Auch wenn der Teufel fliegen lernt
Mit den Gedanken an eine wundervoll heiße Schokolade sortierte ich die Post aus. Werbung in den Müll, Rechnungen in die linke Hand. Alles was übrig blieb war ein dunkelblauer Brief mit einer Handschrift, die ich nicht kannte.
Ich hielt ihn eine Weile in meinen Händen, nur um dieses wunderbare Kribbeln von Vorfreude zu genießen. Auf der Rückseite war kein Absender und die krakelige Schrift auf der Vorderseite kam mir nicht bekannt vor. „An Lilly“ stand da, keine Briefmarke.
Ich kramte meinen Schlüssel hervor und schloss die Wohnung auf, mit den Gedanken und den Augen immer noch bei dem anonymen Brief.
Als nächstes zwang ich mich dazu mir eine Tasse heiße Schokolade zu machen, um die Vorfreude und Aufregung zu steigern. Dann setzte ich mich, mein pochendes Herz ignorierend, ganz ruhig auf das Sofa, nahm den Brief wieder in die Hände und begann ihn zu öffnen.
Der Briefumschlag war leer. Etwas verwundert schüttelte ich den Umschlag bis etwas kleines herausfiel. Es war ein winziger Zettel und ein Brauseherz mit der Aufschrift „guess who“. Ich lächelte, weil ich seit Ewigkeiten keine Brausepulverherzen mehr gesehen hatte. Auf dem Zettel war nichts mehr als eine Karikatur. Ich runzelte die Stirn als ich einen Teufel erkannte, der Flügel auf dem Rücken hatte, wie ein Engel. Doch dann fing ich an, mich zu erinnern.
„Ich liebe dich“, rief ich ihm hinterher.
„So?“ Er drehte sich um und sah mich an.“ „Auch wenn der Teufel Flügel hat?“ Plötzlich war er vor mir. „Auch dann“, lachte ich und küsste ihn.
Ich überprüfte den Brief ein zweites Mal, aber jetzt war der Umschlag wirklich leer, auf der Rückseite war kein Zeichen von einem Absender.
Ich lächelte über diese kleine seltsame Überraschung und träumte ein wenig von damals.
„Und Sie haben keine Ahnung von wem der Brief sein könnte?“ Herr Erikson schien über die Geschichte zu grübeln. „Nein“, antwortete ich energisch und lächelte. „Ich habe keine Ahnung.“ Ich schob seinen Rollstuhl zu einer der Parkbänke. Es war windig, doch die Sonne schimmerte geheimnisvoll zwischen den Bäumen hervor. „Das Leben hat für jeden ein paar kleine Überraschungen parat.“, brummte er. „Hoffe mal auch für mich. Oder haben die da oben mich schon vergessen?“ Ein wenig missmutig guckte er schräg in den Himmel. , die Augen halb zugekniffen.
„Hm...“, alberte ich. „Wenn du denkst es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her. Herr Erikson lachte tief und endete in husten. Ich wickelte seinen Schal etwas fester um ihn und schob ihn zurück zu seinem Zimmer.
Ich hatte einen zweiten Brief nicht wirklich erwartet, aber ich wäre doch enttäuscht gewesen, wenn ich einen zweiten dunkelblauen Brief in meinem Briefkasten gefunden hätte, den ich gespannt öffnete. Es war eine Kirsche. Nichts mehr, kein Absender, kein Brief, nur eine dunkelrote Kirsche mit grünem Stiel. Und in dem Stiel war ein Knoten.
„Weißt du woran man erkennt, das man wirklich küssen kann?“, alberte meine Schwester. Wir hatten Ferien und faulenzten auf dem Kirschbaum des Nachbars.
„Wenn du mit dem Mund einen Knoten in einen Kirschstil machen kannst, ohne die Hände zu benutzen bist du wirklich gut im Küssen. Ich lachte und zupfte von der nächsten Kirsche den Stil ab um das auszuprobieren. Wir beide saßen stundenlang in diesem Kirschbaum und machten die seltsamsten Verrenkungen mit unseren Zungen um diese verdammten Knoten zu produzieren. Am Ende hatten wir den Dreh raus und steigerten die Herausforderung mit zwei und drei Knoten per Stiel. Am Ende des Tages schrieb ich Nicholas einen Brief, mit Notizen zu unserem Kirschstilexperiment. Ich konnte nicht aufhören zu lachen als ein paar Tage später ein Brief mit einem Haufen Kirschstilen mit Knoten für mich ankam.
Ich starrte auf den Kirschstil und dann auf den Brief. Ich hatte das dringende Bedürfnis meine Gedanken zu ordnen und so griff ich zu Papier und einem Stift um eine Liste zu schreiben. Als erstes notierte ich den Namen meiner Schwester. Sie liebt Dinge wie das hier. Dann dachte ich nach. Nicholas lebte, soweit ich weiß, seit 10 Jahren in Frankreich. Nicholas Harker, ich konnte ihn vor mir sehen. Braune, ruhige Augen, goldene Haare, sanfte Stimme. Oh wie habe ich ihn geliebt. Geliebt und nie vergessen, auch wenn er am Ende er wie ein wundervoller Traum war, an dem man sich mit einem Lächeln erinnert.
Mit pochendem Herzen schrieb ich ihn auf die Liste, starrte ein paar Minuten auf seinen Namen und setzte ihn dann in Klammern.
Es war kalt, aber alles woran ich denken konnte war mein Briefkasten. Ich dachte über die Vergangenheit nach. Über diese kleinen wunderbaren Szenen im Leben, die man nie wieder vergisst. Ich zitterte, als ich meinen Briefkasten aufschloss und mein Herz machte einen Hüpfer als ich einen Brief mit der vertrauten blauen Farbe in den Händen hielt.
Ich rannte die Treppen hoch und riss den Brief auf.
In dem Brief war ein Blatt Papier. Ich faltete es auseinander, gespannt wie ein Kind das sein Weihnachtsgeschenk auspackt.
Es war ein Brief, geschrieben mit blauer Tinte in einer Schrift die ich ganz sicher kannte.
Ich brauchte ein paar Sekunden um tatsächlich herauszufinden, das das meine Schrift war.
Ich konnte mich erinnern, wie ich mit 17 oder so verzweifelt versuchte das H mit so vielen Schlingen wie möglich zu schreiben. Ich fing an zu zittern, Tränen schossen mir in die Augen und mein Herz klopfte wie verrückt.
Das war mein Brief. Mein Liebesbrief, geschrieben an Nicholas, meine erste große Liebe.
Nicholas,
Es ist schon seltsam hier zu sitzen, ohne dich und plötzlich so sicher zu sein, dass ich dich liebe; Ohne jeden Zweifel. Ich habe immer geglaubt man kann sich nie vollkommen sicher über Gefühle sein aber ich bin es, jetzt gerade und ich möchte diesen Moment festhalten für dich –für uns.
Ich liebe dich und ich kann mir nicht vorstellen jemals damit aufzuhören.
Ich fing an zu schluchzen. Der Brief schien einen Geist zu haben der in mich schlüpfte und alle Erinnerungen hervorbrachte.
Eine ausgelassene Kissenschlacht, ein Mund, der meine Lippen suchte und dieser Traum vom ewigem Glücklichsein –zusammen, für immer und immer.
Ich wischte eine Träne mit meinem Ärmel fort. Wir haben nächtelang damit verbracht Pläne zu machen, Arm in Arm. Wir wollten Kinder, mindestens zwei, ein Haus und einen Kirschbaum. Ich lächelte in Erinnerungen an diese Zeit ausgefüllt mit unsrem gemeinsamen Traum. Jawohl das war es: ein Traum, wie ein Bild gemalt mit den Farben unserer Phantasie. Nicht mehr, ein dummer Traum von Jugendlichen, die an die Liebe glauben.
Ich zog die Nase hoch. Unsinn, alle Erinnerungen hervorzuholen. Ich nahm den Briefumschlag wieder in meine Hände. Kein Zeichen von dem Absender. Ich schüttelte den Kopf und verbrannte meine Lippe an dem zu heißem Tee.
Der Brief war immer noch da.
Wie lange habe ich versucht herauszufinden was dieses verteufelte Gefühl namens Liebe ist. Wie oft habe ich gezweifelt, wenn die anderen sagten: Wenn du liebst, dann weißt du das auch.
Jetzt weiß ich.
Die Liebe hat Gründe, die der Verstand nicht kennt.
Denk and den Teufel mit Flügel.
Du weißt ich liebe dich.
Lilly
Ich liebe dich, Lilly.
Das war der Moment in dem ich anfing zu weinen. Ich legte den Brief auf den Tisch, meine Hände in mein Gesicht und weinte über längst vergessene Zeiten, über mein gebrochenes Herz von damals. Seine Eltern zogen nach Frankreich und er mit ihnen. Wir versuchten Kontakt zu halten, aber Briefe können so verdammt kalt sein. Nach wochenlangem Liebeskummer und wahrscheinlich mehrere Kilos Schokolade lernte ich Daniel kennen, ein netter Kerl der sich in mich verliebt hatte und mit jedem Kuss, jeder Berührung entfernte sich Nicholas ein wenig mehr.
Am Ende sah ich ein, dass das mit Daniel nichts wirklich wahres war, aber es sorgte dafür, das Nicholas in Frankreich blieb und auf die Universität ging, während ich in Berlin versuchte mein Leben eine Struktur zu geben und glücklich zu werden.
Vielleicht war es Liebe, das was man den Filmen sieht, romantisch, fast unzerstörbar und schön. Vielleicht hätte ich ihn niemals loslassen sollen.
Ich konnte die Nacht nicht schlafen. Was zum Teufel machten diese Briefe in meinem Briefkasten?
„Vielleicht ist dieser Nicholas ja zurückgekehrt“ Herr Erikson rümpfte seine Nase, sowie immer wenn ihn was verwundert. In seiner Stimme schwang ein Fragezeichen mit sich. Ich lächelte in Erinnerung an ihn. „Und sie haben ihn wirklich, wirklich geliebt?“ Er sah mir in die Augen. „Ja..., ich denke schon. Wir waren sehr jung aber ich habe nie wieder so gefühlt wie für diesen Jungen.“ Er lächelte und fixierte einen Punkt rechts neben meinem Kopf. Ich drehte mich um und sah Frau von Pommer sehr elegant den Weg entlang spazieren. Sie war etwas wie eine Gräfin, ziemlich reich. Herr Erikson wurde etwas rot, genau hinter seinen Ohren. Frau Pommer hatte es ihm seit Jahren angetan. Doch trotz seines Alters reagierte er jemals wie ein verknallter Teenager, nicht wirklich in der Lage ihr seine Gefühle zu erklären. Ich lächelte und winkte Frau Pommer zu uns herüber.
Nach ein paar belanglosen Geplauder über das Wetter lies ich die beiden allein. Es ist schon seltsam, wie Liebe manchmal überall ist und manchmal nirgendwo.
Meine gute Laune war mit einem Schlag vorbei als sah, dass das einzige in meinem Briefkasten eine Postkarte von meiner Schwester, die Ferien in Spanien machte und eine Stromrechnung war. Kein blauer Brief. Keine blauen Erinnerungen. Und mir einem Schlag, ohne jegliche Vorbereitung vermisste ich Nicholas. Das Gefühl überkam mich wie eine Welle. Ich wollte ihn bei mir haben, sein Gesicht berühren, ihn festhalten.
Nicholas.
Manchmal weiß man Dinge einfach. Man muss nicht darüber nachdenken warum und wie, man weiß einfach.
Ich erwachte ich in meinen Sachen und mit einem leerem Weinglas neben mir auf dem Sofa auf. Die Sonne warf einen Schein durch das Fenster und ich versuchte dem Strahl zu entfliehen, um noch einmal in meinen Schlaf zu driften. Die Sonne gewann. Ich stand auf und lies mir ein Bad ein. Ich wusste das der Tag mich verändern würde.
Ich wusste auch, das etwas passiert war, als ich im Rosenheim ankam. Die Stimmung war gedrückt, niemand sah mich wirklich an. Schwestern murmelten „guten Morgen“ und verschwanden ohne den üblichen Morgengeplapper. Ich runzelte die Stirn und ging besorgt zu meinem Büro, vorbei an Frau Pommers Zimmer, die schluchzend auf ihrem Bett lag. Ein sehr kaltes Gefühl überkam mich. Irgendetwas lief ganz eindeutig schief. Anetta, unsere Praktikantin, war am Telephonieren als ich in das Büro kam, aber sie gab mir Handzeichen, das sie mit mir reden wollte. Mit einem unguten Gefühl setzte ich mich an meinen Schreibtisch und wartete. Nach einer Weile legte Anetta auf und wendete sich zu mir.
„Herr Erikson hatte heute Morgen einen Herzanfall. Er starb im Krankenhaus.“ Sie sah auf den Boden. Der Tod ist etwas woran man sich gewöhnen sollte, wenn man mit sehr alten Menschen arbeitet. Ich habe das nie geschafft.
Herr Erikson war schon seit Jahren im Heim, jeder liebte ihn, weil er immer einen Rat bereit hatte, für jeden einen Satz zum Leben.
Anetta sah mich nachdenklich an und ich nickte nur stumm.
Frau Pommer weigerte sich aus ihrem Zimmer zu kommen. Ich ging zu ihr, und setzte mich auf ihre Bettkante, streichelte ihr graues Haar. Sie weinte eine Weile, dann öffnete sie die Schublade ihrs Nachtschränkchen und gab mir schluchzend ein Bündel Papiere in die Hand.
Es war rosanes Papier mit Rosen, sie nickte mir zu und ich fing an die blaue, klare Schrift zu lesen. Liebesbriefe. Ein ganzer Stapel Liebesbriefe an Herrn Erikson, geschrieben von der Frau neben mir. Liebesbriefe, die niemals abgeschickt wurden.
Ich sah die immer noch schluchzende Frau Pommern an und fing ganz plötzlich an ebenfalls zu weinen.
Heiße Schokolade ist immer noch der beste Retter. Heiße Schokolade und Kirschkuchen. Der Teig war überall, ich musste einfach lachen als ich mich selbst im Spiegel sah, über und über mit Kuchenteig wie ein kleines Kind. Der Kuchen im Ofen verströmte einen wundervollen Duft von Kirschen und meiner Kindheit.
Ich wusch mein Gesicht und meine Hände als jemand an der Haustür klingelte. Ich öffnete die Tür und sah genau in die Augen von ihm.
Nicholas.
Mein Herz kam vor lauter Liebe ganz aus dem Takt. Er hatte sich nicht großartig verändert, die gleichen Augen, die gleichen dunklen Haare.
Ich stand einfach da und starrte ihn an. Und mit einem Schlag verschwunden die letzten 10 Jahre, all die verletzen Gefühle, all die anderen Erinnerungen. Es blieben nur noch er und ich übrig, wir und unsere Liebe. Es war als wäre er nur ein paar Stunden fort geblieben. Ich fiel in seine Arme, weinend und lachend und ihn einfach so wahnsinnig liebend. Er hielt mich fest für eine Weile, dann küsste er mich.
Seine Art zu küssen hatte sich nicht verändert. Nach einer Weile sah er mich an, berührte meine Wange und lächelte als er ein wenig Kuchenteig aus meinem Haar entfernte. Ich lächelte zurück und nahm seine Hand, um uns herum war der Geruch von dem Kirschkuchen und ich schwor mir, ihn nie wieder gehen zu lassen.
Meine große Liebe.
Nicholas.