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Auf den zweiten Blick

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23.04.2008
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Auf den zweiten Blick

Der Flur, in dem Jack stand, war dunkel. Nur am Ende des Ganges drang Licht durch die Jalousien eines kleinen Fensters. Überall standen noch Umzugskartons herum. Es hatte sich gelohnt, dem Tipp eines Freundes nachzugehen, dies musste die richtige Wohnung sein. Jack suchte nur noch nach dem eindeutigen Hinweis. Er ging zu den Kartons und zog eine weiße Decke von einer der Schachteln. Er untersuchte den Inhalt und holte eine eingerahmte Fotografie heraus. Auf ihr war ein Mann abgebildet, der auf einem alten Truck saß, näheres war wegen des schlechten Lichts nicht zu erkennen. Er musste ganz sicher gehen, er konnte sich keinen Fehler erlauben. Er holte sein Feuerzeug aus der Tasche und leuchtete auf das Bild. Mit einem lauten Klirren schlug es am Boden auf. Er hatte den Mann, der sein ganzes Leben mit einem Schlag veränderte, sofort wiedererkannt. Er war auf der Abbildung zwar um einiges jünger als Jack ihn von ihrem letzten Aufeinandertreffen in Erinnerung hatte, aber seine großen ausdrucksstarken Augen verrieten ihn.

Was wissen schon Ärzte, für sie ist man geheilt, wenn man nicht mehr über Schmerzen klagt. Die jahrelangen Therapien und die unzähligen Pillen hatten sich also nicht bezahlt gemacht. Ein einziger Blick auf Jacks Dämon reichte aus, den Hass, die Enttäuschung und die Rachegefühle in ihm neu zu entflammen. Er ballte seine Fäuste und atmete kräftig durch, er musste sich beherrschen, er stand so kurz vor seinem Ziel. In diesem Moment hörte Jack das Klicken des Türschlosses. Dies war das Stichwort, auf das er gewartet hatte. Er ging in die Küche und stellte sich hinter den langen Vorhang, der die Speisekammer vom übrigen Raum abtrennte. Unzählige Male war Jack die Situation in den Stunden, in denen er sich schon in der Wohnung befand, durchgegangen. Trotzdem fingen seine Hände an zu zittern und in dem Moment, als in der Küche das Licht anging, schüttete sein Körper eine ungeheure Menge von Adrenalin aus, die ihn wie einen kurz vor dem Ausbruch stehenden Vulkan erbeben ließ. Schritte näherten sich ihm bedrohlich. Jack griff nach einem stumpfen Gegenstand und bekam eine Weinflasche zu fassen. Tausende Gedanken schossen vor seinem geistigen Auge vorbei und doch war es ihm, als könnte er in diesem Moment so klar sehen wie noch nie zuvor.

Durch einen Spalt zwischen Vorhang und Wand konnte Jack die Umrisse eines Mannes erkennen, der gerade den Kühlschrank einräumte. Er war es, er musste es sein. Und er würde für das, was er angerichtet hatte, bezahlen. Mit einem dumpfen Knall schlug die Weinflasche auf dem Hinterkopf des Mannes auf. Keuchend ging dieser zu Boden und blieb reglos liegen. Kurz spielte Jack mit dem Gedanken jetzt abzuhauen. Noch konnte er wohl ungeschoren aus dieser Angelegenheit rauskommen. Aber dies wäre nicht richtig, er war es ihr schließlich schuldig, die Sache zu Ende zu bringen. Er drehte den Mann auf den Rücken und blickte in sein Gesicht. Anscheinend waren die Jahre spurlos an ihm vorbeigegangen, kein Fältchen oder gar graues Haar war zu sehen. Plötzlich riss der Mann seine Augen weit auf. Es waren dieselben großen ausdrucksstarken Augen, die Jack damals während der Verhandlung unentwegt anstarrten. Und weder jetzt, noch damals, zeigten sie auch nur einen Funken von Reue oder Entschuldigung.

Jack war rasend vor Wut. „Wieso hast du sie damals übersehen, wie konntest du nur, sie war gerade einmal neun Jahre alt. Sie hatte ihr ganzes Leben noch vor sich!“
„Wovon reden Sie nur? Ich weiß nicht ob…“
„Diesmal wirst du nicht so davonkommen, diesmal gibt es keine Anwälte und Geschworenen. Nur du und ich. Und du hast genau so wenig Chancen, wie sie meine Tochter vor fünf Jahren gegen dein Auto hatte, als sie blutüberströmt auf dem Gehsteig lag und hilflos verblutete, nachdem du sie niedergefahren hattest.“
Der Mann brach in Tränen aus und stammelte unverständliche Wörter. Jack kniete nun auf seinem Brustkorb und in dem Küchenmesser aus Edelstahl spiegelte sich die Verzweiflung in den großen ausdrucksstarken Augen wider. Aus Verzweiflung wurde Entsetzen als sich die kalte Klinge das erste Mal tief in die Brust des Mannes bohrte. Mit letzten Kräften versuchte er etwas zu sagen, doch Jack stach bereits ein weiteres Mal auf ihn ein und hörte erst auf, als der Körper keine Regung mehr von sich gab. Mit jedem Stoß hatte sich Jack ein Stück seines eigenen Schmerzes entledigt. Er stand da und blickte auf seine blutverschmierten Hände und sein Opfer, das in einer Blutlache vor ihm lag. Irgendwie fühlte er sich erleichtert und befreit, ein Gefühl, das er all die Jahre vergessen hatte. Keine Therapie und keine Pille konnte es ihm bis dahin wiedergeben. Mit seiner Tochter starb ein Teil von ihm und mit diesem Teil hatte Jack nun endgültig abgeschlossen.

Neben dem Mann lag seine offene Brieftasche, er musste sie beim Sturz verloren haben. Zu Jacks Verwunderung blitzte daraus ein Führerschein hervor. Wie konnte dieser Mann nach so einem verursachten Unfall wieder eine Fahrberechtigung besitzen. Fassungslos betrachtete Jack das Dokument genauer. Vom Foto lachte ihm ein freundlicher, junger Mann entgegen, auffällig jung. Irgendetwas stimmte nicht. Die Augen waren zwar dieselben, groß und ausdrucksstark, aber das Geburtsdatum konnte nicht stimmen. Der Mann, der seine Tochter tötete war Mitte 30 und der Besitzer dieses Führerscheins war 26. Ein kalter Schauer lief Jack über den Rücken. Der Namensvergleich bestätigte schließlich seine schreckliche Vermutung. Der Familienname war zwar derselbe, doch der Vorname war ein anderer. Aber dies war unmöglich. Es war seine Wohnung. Er hatte das Bild von ihm auf dem Truck gesehen. Jack lief in den Flur, fischte das Foto zwischen den Scherben heraus und hielt es gegen das Licht. Seine Hand zitterte. Auf dem Bild war eindeutig der Mann zu erkennen, der seine Tochter überfahren hatte. Er saß auf der Motorhaube des Trucks und lachte in die Kamera. Die Aufnahme musste ein paar Jahre vor dem Unfall gemacht worden sein. Sein jüngeres Aussehen und seine Frisur ließen darauf schließen. Jacks Augen wanderten weiter auf dem Bild, nach Details suchend. Und er wurde auch fündig. Er hatte es zuvor in der Aufregung übersehen, doch auf dem Foto befand sich noch eine Person. Ein junger Mann saß auf dem Fahrersitz des Trucks, durch die Scheibe etwas undeutlicher zu sehen. Eine Hand hatte er auf dem Lenkrad, mit der anderen winkte er in die Kamera. Die Ähnlichkeit der beiden war verblüffend. Jacks Entsetzen stand ihm ins Gesicht geschrieben. Mit einem Mal waren die Erleichterung und die Befreitheit wieder weggewischt. Ein dicker Klos bildete sich in seiner Kehle und machte ihm jedes Schlucken unmöglich. Seine Hände zitterten nun nicht mehr, sie waren taub, er spürte sie nicht. Das Foto glitt aus seinen Händen. Es blieb auf der Vorderseite liegen und Jack las den Satz auf der Rückseite: „Für meinen kleinen Bruder, mögen wir gemeinsam in eine bessere Zukunft fahren!“

Jack reißt die Augen auf. Ein übergewichtiger Mann hat mit lautem Poltern die Tür des Abteils aufgestoßen. Schwerfällig hebt er seinen Koffer in das Gepäcksfach und setzt sich auf die Bank gegenüber. Jack sieht auf seine Hände. Nichts. Kein Blut. Keine Anzeichen eines Kampfes. Er schnauft einmal laut durch. „Na junger Mann, wieso so bedrückt, wohl schlecht geträumt?“ „Ja, so könnte man das sagen.“ Jack braucht frische Luft. Er verlässt das Abteil und stellt sich zum nächsten Fenster. Er ist allein in dem Gang. Ähnlich wie in dem Flur am Anfang seines seltsamen Traums. Er schiebt die Scheibe ganz nach unten und streckt seinen Kopf nach draußen. Der kühle Nachtwind fährt durch seine Haare, seine Gedanken ordnen sich wieder, keine Angst, alles nur geträumt. Zur Beruhigung zündet sich Jack eine Zigarette an, bläst den Rauch langsam aus seinem Mund und sieht zu, wie er sich mit den vorbeiflitzenden Lichtern der Städte vermischt.

Seine Ärztin hatte ihn davor gewarnt. Wenn er die Medikamente so plötzlich absetzt, könnte es zu Wahnvorstellungen kommen. Sehr intensiv, erst mit der Zeit würden sie etwas abklingen und letztlich ganz verschwinden, im Idealfall. Jack lacht bei dem Gedanken auf, denn er weiß, dass er nicht der Idealfall ist. Nicht nachdem, was ihm widerfahren ist. Nicht nach den Schmerzen, die er gelitten hat. Natürlich hatte er oft mit den Gedanken gespielt, den Mann, der sein geordnetes Leben ins Chaos stürzte, aufzusuchen, um mit ihm abzurechnen. Besonders dann, wenn die Schmerzen um den Verlust seiner Tochter unerträglich wurden und er keinen Sinn mehr in seinem Leben sah. Doch es ist ein weiter Schritt zwischen Wahnvorstellung und Realität. Jack wirft die Zigarette aus dem Fenster und sieht den Funken zu, wie sie fröhlich für ein paar Sekunden am Nachthimmel mit den Sternen tanzen. Entspannt steckt er dabei beide Hände in die Hosentasche. Links fühlt er das Feuerzeug und rechts ein Papierknäuel. Ein Papierknäuel? Neugierig holt es Jack hervor und streicht es glatt. Es fühlt sich an wie Fotopapier.

Jack öffnet langsam die Tür und setzt sich ins Abteil zurück. Er ist kreidebleich im Gesicht. Schweiß tropft ihm von der Stirn. Sein Blick ist gerade auf den Boden gerichtete, er zuckt kein einziges Mal mit den Augenlidern und sein Oberkörper bewegt sich stetig auf und nieder, als ob er auf einem Sessel schaukeln würde. Der beleibte Mann in seinem Abteil ist verwirrt und erkundigt sich abermals nach Jacks Befinden. Sein Mund öffnet sich langsam und Jack stammelt die Worte: „Wie konnte ich nur den Jungen hinterm Lenkrad übersehen, wie konnte ich nur den Jungen hinterm Lenkrad übersehen?“

 

Hallo thoughtless!

Willkommen auf kg.de.

Aus deinem sauber geschriebenen Text entnehme ich, dass du kein Anfänger bist, also erzähle ich dir unverblümt, was mich stört:

Schon aus dem Titel wird klar, dass es sich um eine Pointengeschichte handelt, und das ist nicht unbedingt gut. Man weiß sofort, dass Jack den Falschen erwischt und das nimmt fast die gesamte Spannung aus dem Text. (Auch wenn du es nachher noch etwas umdrehst, aber ich gehe den Text entlang.)

"in den Stunden, in denen er sich schon in der Wohnung befand" => In Absatz eins war er doch gerade in die Wohnung gekommen. Dass er sich dort inzwischen so lange aufgehalten hat, solltest du im Text deutlich machen. (Beschreibe z.B. die Langeweile oder die Anspannung, die er empfindet, was du willst.)

"Dies war das Stichwort, auf das er gewartet hatte."
"Jack griff nach einem stumpfen Gegenstand und bekam" => Wenn er stundenlang darauf gewartet hat, warum hat er dann keine Waffe zur Hand?

"Anscheinend waren die Jahre spurlos an ihm vorbeigegangen" => Neben dem Titel verrät auch das hier, dass Jack den Falschen erwischt hat.

"Ein dicker Klos" => Kloß

Und dann folgt: Es war alles nur ein Traum, oder eine Wahnvorstellung, wie du es ausdrückst. Ich mag solche Texte nicht besonders, verstehe auch das Ende nicht ganz. Die Geschichte mit der Tochter ist klar, das hast du ja in der "Wahnvorstellung" ausführlich erklärt, aber was hat es mit dem "Jungen hinterm Lenkrad" auf sich? Willst du etwa behaupten, dass der Junge gefahren ist? Und das wird Jack durch ein Foto in seiner "Wahnvorstellung" klar?
Also, ich weiß nicht. Wenn Jack schon selbst denkt, dass er unter Wahnvorstellungen leidet, wie soll der Leser dann etwas anderes denken, wie soll der Leser glauben, dass der Junge wirklich gefahren ist, und dass Jack sich das nicht nur einbildet?

Fragende Grüße
Chris

 

Hallo Chris!

Vorweg muss gesagt werden, dass die Geschichte auf eine bestimmte Zeichenzahl hin geschrieben wurde, deswegen fehlen auch an ein paar Stellen erklärende Ausformulierungen.

Eine Waffe hatte er deswegen nicht mit, weil er nicht mit dem Vorsatz jemanden zu töten in die Wohnung ging. Er ist sozusagen hin und her gerissen, will auch zwischendurch die Wohnung wieder verlassen.

Was es mit dem Foto auf sich hat, hast du anscheinend etwas falsch verstanden: Die zweite Person auf dem Foto (die er zuerst nicht gesehen hat) ist der jüngere Bruder des Mannes, der seine Tochter niedergefahren hatte (Brüder sehen sich bekanntlich häufig ähnlich). Er tötet ihn dann in dem Glauben, den richtigen erwischt zu haben.

Und dass es eben keine Wahnvorstellung war, wird Jack klar, als er eben dieses Foto zusammengeknüllt in seiner Hosentasche findet. Also war er wirklich in der Wohnung.

 

Hallo thougtless!

Zeichenanzahl? Naja, jetzt bist du ja hier bei kg.de und kannst dich austoben und alles, was du willst, ausbauen oder ändern.

"Eine Waffe hatte er deswegen nicht mit, weil er nicht mit dem Vorsatz jemanden zu töten in die Wohnung ging." => Das wurde mir nicht klar. Was will er denn sonst da? Sich angucken, wie der Mörder seiner Tochter so lebt?
Und wieso das hier: "Er musste ganz sicher gehen, er konnte sich keinen Fehler erlauben." => Wobei musste er sicher gehen?
Und das: "hörte Jack das Klicken des Türschlosses. Dies war das Stichwort, auf das er gewartet hatte." => Was soll denn das für ein Stichwort sein, wenn Jack dort nichts Bestimmtes wollte?

"will auch zwischendurch die Wohnung wieder verlassen." => So? Das steht aber doch nirgends im Text.

Das mit dem Foto hatte ich verstanden, doch dass er das Foto tatsächlich hat, als er im Zug sitzt, steht auch nicht im Text. Da steht nur: "Ein Papierknäuel? Neugierig holt es Jack hervor und streicht es glatt. Es fühlt sich an wie Fotopapier." => Das könnte auch ein Foto seiner Großmutter sein, wenn es überhaupt ein Foto ist, was hier nirgends ausdrücklich steht.
(Und dass er das Foto aus der Wohnung mitgenommen hat, steht auch nicht im Text. Das letzte ist das hier: "Das Foto glitt aus seinen Händen. Es blieb auf der Vorderseite liegen" Wenn Jack es nicht aufhebt, geht der Leser davon aus, dass es dort noch immer liegt.)

Meiner Meinung nach gibst du den Lesern hier zuwenig Eindeutiges. Der Leser kann denken: ja, so könnte es der Autor gemeint haben - oder eben auch nicht. Du solltest dem Leser wirklich erzählen, was du erzählen willst.
Dass du so oft auf Wahnvorstellungen anspielst, macht es den Lesern auch nicht einfacher.

Grüße
Chris

 

Hi.

Er musste sicher gehen, dass es die richtige Wohnung war, die des Mörders seiner Tochter.

Das Stichwort, in sein Versteck zu gehen. Ob mit mörderischen Absichten oder nicht...

"Kurz spielte Jack mit dem Gedanken jetzt abzuhauen." --> spielt durchaus auf Unsicherheit an.

Und zum Rest: Du scheinst ja eher ein Freund, von 'geraden' Erzählstrukturen zu sein. Ich glaube man muss dem Leser nicht jedes Detaill erläutern, damit er es auch ja versteht - ich will es auch gar nicht. Der Leser darf selbst überlegen, wieviele Fotos in der Story vorkommen und was es wohl zu bedeuten hat, wenn Jack ein fotoähnliches Papier in seinen Taschen findet. Das ist eigentlich der ganze Knackpunkt der Story, den vollkommen aufzulösen, halte ich für wenig sinnvoll.

Ich möchte dem Leser durchaus zum Mitdenken einladen und ihm auch seine Freiheiten und Interpretationen geben. Hat auch schon anderorts geklappt.
Wollte nur mal sehen, welchen Anklang das Geschriebene hier in diesem Forum findet.

bg
thoughtless

 

Hallo thoughtless!

Ja, andernorts. kg.de ist aber anspruchsvoller. Das macht für mich gerade den Reiz aus.

Ich habe es immer noch nicht kapiert: Warum geht dein Protagonist in die Wohnung desjenigen, der seine Tochter getötet hat? - Will er sich tatsächlich nur anschauen, wie der so lebt, oder was? (Nichts gegen das Mitdenken, aber der Autor muss genügend Anhaltspunkte liefern.)

Naja, wenn du kein Interesse am Ändern, bzw. der Verbesserung deines Textes hast (du hast ja nichtmal den RS-Fehler rausgenommen), beende ich hier die Diskussion.

Grüße
Chris

 

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