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Atemnot
Mein Kopf steckt in einem Goldfischglas. Ich versuche gelassen zu sein, doch es gelingt mir nicht. Mit den Fingern trommelt Remy auf der Tischplatte. Sieht mich an, erwartungsvoll. Ich kann keine Antworten zurückwerfen, in seinen treuen Blick der mir so fremd vorkommt. Seine stahlblauen Augen, mehr Stahl als blau. Denn blau ist der Himmel und der Himmel ist woanders.
Ich wische mir den Mund, meine Finger fühlen sich klamm an. Draussen ist es Sommer, irgendwo liegen Kinder in der Wiese und reimen Wolken. Ich stehe ans Fenster und versuche mein Glück. Ja, sie ist noch da, die Fähigkeit in Wolken Piraten, Hasen oder Telefone zu sehen. Er sitzt hinter mir und trommelt noch immer. "Er trommelt nicht in meinem Takt", denke ich. Remy sagt: "Deine Mutter mag mich, wie's scheint." "Sie ist umkompliziert, was das Mögen angeht", erwidere ich und füge schnell an: "Aber doch, ich denke sie mag dich ganz besonders." Von all den Männern die ich nach Hause nahm war ihr keiner unrecht. Bis auf den, der mir am liebsten war, und meinem Vater ähnlich.
Damals, in einem Pariser Bistro, weinte meine Mutter am hellichten Tag. Bis dahin weinte sie an manchem. Manchmal so, dass ich sie sah, meist im Verborgenen. Wenn mein Vater mal wieder später nach Hause kam und meine Mutter bemerkte, was er nicht mal mehr zu verbergen versuchte. Wenn sie in Laken wachte, die nach einer Fremden rochen, wenn er zur Frau an der Kasse im Supermarkt in ihrem Beisein eine Spur zu freundlich war. Dann Streit, Zank, Tränen und die Versöhnung. Manchmal.
Manchmal aber lachte sie auch. Glücklicher als heute, leidenschaftlich. Und dann ging sie von ihm, um im hüfttiefen Wasser Hand in Hand mit einem anderen zu schnorcheln. Das Tauchen hat sie aufgegeben – Atemnot. Sie tauchte 20 Jahre lang, spürte den Druck des Wassers über ihr, das Blut das durch ihre Venen pumpte. Es tat weh aber manchmal war's auch gut zu spüren dass sie am leben war. Sie war fähig, sich gut und schlecht zu fühlen und ertrank nicht in der Lethargie.
Die Kellnerinnen in meinem Heimatort schauen mich oft einen Tick zu lange an. Mein Vater, der Charmeur. Wenn sie bemerken, dass ich unbeirrt zurückstarre in ihre Puppengesichter, streichen sie sich nervös eine Strähne hinters Ohr, lächeln verlegen und schauen schnell weg. In solchen Situationen hasse ich ihn. Schlimm genug, dass er in der Gegend rumvögelt – schlimmer noch, dass er's nicht mal versteckt.
Ich öffne das Fenster, ein warmer Wind streicht um meine Arme. Meine einzige Freundin ist die Sonne, denn sie bleibt und kommt immer wieder. Selbst meine Mutter hat sich von mir entfernt. Versteht nicht, warum ich genau den Schmerz suche, den sie so vermisst, auch wenn sie's nicht zugibt. Denn mit dem Schmerz ging auch die Leidenschaft. Ich habe es satt, nicht meine eigenen Fehler machen zu dürfen. Ich stehe in den Startlöchern und darf nicht lossprinten. Ich sehe den Sinn im Schnorcheln nicht. Heile Welt, die irgendwann still stirbt, als wäre sie nie dagewesen. Ein Leben ohne Schmerz, ohne Kummer, ohne Gefühl.
Remy hat aufgehört zu trommeln, nebenan höre ich die Klospülung. Er kommt zurück und fragt: "Spaghetti heute?", steht hinter mich und drückt mir einen Kuss auf die Schulter. Ich möchte schreien, kann aber nicht. Ich bin in einer unsichtbaren Blase gefangen und wenn ich nichts unternehme, werde auch ich unsichtbar. Ich frage ihn, was er in diesen Wolken sieht und deute in den Himmel. Er weiss es auch nicht so recht, sagt: "Ach du", und setzt Wasser auf. Das was ich anfangs an Remy so toll fand, ertrage ich jetzt kaum mehr. Seine offene, freundliche Art, das Streben nach Harmonie. Zuhören, dann reden, immer in gemässigtem Ton. Seine Diplomatie in jeder Situation, sein Verständnis für alles und jeden lähmt mich. Ich strample und komme nicht frei. "Der passt doch ganz wunderbar zu dir", sagen meine Freunde: "jemand, der dich ein bisschen erdet, auf dem Boden behält." Ich will aber nicht auf dem Boden bleiben.
Ich will fliegen.