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Auf einen Schlag
6.23 Uhr – wieder zwei Minuten vergangen. Die Zeit scheint sich zu ziehen, wie ein zu lange gekautes Kaugummi. Ich schaue hinüber, zum Bett neben mir. Im Halbdunkel erkenne ich, dass das Mädchen noch tief und fest schläft. Sie ist fünfzehn, zwei Jahre jünger als ich. Hat irgendwas am Kopf, genaueres weiß ich nicht, sie spricht nicht viel. Ich versuche mich auf den Bauch zu drehen, doch ohne den Linken Arm und das linke Bein zu benutzen, ist das ziemlich schwierig und so gebe ich den Versuch auf und bleibe auf dem Rücken liegen, starre gegen die weiße Krankenhausdecke.
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Ich erinnere mich noch, auf dem Heimweg gewesen zu sein, mit einer Klassenkameradin, die den selben Weg hatte. Wir hatten uns über einen Film unterhalten, als sie mich plötzlich fragte, ob ich mich kurz setzen wollte. Ich war verwirrt, wusste nicht warum, denn bis auf einen leichten Schnupfen ging es mir gut. In der Nähe gab es einen größeren Stein, auf den ich mich setzte. Ich nahm an, sie fand ich sei blass oder so etwas.
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Der Rücken tut mir vom langen Liegen weh. Ich schließe die Augen, versuche noch ein wenig zu schlafen, mich auf etwas anderes als die Rückenschmerzen zu konzentrieren. Doch alles, was mir sonst durch den Kopf geht ist, dass ich dringend pinkeln muss. Und zwar schon seit einer halben Stunde, seit ich um kurz vor sechs davon aufgewacht bin. Seither schiebe ich es vor mir her, rede mir immer wieder ein, ich könnte noch aufhalten. Natürlich, ich könnte nach einer Schwester klingeln, doch die setzt mich nur auf diesen dämlichen Schieber. Da komme ich mir vor wie ein Kleinkind. Und dann wird man nicht richtig abgewischt. Nein, auf keinen Fall! Ich halte aus. Es ist ja auch schon 6.27 Uhr, also nur noch 33 Minuten bis eine Schwester kommt, um uns zu wecken, Blutdruck zu messen, das Frühstück zu bringen.
Schlafen kann ich sowieso vergessen jetzt, die Vorhänge vor den Fenstern lassen viel zu viel Licht durch. Das bin ich nicht gewohnt. Zu Hause ist es immer total dunkel in meinem Zimmer, wenn ich schlafe. Aber zu Hause ist eh alles anders.
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Im Klinikum fragten mich die Ärzte immer wieder, was ich alles gefühlt, wahrgenommen und gemerkt hatte. Ich erinnerte mich nur, dass sich alles dumpf angehört hatte, als käme es von weit her. Ansonsten nichts. Keine Kopfschmerzen, kein Kribbeln, keine Sehbehinderung. Ich saß eine Weile auf dem Stein, während die erwähnte Klassenkameradin ihr Auto holte. Da fiel ich plötzlich zur linken Seite, als hätte meine linke Körperhälfte einfach aus heiterem Himmel versagt. Doch das war mir zu dem Zeitpunkt nicht bewusst. Ich weiß noch, dass ich nur da lag und mich wunderte, warum keiner da ist, der mich sieht und mir hilft. Und ich fragte mich, wieso ich nicht einfach aufstehen konnte.
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Ich fühle mich so hilflos. Wie oft habe ich mir vorgestellt, wie es ist, wenn man seine Beine oder Arme nicht bewegen kann. Habe mir immer vorgestellt, dass man sie dann nicht mehr spürt. Doch ich spüre noch alles. Nichts kribbelt oder ist taub. Nur bewegen geht nicht. Es ist, als könne ich meinem Gehirn einfach nicht befehlen, die linke Körperseite zu bewegen. Ich weiß schon gar nicht mehr, wie es sich anfühlt, die linke Körperseite zu bewegen. Als seien die Daten aus meinem Gehirn gelöscht. Genau so wie die Erinnerung an die Fahrt zur Klinik.
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Von irgendwo her kamen dann Bauarbeiter, halfen mir auf, gaben mir Wasser und trugen mich zum Auto meiner Klassenkameradin. Sie wollte mich sofort zum Krankenhaus fahren, ich weigerte mich, merkte noch immer nicht was los war. Wie in Trance erlebte ich dann die Fahrt zum Krankenhaus, wo mein Vater und mein Bruder irgendwann eintrafen. Das Nächste was ich weiß, ist, wie ich in einer anderen Klinik allen möglichen Untersuchungen unterzogen wurde. Epilepsie tippten die Sanitäter.
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Ich halt es kaum noch aus, so dringend muss ich zur Toilette. Ich nehme den Schalter in die Hand, mit dem man die Schwester ruft, doch drücken tue ich ihn nicht. Ich zögere. Zwölf Minuten bis 7.00 Uhr. Zwölf Minuten, was sind schon zwölf Minuten? Dann kommt auch meine Mutter. Seit zwei Wochen fährt sie nun schon täglich her, um den ganzen Tag an meinem Bett zu sitzen, mir zu helfen, mit den Ärzten zu reden.
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Ich bin nur noch wütend; auf die Schwestern, weil sie mich nerven; die Ärzte, weil sie mir nicht helfen können; Gott falls er mir das angetan hat. Ich versteh die Welt nicht mehr, komme mir vor, wie im falschen Film. Was mache ich hier? Ich sollte in die Schule gehen, das Abitur machen. Stattdessen passiert mir so was.
Ich versuch mich aufzurichten, zieh mich mit dem rechten Arm an dem Griff über mir hoch, kann mich aber mit dem linken nicht abstützen. Ich halte mich einige Sekunden, dann lasse mich zurückfallen. Ein stechender Schmerz zieht durch den ganzen Rücken. Das Mädchen neben mir bewegt sich. Habe ich sie etwa geweckt? Mäusestill horche ich auf die Geräusche im Raum. Es ist wieder ruhig, sie hat sich nur im Schlaf gedreht.
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Eine Computertomographie hat letztendlich Aufschluss ergeben. Man sah genau den weißen Fleck, der die abgestorbene Region markierte. Komischer Gedanke, so viele tote Gehirnzellen in meinem Kopf.
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Um 7.04 Uhr kommt die Schwester. Sie schaltet das Licht ein und begrüßt uns. Ich kann es kaum erwarten, aus dem Bett zu kommen. Ich bitte sie, mir in den Rollstuhl zu helfen, damit sie mich zur Toilette bringen kann. Doch sie entscheidet, dass es schneller und einfacher ist, den Schieber zu benutzen. Tränen der Frustration wollen sich ihren Weg in meine Augen bahnen, doch ich versuche sie zurückzuhalten. Eine unbändige Wut auf alles und jeden baut sich wieder in mir auf. Ohne mir etwas anmerken zu lassen, heben ich mein Becken und lasse es langsam wieder auf das eiskalte Gefäß sinken.
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Es heißt, noch bis zu sechs Stunden nach einem Schlaganfall können durch eine einfache Infusion bleibende Schäden verhindert werden, wenn der Schlaganfall rechtzeitig erkannt wird. Bei mir brauchten sie leider acht Stunden.