Auf die Zeit warten
Ich warte. Hier und jetzt. Tipple träge von einer Ecke des Zimmers in die andere. Den ganzen Tag und die ganze Nacht. Ein Fuß nach dem anderen. Immer vorwärts. Immer weiter. Warten. Mein Kopf ist schwer und mein Körper müde. Doch an Schlaf ist nicht zu denken. Weil ich warten muss. Weil es noch nicht das Ende ist. Durch das schmale Fenster fällt kaum Licht. Alles ist in stiller Dunkelheit gehüllt, überzogen von einer grauen Decke. Das Bett. Der Tisch und der Stuhl. Niemals habe ich den Tisch zum Schreiben benutzt oder auf dem Stuhl gesessen. Und niemals habe ich auf dem Bett geschlafen. Ich sehe in ihnen keinen Sinn. Verstehe ihren Nutzen nicht. Und doch bedeuten sie mir viel. Sie sind meine kleinen Reichtümer. Denn sie teilen dasselbe Schicksal mit mir. Sie müssen warten, wie ich. Bis jemand sie benutzt, ihren Nutzen versteht.
Ich taste mich langsam an der Wand entlang. Berühre warme und kalte Stellen, fühle Leben, fühle Tod. Wie eine riesige Leinwand mit unzähligen Farbklecksen. Willkürlich verteilt, doch dick und farbenfroh. Die Zeit selbst hat sie bemalt. Jedoch scheint sie ihr unreifes Werk für immer vom Stativ genommen zu haben. Aus welchem Grund auch immer. Nun steht es im Nirgendwo und die Farben beginnen bereits zu verblassen.
Ich höre plötzlich Stimmen aus der anderen Ecke des Raumes. Die Stimmen reden wild durcheinander. Als würden sie sich heftig streiten. Viele Stimmen kreischen nun und sind aufgebracht. Ihr Lärm schwillt bis zum Unerträglichen an. Mich überkommen schlagartig stechende Schmerzen. Ich falle auf die Knie und halte mir die Ohren zu. Ich will ihnen nicht zuhören. Doch sie sind so laut. Du Idiot, schimpfen die einen unerbittlich, haben wir dir nicht gesagt, wie dumm hoffen ist? Haben wir dir nicht schon oft gesagt, vergesse sie? Lass sie los, wie sie einst dich? Ach ihr Vernünftigen, erwidern die andren grausam, was wollt ihr ihm schon sagen können? Eure Theorie versagte immer am Leben. Ihr alles Übersteigernden! Er kann das Mädchen nicht vergessen, denn wir lassen ihn nicht vergessen. Dieser Lärm. Er tut mir weh. Er bereitet mir Qualen, höllische Qualen. Hört auf! Hört auf mit diesem Lärm!, schreie ich. Doch die Stimmen steigen in mir auf. Sie werden ein Teil von mir. Immer lauter. Immer größerer Lärm. Es schüttelt mich, ich röchele nach Luft. Mir wird heißt und kalt. Immer abwechselnd. Übelkeit. Und plötzlich wieder Stille. Angenehme Ruhe. Keine Stimmen mehr. Die Schmerzen legen sich wieder, meine Atmung beruhigt sich. Trotzdem fühle ich mich immer schlechter, die Übelkeit nimmt rasant zu. Die Umgebung verschwimmt schließlich vor meinen Augen und ich klatsche kopfüber auf den Boden.
Ich wache auf. Hier und jetzt. Liege in einem fremden Zimmer auf dem Boden. Eingehüllt in einem Schlafsack. Es ist dunkel. Nur ein schmaler Lichtstreifen fällt durch die Türspalte. Ich fühle mich benommen. Schmecke Alkohol auf meinen Lippen. Dieser Stuhl, dieser Tisch, dieser Geruch. Ich erinnere mich. Ich weiß jetzt, wo ich bin. Es ist das Zimmer meines Freundes. Wie komme ich hierher? Geräusche von schwerfälligen Schritten drängen sich plötzlich an mein Ohr. Reißen mich aus den Gedanken. Jemand kommt die Treppe hoch. Er nähert sich mir immer mehr. Bis er schließlich an die kleine Türspalte tritt und den schmalen Lichtstreifen mit seinem Körper verdrängt. Es ist Sabrina. Ich kann ihr Atmen hinter der Tür hören. Wie sie tief einatmet und die Luft schnell wieder ausstößt. Das kommt mir alles so bekannt vor. Habe ich das nicht alles schon erlebt? Doch ich bin mir sicher. Es ist Jahre her. Ich war sechzehn und auf der Geburtstagsfeier meines Freundes. Das alles ist schon passiert.
Gleich wird sie etwas sagen, dann werde ich aufstehen, getrieben durch ihre sanfte Stimme, werde hinausgehen, sie begrüßen und ihr hinunter in den Keller folgen, in den nun völlig leeren Partyraum. Ich werde mich auf einen Stuhl setzen, spärlich bekleidet mit einem T-Shirt und einer Boxershorts, während ich leise im Hintergrund die Musik von Coldplay höre, meine Blicke auf sie geheftet habe und mich ihr völlig ausgeliefert fühle. Sie wird sich mir gegenüber setzen, wird mir tief in die Augen schauen, und schließlich lächelnd zu mir sagen: „Ich gebe dir eine Chance. Nur eine. Vermassle es deshalb nicht.“ Ich werde nicken und wir küssen uns und wir reden, während wir immerzu die Musik von Coldplay hören. Dauerschleife. Bis wir endlich einschlafen um fünf Uhr morgens. Dann werde ich am nächsten Mittag das Telefon klingeln hören, ihre Stimme klingt verzerrt durch den Hörer, gar nicht lieblich, nicht wohlwollend, vielmehr grausam und grob. Sie wird mir letztlich kurz erklären, dass alles zu schnell für sie gelaufen sei. Dass sie über alles noch mal nachgedacht habe. Es sei vorbei.
Hatte ich jemals eine Chance? Habe ich es vermasselt? Ich kann nicht denken. Mein Kopf fühlt sich wie Brei an. Immer noch liege ich auf den Boden in einem Schlafsack gehüllt und lausche nach ihrem Atmen. „Kommst du?“, sagt sie, während sie zweimal leise gegen die Tür klopft. Schweigen. Langsam öffne ich den Reißverschluss an meinem Schlafsack. Ich stehe auf und merke, dass ich eine Hose trage. Merkwürdig. Damals hatte ich keine Hose an. Sie klopft wieder, diesmal dreimal und etwas lauter. Unsicher gehe ich auf Tür zu, stecke dabei meine Hände in die Hose und fühle auf einmal ein Stück Papier. Einen Zettel. Ich stoppe verwundert und schalte das Licht ein. Dann merke ich, dass niemand in diesem Zimmer liegt. Ich bin ganz alleine. Hatten hier damals um diese Zeit nicht alle schon längst geschlafen? Ist es vielleicht doch keine Wiederholung? Beginnt etwas Neues? Sabrina öffnet die Tür und geht auf mich zu. „Kommst du endlich?“. Ich schaue sie an, sehe ihre funkelnden grünen Augen. Und plötzlich verliere ich die Kontrolle über mich. Stimmen steigen in mir auf. Ich stehe neben mir. Kann mir selbst zuschauen, wie ich ihr den blauen Zettel zeige. Wie ich ihn ihr vor die Nase halte. Wie meine Hände ihn hastig entfalten. Und wie eine hässliche schwarze Schrift zum Vorschein kommt. Alles geht jetzt so schnell. Ich will es nicht, aber es passiert. Ich sehe nur noch ihren Blick, wie er entgleist, er zum einem blanken Entsetzen wird. „Du hast den Zettel?“, höre ich sie stammeln. „Ja, das siehst du doch.“, erwidert eine fremde Stimme schroff in mir. Es sind die Stimmen der Vernunft. Die Unbarmherzigen. Sie zwingen mich es vorzulesen. Ich will nicht. Wehre mich. Werde gepeitscht und gepeinigt. Fühle Schmerz. Gebe nach und lese in letzter Konsequenz den Text laut und fürchterlich vor:
HINWEISE IM UMGANG MIT DER VERZWEIFELTEN
Die Verzweifelte sucht vornehmlich Menschen, die ihr unterlegen sind und sich ihr ausgeliefert fühlen oder die ihr auf irgendeine Art und Weise verbunden sind um Kontrolle und Souveränität zu erlangen. So stärkt sie ihr Selbstbewusstsein, indem sie glaubt der Herr der Situation zu sein und sie entwickelt ein zunehmendes Überlegenheitsgefühl, dass ihre innere Unruhe und Nervosität überspielen soll. Dabei gibt sie sich großzügig, verspricht dir zum Beispiel eine Chance zu geben, ist sich allerdings nicht darüber bewusst, dass sie sich nur selbst eine Chance geben will ihre Verzweiflung nur einen Augenblick nicht zu spüren. Meist beruht ihre Unsicherheit, ihre Unruhe, ihre Nervosität auf ihrem eigenen Unvermögen Entscheidung zu fällen und Bindungen mit anderen Menschen einzugehen. Oft gehen diese Bindungen durch ihre ständigen Selbstzweifel, die sie auf ihre Mitmenschen projiziert um sich selbst zu entlasten, in die Brüche.
Wenn sie ihre Lippen auf die deine drückt, ist es für sie ein Bild ohne Vorgeschichte, ohne Probleme und ohne Gedanken. Es ist nur ein Augenblick, doch die Verzweifelte wünscht sich diesen Augenblick in Ewigkeit, verspricht deshalb oft mehr als sie halten wird. Sie ist auf der Suche nach einem Leben ohne Lieben zu müssen. Doch am nächsten Tag schon, werden ihre Selbstzweifel, die zwar nur langsam in ihr aufsteigen, wieder überhand gewinnen und sie wird diese Beziehung beenden. Es ist deshalb dringend davon abzuraten, eine Beziehung mit ihr einzugehen.
Tränen rinnen ihr über das Gesicht. Wie Regen. Die Stimmen versiegen und ziehen sich wieder aus mir zurück. Dann schluchzt sie: „Du weißt das das nicht wahr ist.“ Ja, ich weiß es. Nur zu gut. Sie stürzt die Treppe hinunter und rennt auf die Straße. Und mir wird immer deutlicher: ich muss warten, das ist mein Schicksal. Mein Zuhause sind die vier engen Wände meines Zimmers. Bis sie an die Tür klopft und ich ihr endlich öffnen und nach draußen folgen darf. Meine Augen werden feucht und auch ich beginne zu weinen. Doch diese Tränen bringen mir keine Katharsis. Mein Herz hängt immer noch an ihr.