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Atemnot

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09.02.2004
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Atemnot

Mein Kopf steckt in einem Goldfischglas. Ich versuche gelassen zu sein, doch es gelingt mir nicht. Mit den Fingern trommelt Remy auf der Tischplatte. Sieht mich an, erwartungsvoll. Ich kann keine Antworten zurückwerfen, in seinen treuen Blick der mir so fremd vorkommt. Seine stahlblauen Augen, mehr Stahl als blau. Denn blau ist der Himmel und der Himmel ist woanders.

Ich wische mir den Mund, meine Finger fühlen sich klamm an. Draussen ist es Sommer, irgendwo liegen Kinder in der Wiese und reimen Wolken. Ich stehe ans Fenster und versuche mein Glück. Ja, sie ist noch da, die Fähigkeit in Wolken Piraten, Hasen oder Telefone zu sehen. Er sitzt hinter mir und trommelt noch immer. "Er trommelt nicht in meinem Takt", denke ich. Remy sagt: "Deine Mutter mag mich, wie's scheint." "Sie ist umkompliziert, was das Mögen angeht", erwidere ich und füge schnell an: "Aber doch, ich denke sie mag dich ganz besonders." Von all den Männern die ich nach Hause nahm war ihr keiner unrecht. Bis auf den, der mir am liebsten war, und meinem Vater ähnlich.

Damals, in einem Pariser Bistro, weinte meine Mutter am hellichten Tag. Bis dahin weinte sie an manchem. Manchmal so, dass ich sie sah, meist im Verborgenen. Wenn mein Vater mal wieder später nach Hause kam und meine Mutter bemerkte, was er nicht mal mehr zu verbergen versuchte. Wenn sie in Laken wachte, die nach einer Fremden rochen, wenn er zur Frau an der Kasse im Supermarkt in ihrem Beisein eine Spur zu freundlich war. Dann Streit, Zank, Tränen und die Versöhnung. Manchmal.

Manchmal aber lachte sie auch. Glücklicher als heute, leidenschaftlich. Und dann ging sie von ihm, um im hüfttiefen Wasser Hand in Hand mit einem anderen zu schnorcheln. Das Tauchen hat sie aufgegeben – Atemnot. Sie tauchte 20 Jahre lang, spürte den Druck des Wassers über ihr, das Blut das durch ihre Venen pumpte. Es tat weh aber manchmal war's auch gut zu spüren dass sie am leben war. Sie war fähig, sich gut und schlecht zu fühlen und ertrank nicht in der Lethargie.

Die Kellnerinnen in meinem Heimatort schauen mich oft einen Tick zu lange an. Mein Vater, der Charmeur. Wenn sie bemerken, dass ich unbeirrt zurückstarre in ihre Puppengesichter, streichen sie sich nervös eine Strähne hinters Ohr, lächeln verlegen und schauen schnell weg. In solchen Situationen hasse ich ihn. Schlimm genug, dass er in der Gegend rumvögelt – schlimmer noch, dass er's nicht mal versteckt.

Ich öffne das Fenster, ein warmer Wind streicht um meine Arme. Meine einzige Freundin ist die Sonne, denn sie bleibt und kommt immer wieder. Selbst meine Mutter hat sich von mir entfernt. Versteht nicht, warum ich genau den Schmerz suche, den sie so vermisst, auch wenn sie's nicht zugibt. Denn mit dem Schmerz ging auch die Leidenschaft. Ich habe es satt, nicht meine eigenen Fehler machen zu dürfen. Ich stehe in den Startlöchern und darf nicht lossprinten. Ich sehe den Sinn im Schnorcheln nicht. Heile Welt, die irgendwann still stirbt, als wäre sie nie dagewesen. Ein Leben ohne Schmerz, ohne Kummer, ohne Gefühl.

Remy hat aufgehört zu trommeln, nebenan höre ich die Klospülung. Er kommt zurück und fragt: "Spaghetti heute?", steht hinter mich und drückt mir einen Kuss auf die Schulter. Ich möchte schreien, kann aber nicht. Ich bin in einer unsichtbaren Blase gefangen und wenn ich nichts unternehme, werde auch ich unsichtbar. Ich frage ihn, was er in diesen Wolken sieht und deute in den Himmel. Er weiss es auch nicht so recht, sagt: "Ach du", und setzt Wasser auf. Das was ich anfangs an Remy so toll fand, ertrage ich jetzt kaum mehr. Seine offene, freundliche Art, das Streben nach Harmonie. Zuhören, dann reden, immer in gemässigtem Ton. Seine Diplomatie in jeder Situation, sein Verständnis für alles und jeden lähmt mich. Ich strample und komme nicht frei. "Der passt doch ganz wunderbar zu dir", sagen meine Freunde: "jemand, der dich ein bisschen erdet, auf dem Boden behält." Ich will aber nicht auf dem Boden bleiben.

Ich will fliegen.

 

Hallo Sternenkatze,

diese Geschichte gefällt mir schon wesentlich besser als dein erster Wurf. Wesentlich.
Hier ist deine Intention wirklich nachvollziehbar und du baust gekonnt eine melancholisch bedrückende Atmosphäre auf. Einige schöne Formulierungen lassen sich im Text finden, wie

Seine stahlblauen Augen, mehr Stahl als blau. Denn blau ist der Himmel und der Himmel ist woanders.
oder
Draussen ist es Sommer, irgendwo liegen Kinder in der Wiese und reimen Wolken.
Die Geschichte wirkt auf mich schon recht rund. Die Andeutung mit dem Trommeln außerhalb ihres Taktes lässt erkennbar werden, dass für die beiden keine Zukunft beschieden ist. Auch vermochte ich eine Parallele zu sehen zwischen dem verhalten deiner Prota und ihrem Vater.
Von all den Männern die ich nach Hause nahm war ihr keiner unrecht. Bis auf den, der mir am liebsten war, und meinem Vater ähnlich
Das klingt recht beliebig. Hier reime ich mir auch den Schmerz zusammen, von dem du sprichst.
Versteht nicht, warum ich genau den Schmerz suche, den sie so vermisst, auch wenn sie's nicht zugibt. Denn mit dem Schmerz ging auch die Leidenschaft.
obwohl das natürlich auch gleichzeitig auf anderen Ebenen spielen kann.

Der Minuspunkt der Kg liegt für mich in dem verhältnis Tochter und Mutter. Das kommt mir nicht deutlich genug zum Tragen, bleibt mir zu vage. Dadurch bleibt aber auch der Schmerz deiner Prota im vagen Bereich und damit verspielst du die Möglichkeit, die Emotionalität für den Leser greifbarer zu machen.
Und was auf jeden Fall weg muss (!) ist der letzte Satz. Der liest sich wirklich sehr alber und zerstört den ansonsten gelungenen Fluss der Geschichte. Abgedroschen, lahm und unnötig. Der Satz mit dem Fliegen ist ein wunderbarer Schlusssatz.

grüßlichst
weltenläufer

 

Hallo Weltenläufer!

Herzlichen Dank für deine Kritik und dein Lob an meiner Geschichte. Gern gelesen und viel mitgenommen.
Das Verhältnis von der Mutter zur Tochter ist wohl wirklich zu vage. Ich weiss nicht so recht, wie ich verdeutlichen kann was zwischen den beiden abgeht. Wohl wollte ich die Distanz ein wenig skizzieren, die sich mit dem properen neuen Mann zwischen den beiden eingeschlichen hat. Die Mutter, die nicht mehr versteht und die Tochter mit ihrem Leben und Gefühlen alleine lässt. Plötzlich nach Harmonie ringt und - obwohl sie's selbst erlebt hat - kein Verständnis mehr aufbringt.

Der Schlusssatz ist wohl wirklich lahm. Schon tausendmal gehört, nich'? Hm... Trotzdem denke ich, da muss was rein. Eine Entscheidung, die aber für den Leser nicht ersichtlich wird, damit er sich selbst einen Reim darauf bilden kann. Das mit den Kippen holen bot sich so an, weil es ein Vorwand wäre abzuhauen oder vielleicht doch nicht.

Ich überleg mir noch was anderes.

Herzlichst
Sternenkc

 

Hallo Sternenkatze noch mal,

Eine Entscheidung, die aber für den Leser nicht ersichtlich wird, damit er sich selbst einen Reim darauf bilden kann. Das mit den Kippen holen bot sich so an, weil es ein Vorwand wäre abzuhauen oder vielleicht doch nicht.
Wenn die Entscheidug nicht ersichtlich sein soll, kannst du den Kippensatz nicht drin lassen. Zwar birgt er im Prinzip die Möglichkeit, dass sie wiederkommt, vom gebräuchlichen Sinne jedoch wird dies definitiv in die andere Richtung ausgedeutet. Das ist kaum ein Satz, den man aussprechen kann, ohne scheel angeguckt zu werden.
Zudem sprengt der Satz auch rein von der Form deine Geschichte. Das kommt viel zu umgangssprachlich und abrupt für deinen ansonsten wohl und weich gehaltenen Ton.

Der vorletzte Satz hieß doch eigentlich: Ich will fliegen
oder habe ich mich da verlesen?

Das fand ich besser, weil genau jener Satz deiner oben genannte Intention gerecht wird. Zudem spaltet er sich auch schön von der Mutter ab, was als Befreiung von der Mutter gedeutet werden kann. (sie will nach unten, Kind entscheidet sich für die entgegengesetzte Richtung, nach oben - Hoffnung anzeigend)

nun ja,
soweit meine Gedanken zu deinem Text

viel Spaß noch auf kg.de

grüßlichst
weltenläufer

 

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