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Auf dem Eis
Es hat wieder angefangen zu schneien. Hier und da schweben dicke Flocken auf den Boden, der schon mit einer dünnen weißen Schicht bedeckt ist. Etwas Kaltes legt sich auf Ingas Nase und beginnt, bei dem Kontakt mit der warmen Haut sofort zu schmelzen.
Inga freut sich. Schon lange haben sie hier im Ruhrgebiet keinen Winter wie diesen mehr gehabt. Richtig mit Schnee und Eis!
Inga sieht glücklich auf den See vor sich, auf dem sich jung und alt schlindernd oder gleitend über das Eis bewegt. Sie nimmt die Schlittschuhe von ihrer Schulter und zieht sie an. Viertel vor drei. Natürlich ist sie wieder mal die erste. Ihre Freunde necken sie schon wegen ihrer ständigen Überpünktlichkeit.
Vorsichtig steigt sie aufs Eis und wagt die ersten Schritte. Welch ein Unterschied zu dem Eisstadion mit seinem Gedränge und den Disco-Sounds! Hier sind Raum und Weite, und statt der Schlittschuhrillen der anderen Leute gibt es hier als Hindernisse nur die dünne Schneedecke und hier und da einen Zweig oder ein Blatt.
Ein paar Meter vor ihr sind ein Mann und ein Kind. Der Mann spricht ruhig und fährt langsam einen kleinen Halbkreis. „Siehst du, so kannst du übersetzen.“, mit der Betonung auf dem „über“. Das Kind versucht es nachzumachen, löst den rechten Fuß vom Eis, um ihn links vor den anderen zu setzen. Ein paarmal klappt es, doch dann stolpert es über einen eingefrorenen Ast und purzelt auf den Boden. Die dicke, rote Pudelmütze fällt vom Kopf und gibt zwei Rattenschwänzchen frei.
Inga sieht zu, wie der Mann dem Mädchen auf die Beine hilft und es geduldig aufmuntert, überrascht über die Intensität ihrer Gefühle. Was rührt sie so daran?
„Natürlich! - Paps!“ Ihr eigener Vater hat ihr das Eislaufen beigebracht, war jeden Winter mit ihr auf den Teichen in der Umgebung. Damals waren sie noch jedes Jahr zugefroren, und sie hat die Zeit immer genossen. Auch in dem Jahr, als ihre Eltern sich trennten, hat sie gespannt auf die kalte Jahreszeit gewartet.
Es war keine dramatische Scheidung, nicht wie bei ihrer Freundin Dorle, bei der heftige Streitigkeiten und Gekeife auf der Tagesordnung waren. Nein, ihre Eltern haben vor ihr selten gestritten und sich nie gegenseitig herabgesetzt, und erst Jahre später hat Inga begriffen, wieviel Unglück ihr dadurch erspart geblieben ist. Trotzdem war es für sie eine schwere Zeit. Es war immer ein Loch, entweder Paps oder Mama fehlten ihr, und selbst das Verständnis ihrer Eltern war nicht imstande, diese Lücke zu füllen.
Damit sie genug Zeit mit beiden Eltern hatte, lebte sie jeweils eine Woche bei ihrer Mutter und eine bei ihrem Vater. Auf einmal hatte sie zwei Zuhause, zwei Kinderzimmer, zwei Betten – und doch hat sie sich nicht mehr richtig daheim gefühlt. Obwohl der Übergang von einer Wohnung zur anderen immer mit einem Haufen von Taschen und Tüten verbunden war, vermisste sie fast jedes Mal irgendetwas: ihre Barbies, ihre Lieblingspuppe oder irgendein Buch, das sie gerade in dieser Woche lesen wollte und zuhause vergessen hatte. Und irgendwann wachte sie nachts auf und fand, verschlafen, wie sie war, den Weg zum Klo nicht, weil sie sich so schnell nicht orientieren konnte. Es war einfach so verwirrend, immer dieser Wechsel, und sie hörte die Eltern mit gedämpfter Stimme über sie reden hören, wie sie es immer taten, wenn sie es nicht mitbekommen sollte.
Inga gleitet über das Eis, mit ihren Erinnerungen beschäftigt. In dem Trennungsjahr damals war die Kälte spät eingebrochen, und Inga hat jeden Tag den Teich kontrolliert und ungeduldig auf die Freigabe durch die Stadt gewartet. Dann endlich war sie mit ihrem Vater auf dem Eis, übte Drehungen mit ihm und Rückwärtsfahren. Sie spürte, dass etwas in der Luft lag, obwohl sie keine Ahnung hatte, was es sein könnte.
Sie haben eine Pause gemacht und am Ufer gehockt, mit einer Schnitte und etwas heißem Tee aus der Thermoskanne. Ihr Vater hat sie eine ganze Weile angesehen und dann zögernd das Gespräch begonnen: „Du weißt ja, dass Mama und ich dich sehr lieb haben. Aber wir haben uns ja schon vor Monaten getrennt.“
Inga nickte. Das wusste sie doch alles.
„Inzwischen habe ich eine andere Frau kennen gelernt. Eine Frau, die ich auch lieb habe, und wir bekommen ein Baby.“
Inga reagierte nicht, und ihr Vater fuhr fort:
„Stell dir vor, du wirst ein Brüderchen oder Schwesterchen bekommen!“
Inga war fassungslos, doch sie schaffte es, alle auf sie einstürmenden Gefühle aus ihrer Stimme zu filtern und etwas tonlos zu fragen: “Ein Baby?“
„Ja, und da müssen wir etwas ändern. Wir werden eine größere Wohnung brauchen, und da ich in unserer Nachbarstadt arbeite, werden wir da auch eine suchen. Aber du kannst dann die Wochenenden zu uns kommen, und an den Feiertagen, und in den Ferien...“
Das war zuviel. „Ich hasse dich!“ wollte Inga aufschreien, „dich und die Frau und das Baby!“
Stattdessen sprang sie auf, begann, quer über den Teich zu fahren und fuhr und fuhr. „Nur nicht stehen bleiben!“ dachte sie bei sich, denn dann könnte der ganze Schmerz sie einholen. Nur laufen, laufen, in langen, gleitenden Schritten, immer weiter, immer voran! Sie drehte Runde um Runde auf dem See, bis ihre Füße zu schmerzen begannen. Ihre Unterschenkel taten ihr weh, und die Kinderschlittschuhe, die ihr langsam zu eng wurden, brannten Löcher in ihre Fersen. Sie begann zu singen, Lieder von ihren Kassetten, laut, brüllte sie in den Wind, und erst als sie völlig müde war, kehrte sie zu ihrem Vater zurück.
Ingas Atem stockt, und bewusst inhaliert sie ein paar Züge tief in die Lunge und bläst sie wieder aus, bis sich von selbst ein neuer Rhythmus bildet.
Es ist dann alles viel weniger schrecklich gewesen, als sie sich das ausgemalt hat. Die neue Wohnung war an der Stadtgrenze und kaum weiter entfernt als die alte. Die andere Frau war auch ganz in Ordnung, und ihr Brüderchen, Eike, wurde ein Freund, den sie nie mehr missen wollte.
Und in der Wohnung der Mutter lebte Inga sich richtig ein und fand dort Freunde. Sie kam langsam zur Ruhe. Nur ihre Füße haben Spuren ihrer Qual gezeigt, und wochenlang sind die Wunden an ihren Fersen nicht verheilt.
Gemütlich gleitet Inga wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurück, an dem jetzt, einer nach dem anderen, Ingas Freunde auftauchen und sich die Schlittschuhe anziehen. Sie sieht wieder zu dem Mann und dem Mädchen hinüber, das ungelenk und nach vorn gebeugt sich abmüht, rückwärts in Schwung zu kommen.
„Nicht nach unten sehen, dann kommst du ins Stocken!“ versucht der Mann, ihm die Angst zu nehmen. „Nur Mut, das Eis trägt dich schon!“