicht mehr von der Stelle. Ganz im Gegenteil, die Zombiehand schien sie sogar wieder in die Tiefen zu ziehen, in die dunkle Nacht, der sie gerade nur allzu behände entkommen war.
Ihr Blick irrte nach unten, während ihre Arme weiter hilflos gegen den zu starken Widerstand anruderten.
Es war Mark. Mark mit weit aufgerissenen, roten Augen und aufgeblähten Backen. Mark in seinem teuren Luis Vuitton Anzug, der sich auf der Stelle bis zur letzten Faser mit Wasser vollgesogen hatte und ihn wie einen Stein hatte sinken lassen.
Mark, der ihr Baby hatte wegmachen lassen. Mark, der ihr vor einer Woche eröffnet hatte, dass er die Scheidung wolle, weil er mit seiner fünfzehn Jahre jüngeren Assistentin, Bridget Vortrees zusammenzuziehen plane.
Die sonst so piekfeinen gestylten, schon leicht graumelierten Haare wanden sich wie schwerelose Würmer um seinen bleichen Schädel.
Er kämpfte sichtbar mit dem Gewicht seiner Kleidung, die ihn unnachgiebig nach unten in die Tiefe zu zerren schien und mit jeder Sekunde, die Sylvie in seinem Griff gefangen war wurde sie schwächer, ihre Lungen krampften noch nicht, würden es aber bald tun, wenn Mark sie nicht loslassen würde, doch die blanke Todesangst schien ihn nur noch kräftiger zu machen. Jetzt entwichen seinem Mund die ersten kostbaren Luftblasen, er öffnete ihn wie ein Fisch auf Land und seine Lippen formten ein einziges stummes Wort: L-U-F-T!
Mark würde sie hier unten verrecken lassen, das wurde ihr nun gewahr.
Mark war es scheißegal, was mit ihr passierte, solange er irgendwie seinen wertvollen Luis Vuitton Anzug – und alles was darin steckte – retten konnte.
Keine Diskussionen.
Sie zappelte ein letztes Mal mit dem gefangenen Fuß, bewirkte damit aber bloß, dass sich Marks Hand noch fester um ihren Knöchel schloss und gab schließlich auf.
Dann müssten ihre Luftreserven eben für sie beide herhalten.
Sie unterbrach das sinnlose Rudern mit den Armen und binnen eines Augenaufschlags hatte Mark sie auf seine Höhe heruntergezogen.
Ohne weitere Zeit zu verschwenden griff er nach ihrem Kopf und zog sie an sich heran. Kalt spürte sie seine Lippen auf den ihren und sofort darauf seinen inhalierenden, fauligen Atem. Der große, tote Fisch hatte angebissen und jedes Härchen auf Sylvies Haut sträubte sich vor Ekel. Dies war ihr letzter Kuss, schoss es ihr plötzlich durch den Kopf. Was immer der heutige Abend noch an Überraschungen für sie parat halten würde, niemals in ihrem ganzen Leben würde sie wieder diese ungenießbaren Lippen auf ihren spüren wollen. Sollte Bridget mit diesem Monster glücklich-
Sylvie fuhr zusammen, Mark hörte nicht auf! Sie sanken Meter für Meter zurück Richtung Auto und Mark saugte sie aus, wie ein Vampir. Er nahm ihr alles, was sie noch an Luft übrig hatte. Sie strampelte mit den Füßen und versuchte sich gleichzeitig aus Marks gnadenloser Umarmung zu befreien, doch dieser drängte sich bloß weiter an sie, inhalierte und schien zu glauben, dass er sich schon retten könne, würde es ihm nur gelingen seine Frau irgendwie ihrer letzten Luft zu berauben.
Als sie spürte, dass ihr Körper atmen wollte, dass sich alles in ihr darauf vorbereitete einen großen, todbringenden Zug Wasser einzuatmen, blieb ihr nur ein Ausweg. So fest sie konnte biss sie Mark in die Oberlippe und stieß ihm dann, als sie merkte, wie ihr Mann vor Schmerz zusammenfuhr und von ihr abließ, ein Knie mit all ihrer verbleibenden Kraft in den Unterleib. Sie trat noch einmal ins Leere und war dann frei.
Ihre Lungen rebellierten.
Sie blickte nach oben und stellte erleichtert fest, dass Mark sie nicht soweit in die Dunkelheit zurückgezerrt hatte, wie sie geglaubt hatte. Sie konnte den Himmel noch immer sehen!
Mit dem letzten bisschen Luft, das ihr blieb, stieß sie sich wieder in die Höhe.
Es war ein Wettlauf mit der Zeit. Der Weg, der ihr vor dem Zusammentreffen mit Mark, noch so kurz erschienen war, schien sich nun auf unheimliche, irre machende Art zu strecken, ihre Kraft von Sekunde zu Sekunde weiter zu schwinden. Sie stieß, zog, stieß, zog. Der Himmel näherte sich, doch er tat es in Zeitlupentempo. Ihre Lungen wollten atmen. Sie wappnete sich, die Luft entweichen zu lassen.
Es würde ihr vielleicht eine oder zwei Sekunden bringen, das musste reichen. Wären die Lungen leer, würden sie nach Luft schnappen, ein ganz natürlicher Reflex, doch sie würden bloß Wasser einziehen.
Aber das konnte sie nicht zu lassen!
Sie hatte Mark hinter sich gelassen, jetzt durfte sie nicht vom Wasser besiegt werden.
Noch zwei Meter.
Blubbernd entwich ihrem Mund der letzte Atemzug.
Es war kein spirituelles Erlebnis, sie sah ihr kleines verwirktes Leben, dass sie die meiste Zeit an Marks Seite verbracht hatte, nicht wie einen bunten Kirmeswagen an sich vorbeiziehen. Sie hörte keine Engelschöre singen und sah kein gleißendes Licht.
Ihre Lungen waren lediglich leer und würden sich nun mit Wasser füllen.
Sie schloss die Augen, öffnete den Mund und - durchbrach die Wasseroberfläche.
Einen Moment lang wusste sie nicht, was sie tun sollte. Ihre Arme ruderten sinnlos in der Luft und sie erreichte die rettende Oberfläche mit solchem Schwung, dass sie fast direkt wieder kopfüber unter Wasser getaucht wäre. Keuchend schnappte sie nach Luft, tat einen gierigen Atemzug und kämpfte sich dann mühsam in eine schwebende Balance, in dem sie wie beim Fahrradfahren Wasser trat.
War Mark tot?
Das letzte was sie von ihm gesehen hatte war sein Schatten gewesen, der mit den Umrissen des Autos verschmolzen war. Der frische Sauerstoff schien ihr zu Kopf zu steigen, denn sie spürte plötzlich, wie Euphorie von ihr Besitz ergriff. Sie verschluckte einen Schwall eiskalten Wassers und lachte über ihr eigenes Ungeschick.
Aus der Ferne schallten Polizeisirenen über die leblose, ruhige See, der alles egal zu sein schien.
Sie blickte sich um. Der Nebel war schwächer geworden und sie meinte, nicht weit entfernt, die Umrisse der Steilklippe in der Nacht auszumachen, von der Mark den Wagen, auf ihrer Heimfahrt gesteuert hatte. Etwas unterhalb der Klippe schien eine niedrige Felsenformation genügend Platz zu bieten, um darauf auf die hereineilenden Rettungsdienste zu warten.
Allmählich begann die Kälte sich bemerkbar zu machen und mit bibbernden Gliedern und aufeinander schlotternden Zähnen begann Sylvie in unbeholfenen Kraulbewegungen auf die Felsen zu zuhalten, an denen sich schäumend der leichte Wellengang des Meeres brach.
Es dauerte keine Minute, ehe sie das steinerne Ufer erreicht hatte und mit letzter Kraft und zitternden Muskeln hievte sie sich darauf.
Dann sank sie stöhnend in sich zusammen.
Sie fror erbärmlich, doch die Luft schmeckte noch immer köstlich süß und die Sterne über ihr schienen sie mit ihrer Freiheit zu locken.
Sie empfand keinerlei Trauer.
Mark hatte den Unfall ganz allein verschuldet und hätte sie schließlich auch noch um ein Haar umgebracht. Er hatte sich sein nasses Grab selbst geschaufelt. Die Sirenen waren nun ganz nahe und sie richtete sich leicht auf. Die Klippen über ihr warfen einen dunklen Schatten über das Gestein auf dem sie lag, doch die Kavallerie würde mit großer Sicherheit mit Flutlichtern und Taschenlampen anrücken.
Sie seufzte zufrieden und ließ ihren Blick über das kleine Felsufer schweifen, welches ihr Leben gerettet hatte.
Ein Haufen Seetang, oder vielleicht ein Fischernetz, ein paar Meter von ihr entfernt zog ihr Interesse auf sich.
Oder war das etwa-?
Sie stand auf und tastete sich barfuss einen Weg zu dem mannslangen Haufen, den sie irrtümlich für Seetang gehalten hatte.
Spürte sie erneut, wie eine Welle der Euphorie über sie hereinbrach und konnte sich nun endgültig nicht mehr zurückhalten.
Lachend, fast schreiend, sank sie neben dem edlen Luis Vuitton Anzug, in dem noch immer ihr Mann steckte, auf alle Viere.
Leblos lag er da, angeschwemmt wie ein gestrandeter Wal und Sylvie konnte nicht anders, als über dieses wahnsinnige Bild so hysterisch zu lachen, dass sie schon bald wieder nach Atem ringen musste. Tränen rannen ihr die Wangen herab und ihr Bauch verkrampfte sich unter immer neuem Gelächter.
Triumphierend ließ sie sich neben Marks Leichnam auf den Po fallen und legte ihm freundschaftlich eine Hand auf den aufgedunsenen Wanst.
»Das ging wohl nach hinten los«, grinste sie. Nie in ihrem Leben hatte sie sich befriedigter und freier gefühlt, als in diesem Augenblick. Sie würde eine Menge unangenehmer Frage beantworten müssen, aber sie spürte, dass sie nun stark genug dafür war. Ihr war heute ein Anker von den Füßen entfernt worden und dieser Anker war Mark gewesen, war es schon gewesen, bevor er sich in panischer Todesangst an ihre Beine geklammert hatte.
Plötzlich spuckte Marks Leiche einen Schwall Wasser aus und hustete.
Sylvies Augen weiteten sich vor Entsetzen.
Der Verzweiflung nahe dreht sie sich zu ihrem Ehemann um.
Wasser floss ihm in trüben Rinnsalen aus den Mundwinkeln, aber oh gütiger Gott, er atmete.
Über ihr wurden nun Rufe laut und sie konnte hören wie mehrere Wagen hielten und Türen auf und wieder zu geschlagen wurden.
Dieser Widerling hatte ihr kaum genügend Luft gelassen, um es zu überleben, wie konnte er nun noch leben? Der Anzug war viel zu schwer für ihn gewesen, das hatte er nicht mit blankem Willen schaffen können.
Scheinwerfer flammten nun auf und durchschnitten die Dunkelheit über dem Meer in kreisenden Bewegungen.
»Ich … Sylvie.«
Doch Sylvie konnte Mark das nicht durchgehen lassen!
»Ist da unten irgendjemand?« rief eine Stimme vom Rand der Klippen.
Sylvie ignorierte sie. Fast ohne ihr zutun hatten ihre Hände den Weg zu Marks Hals gefunden.