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Auf der Straße
Auf der Straße
Es war ein kalter Morgen Ende November, und ich fror am ganzen Körper. Ich lief die verschneite Straße hinunter, an den endlosen Auto- und Häuserreihen entlang und machte mir gerade Sorgen, dass ich zu spät zum Training kommen würde, als ich ihn sah. Blonde, leicht verwuschelte Haare, die vom Wind zerzaust um seinen Kopf herumwirbelten, und die er in dieser Sekunde mit einer einzigen fließenden Bewegung zur Seite strich. Er trug eine schwarze Lederjacke und darunter einen ebenfalls schwarzen Kapuzenpullover, dazu Jeans und weiße Sneaker. An seiner Hand funkelte ein silberner Ring, und um sein Handgelenk lag locker ein Armband, welches den selben metallisch-silbernen Glanz besaß wie der Ring, der wenige Zentimeter davor das Licht der Sonne reflektierte, die gerade für einen kurzen Moment hinter ein paar Wolken hervorblitzte. Er lief über die Straße von der gegenüberliegenden Straßenseite her in meine Richtung. Genau auf mich zu. In wenigen Sekunden würde er mich erreichen, und dann würde alles um mich herum verschwimmen. Ich konnte nicht mehr laufen, nicht mehr denken und schon gar nicht reden. Vielleicht ja ein Kopfnicken. Ja, das würde ich vielleicht noch hinbekommen. Wenn ich dazu sogar ein "Hallo" oder "Was läuft" herausbringen würde, dann wäre das eine absolute Meisterleistung, aber soweit war ich nach eigener Einschätzung noch nicht.
Gleich. Gleich war es soweit. Er hatte die andere Straßenseite erreicht. Meine Straßenseite. Jetzt. Jetzt. Jetzt sah er auf und blickte direkt in meine Richtung. Er begann zu lächeln, als er mich sah, und dieses Lächeln brachte mich endgültig um den Verstand. Alles um mich herum wurde wie ein Glas Milch. Hell und leicht süßlich und unmöglich zu durchschauen. Diese Blase, die uns beide umgab und die nur um uns herum existierte. Die alles andere irrelevant machte und die mich den Rest der Welt vergessen ließ. Dann blinzelte ich, und die Blase platzte. Denn jetzt war er fast bei mir, und ich war gezwungen, etwas zu sagen. Gezwungen, einen Laut von mir zu geben, am besten in einer menschlichen Sprache. "Du schaffst das", sagte ich mir selbst. "Du kannst ein normales Gespräch mit ihm führen." Und dann war er auch schon da. Er war stehen geblieben und grinste mich an. Wenige Schritte von mir entfernt. Ich hatte ebenfalls angehalten und grinste jetzt zurück. Wann bitte hatten sich meine Mundwinkel bitte in diese Richtung bewegt? Ich war mir sicher, bis vor wenigen Sekunden noch meinen "Es-ist-erst-Dienstag-und-ich-friere-mir-gerade-den-Hintern-ab" Gesichtsausdruck aufgesetzt zu haben, und jetzt grinste ich wie ein Honigkuchenpferd. "Hi", brachte ich heraus und starrte in seine Richtung. Teils aus Erwartung auf seine Antwort, teils weil seine Augen einfach diesen fesselnden Glanz besaßen. Diesen Punkt Licht in der Mitte der Iris, der einen festhält, wenn man ihn erst einmal gefunden hat, und der einen auch nicht mehr loslässt, sobald man hineingesehen hat. Diesen Punkt Licht verfolgte ich mit den Augen, während er in den seinen fröhlich umhersprang und seinem gesamten Blick dieses faszinierende Funkeln verlieh.
"Hi", sagte er. Er grinste immer noch. Ein warmes und einladendes Grinsen. Eins von der Sorte, bei der man einfach weiß, dass die andere Person es absolut so meint und dass sie sich freut, dich zu sehen. "Wo soll's hingehen?", fragte er.
Hatte er das gerade wirklich? Interessierte es ihn, wohin ich ging? "Zum Training", brachte ich heraus und hob meine Tasche mit meinen Sportklamotten hoch, die ich in der Hand trug. "Cool", entgegnete er. "Du spielst Fußball, oder?" Mein kindliches Grinsen neigte sich endlich zu einem gelassenen Lächeln. "Ja, genau", sagte ich. Fußball. Damit kannte ich mich aus. Darüber konnte ich gut reden. Das entspannte mich. "Am Wochenende ist ein wichtiges Spiel, und da scheucht uns der Trainer die ganze Woche in jeder freien Minute über den Platz", erklärte ich und erntete dafür ein anerkennendes Nicken. "Wow. Bei diesem Wetter jeden Tag draußen trainieren... Respekt", meinte er und brachte damit mehrere Feuerwerke in mir zum Explodieren. Fand er gerade etwas cool, was ich in meinem Leben machte? Sah so aus. "Okay", dachte ich mir, "es läuft gerade sehr gut, jetzt nicht durchdrehen." Um das Gespräch weiterzuführen, fragte ich einfach: "Du tanzt, oder?" Er nickte. "Ja, genau." "Seit wann?", fragte ich und riss mich endlich von dem hellen Punkt in seinen Augen los, den ich die ganze Zeit über angestarrt hatte. Er überlegte kurz. "Seit zwei Jahren", sagte er dann. "Cool", antwortete ich und wurde rot. Verdammt, warum passierte mir das immer in den unpassendsten Augenblicken? "Wie bist du dazu gekommen?", fragte ich dann, einfach um meine glänzenden Wangen zu überspielen. "Ich bin durch meine Mum dazu gekommen", erzählte er. "Sie war Tänzerin vor meiner Geburt. Sie hat mir oft von ihren Auftritten und von ihrer Tanzgruppe erzählt, als ich noch kleiner war. Irgendwann dachte ich mir, ich muss das auch mal ausprobieren, und seitdem liebe ich es." Er lächelte etwas verträumt. "Wow, das klingt schön", sagte ich und lächelte zurück. Wir sahen uns eine Weile an. "Ja, ist es", entgegnete er dann. Ich wollte ihn gerade fragen, was er beim Tanzen so machte, welchen Stil er tanzte und zu welcher Musik und noch tausend andere Sachen, die mir im Kopf herum schwirrten, als mein Handy klingelte. Ich zog es aus meiner Hosentasche und sah entschuldigend zu ihm hinüber. Er nickte nur verstehend. Ich nahm ab und hielt das Handy an mein Ohr. Großer Fehler. "Wo bleibst du? Wir warten seit einer Viertelstunde auf dich!", rief mein Trainer aufgebracht durch das Telefon, in einer Lautstärke, die mich mein Handy so schnell wie möglich von meinem Ohr wegheben ließ. Ich sah auf die Uhr. Scheiße. Er hatte recht, ich war extrem spät dran. Er hatte mich komplett durcheinander gebracht. Seine Augen, seine Stimme, dieser helle Punkt...
"Tut mir leid, Trainer, ich hab total die Zeit vergessen", sagte ich und sah zu Boden. Teils aus Zerknirschtheit, teils weil es mir peinlich vor ihm war, von meinem Trainer gerügt zu werden. "Beeil dich und schwing deinen Hintern hierher. Sofort!", kam es noch aus dem Telefon in meiner Hand, dann tutete es. Er hatte aufgelegt. "Tut mir leid, wenn ich dich aufgehalten habe." Er blickte betreten zu Boden. "Nein, nein", kam es sofort von mir. "Mach dir keinen Kopf, ich war eh schon zu spät, und der Trainer hat sowieso seit 'ner Woche schlechte Laune." Ich lächelte, und er sah auf und lächelte zurück. "Na dann", irrte ich mich, oder wurde er rot? Ich schüttelte fast unmerklich den Kopf, um diese Gedanken aus dem Kopf zu bekommen. "Hat mich gefreut, dich zu treffen...", sagte ich und versuchte, diese Worte mit so viel Ehrlichkeit zu sagen, wie ich konnte, um ihm zu zeigen, dass ich mich wirklich gefreut hatte. Um ihm vielleicht den Bruchteil des Feuerwerks in mir zu zeigen, das gerade wieder in roten Tönen in meinem Inneren implodierte. "Mich auch", sagte er und lächelte wieder dieses unwiderstehliche Lächeln, das einem das Gefühl von Ehrlichkeit und Wärme gab und förmlich den Schnee um uns herum zum Schmelzen brachte.
Noch einen Wimpernschlag. Dann war sein Lächeln an mir vorbeigezogen. Er lief weiter. Ich sah ihm nach. Er drehte sich um und lächelte, und seine Augen lächelten mit. "Und viel Glück beim Training", rief er noch. Dann war er hinter der nächsten Häuserecke verschwunden. Und ich war allein. Allein auf dieser Straße. An einem kalten Morgen Ende November.
Dann rannte ich. Ich rannte und rannte. Ich rannte, und irgendwann kam ich an. Aber den ganzen Tag über hatte ich dieses Gesicht vor Augen. Sein Gesicht. Sein Gesicht mit dem unsterblichen hellen Punkt.