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Auf freier Strecke

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03.08.2003
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Auf freier Strecke

Aaron schreckte aus dem Schlaf. Er hatte einen Ruck verspürt, der ihn in die Wirklichkeit zurückkatapultierte. Was war los? Noch halb benommen hatte Aaron plötzlich das Empfinden, als zöge sich etwas Unsichtbares um ihn herum zusammen. Als würde die Welt einatmen und dabei die Entfernung zwischen all ihren Punkten in sich hineinsaugen. Gleichzeitig dehnte er selbst sich aus wie ein Ballon, in den jemand hineinblies, bis er gegen eine Grenze stieß. Irgendwo dahinter summte eine Kinderstimme ein Lied, dass er nicht zuordnen konnte. Vielleicht hatte er es früher einmal gehört, bei einem Konzert in einer Sommernacht. Dann war es so plötzlich vorbei, wie es begonnen hatte. Er strich sich über die Stirn.
Der Zug hielt. Aaron sah aus dem Fenster und glaubte zu träumen. Er kniff die Augen zusammen, aber das Bild blieb: Gelbes Gras bis zum Horizont und darauf verstreut riesige, wie Maulwurfshügel aussehende Gebilde. In einiger Entfernung trottete ein Elefant neben den Gleisen.
Die Frau ihm gegenüber hatte ein rosafarbenes Kleid an. Sie lächelte unsicher. „Was ist denn los?“, fragte sie.
Er zuckte nur mit den Schultern.
Da öffnete auch schon der Zugschaffner das Abteil. Sein senffarbener Schnauzbart, oder vielleicht auch der Mund darunter? befahl: „Alles aussteigen!“, und sowohl Aaron als auch die Frau erhoben sich auf der Stelle und folgten dem Schaffner. Mit einer herrischen Bewegung dirigierte der sie zum Ausgang und hinaus aufs Feld. Vor dem Zug hatte sich bereits eine Menschenmenge versammelt, die immer noch anwuchs. Gleich neben ihnen stieg eine Gruppe japanisch aussehender Lilliputaner aus dem Zug. Sie verbeugten sich, als sie den Blick Aarons bemerkten.
Aaron erwiderte die Verbeugung. Ein heißer, trockener Wind umspielte seine schweißbedeckte Stirn und er öffnete den obersten Hemdknopf. Weiter vorne war ein schriller Pfiff zu hören.
Die Menschen um ihn herum schüttelten die Köpfe. Einige schimpften lautstark. Ein wie aus dem Ei gepellter Büromensch tippte auf seinem Smartphone herum. Als Aaron seinen Blick über die Menge schweifen ließ, stellte er fest, dass mittlerweile schätzungsweise an die tausend Reisende aus dem Zug gestiegen waren.
„Entschuldigung, wo sind wir hier eigentlich?“, fragte Aaron den Büromenschen, doch der blickte nicht einmal von seinem Smartphone auf.
Die Frau neben ihm zupfte ihn am Ärmel: „Tun Sie doch was!“, forderte sie ihn auf.
Das kannte Aaron bereits von seiner Exfrau. Immer, wenn es schwierig wurde, sollte er irgendetwas tun. Blinden Aktionismus zeigen. Er hatte Mühe, sich zu beherrschen, um sie nicht anzuschreien: Was denn, um Himmels willen!
Stattdessen sagte er mit ruhiger Stimme: „Erstmal müssen wir herausfinden, was überhaupt los ist. Gehen wir mal nach vorne.“ Er packte die Frau am Ärmel und zog sie mit sich.
„Ich heiße übrigens Ilona“, keuchte sie, während sie versuchte, mit seinem Tempo mitzuhalten. Niemand außer ihnen schien wissen zu wollen, wo sie sich befanden oder weshalb der Zug gehalten hatte. Es machte auch niemand mehr den Eindruck, verärgert über die Unterbrechung der Fahrt zu sein. Im Gegenteil. Es war wie auf einer Gartenparty. Aaron und Ilona mussten sich einen Weg durch locker plaudernde Grüppchen bahnen, die Rauchringe in die Luft bliesen oder sich gegenseitig mit ihren Smartphones fotografierten. Es fehlt bloß noch ein Kellner, der zwischen ihnen mit einem Silbertablett umhergeht und Cocktails anbietet, dachte Aaron.
„Was zum Teufel ist hier bloß los“, murmelte er.
„Aua, Sie tun mir weh“, jammerte Ilona, „können Sie nicht vielleicht etwas langsamer gehen?“
„Nein, kann ich nicht“, erwiderte Aaron, dem nun einfiel, dass er sich seinerseits noch gar nicht vorgestellt hatte.
„Ich heiße Aaron. Und mein Gefühl sagt mir, dass wir nicht viel Zeit haben. Irgendwas ist hier oberfaul.“
„Da sagen Sie was“, meinte Ilona. Dann blieb sie abrupt stehen und deutete nach vorn.

Ihr Zeigefinger zitterte. Das Objekt, auf das sie deutete, war von grauer Farbe und hatte zwei große schlackernde Ohren und einen Rüssel, neben dem zwei blendend weiße Stoßzähne nach vorn ragten. Der Elefant, den Aaron schon aus dem Zug heraus gesichtet hatte. Da hatte das Tier einen majestätischen und friedlichen Eindruck gemacht. Das, worauf Ilona jetzt deutete, hatte sich in einen lebenden Berg aus Muskeln und Zorn verwandelt. Irgendetwas musste das Tier gerade in rasende Wut versetzt haben. Betrachtete es sie als Eindringlinge in seinem Revier? Die Ohren schlackerten, als wollten sie die Welt fortwedeln, und der Rüssel zuckte. Es stieß gellende Trompetenlaute aus und stampfte auf die ihm am nächsten stehenden Fahrgäste zu. Die so taten, als bemerkten sie ihn nicht. Rüssel und Stoßzähne durchpflügten die Menge und schleuderten Menschen durch die Luft, als wären sie Spielzeug. Andere kamen unter den Beinen des Elefanten zu Tode. Knochen knackten, Blut spritzte wie roter Regen auf das verdorrte Gras. Immer näher kam die fleischgewordene Vernichtungsmaschine ihnen dabei. Aaron spürte, wie seine Kehle trocken wurde, sah das Unvermeidliche kommen und vermochte sich nicht zu rühren, bis er die Hand der Frau fühlte, kalt und zittrig in seiner.
Er sah sich hektisch um. „Kommen Sie, schnell!“ befahl er und zog die Frau neben sich zur Seite. „Wir müssen unter den Zug.“
Sie rannten auf den Zug zu und warfen sich unter ihn. Keinen Moment zu früh. Das Tier trampelte an der Stelle vorbei, an der sie noch vor ein paar Sekunden gestanden hatten, und ließ eine Schneise der Vernichtung hinter sich. Aaron fühlte, wie die Erde unter den Schritten des Elefanten bebte.
Als er unter dem Zug hervorlugte, sah er, wie gerade die japanischen Liliputaner zu Brei gestampft wurden. Außer dem schrillen Trompeten des Elefanten war nichts zu hören, nichts außer Gelächter und Stimmenfetzen der Gäste der Stegreif-Party. Es war, als gäbe es den mit Stoßzähnen und Beinstempeln daherkommenden Tod nicht. Es war, als würden nur Ilona und er ihn wahrnehmen.
Der Elefant drehte sich in ihre Richtung. Hatte er Aarons Gedanken gespürt? Langsam kam er zurück, mit wackelndem Kopf und schlackernden Ohren. Jetzt stand er so dicht vor ihnen, dass Aaron die dicken Hautfalten an den Beinen des Tieres hätte zählen können. Ilona hinter ihm keuchte.
„Was ist das bloß für ein Vieh?“, jammerte sie.
„Schscht!“, machte Aaron und Ilona verstummte.
Der Elefant ließ seinen Rüssel, den er bis jetzt erhoben hatte, zur Erde hinab. Wie eine große, graue Schlange kroch der Rüssel auf sie zu und Aaron und Ilona krochen zurück. Es half nichts. Jetzt hatte der Rüssel die rechte Hand Aarons ertastet, auf die er sich gerade aufgestützt hatte, um sich noch weiter zur Mitte des Waggons zu schieben.
„Na warte!“
Als Aaron über die Schulter zurücklugte, sah er, wie Ilona mit zusammengepressten Lippen an ihrer Handtasche nestelte. Sie holte ein Necessaire heraus und hatte auf einmal ein langes, schmales Ding in ihrer Hand. Aaron meinte, eine Nagelfeile zu erkennen. In dem Moment fühlte er einen starken Druck um seinen Hals und bekam keine Luft mehr. Der Druck war so stark, dass er glaubte, seine Kehle müsse jeden Moment zerquetscht werden. Er keuchte und röchelte. Ilona stach zu. Die Nagelfeile versank tief in der runzligen Haut des Rüssels.
Ohrenbetäubendes Brüllen des Elefanten – und der Druck um Aarons Hals verschwand. Der Rüssel zog sich unter grotesken Windungen zurück und nahm die Nagelfeile mit.
Nach einer Weile kroch Aaron wieder an den Rand des Waggons. Als er freien Blick auf die Umgegend hatte, sah er den Elefanten den riesigen Maulwurfshügeln in der Ferne zustreben. Ilona war Aaron gefolgt und lag jetzt neben ihm.
„Den sind wir los!“, konstatierte sie.
„Und Sie ihre Nagelfeile auch“, meinte Aaron.
Er kroch unter dem Wagen hervor und half dann Ilona nachzukommen und sich aufzurappeln.

Um sie herum waren überall die Spuren des Massakers zu sehen, das der Elefant angerichtet hatte. Zerfetzte, aufgeschlitzte und zerstampfte Leiber, abgerissene Beine, Köpfe, unförmige blutige Fleischklumpen, aber das Schlimmste waren die unberührt neben den Überresten oder sogar über sie hinweg stolzierenden Überlebenden. Ilona drehte sich zur Seite, stützte sich auf ihre Knie und erbrach sich. Aaron ging zu ihr und hielt sie.
„Geht’s wieder? Kommen Sie. Wir müssen weiter.“
Sie gingen um die Leiche eines älteren Herrn herum, dessen Zwicker seltsamerweise heil geblieben war, und bahnten sich zwischen den Umstehenden hindurch einen Weg nach vorn.
Da tauchte vor ihnen ein bekanntes Gesicht auf – der senffarbene Schnauzbart hatte sich vor Zorn gesträubt.

Der Kopf endete in einem blutigen Halsstumpf und die Schaffnersmütze saß längst nicht mehr so adrett und gerade darauf wie noch vor kurzem. Mangels Händen breitete der Schaffner seinen Schnauzbart nach beiden Seiten hin aus.
„Haaalt! Sie dürfen hier nicht weiter!“, schrie er.
„Aber … wieso denn nicht?“, stammelte Aaron. Ihm war flau im Magen und er fühlte sich einer Ohnmacht nahe.
„Sie sind nicht befugt“, schnarrte der Schnauzbart, oder vielleicht auch der Mund darunter? „Sie sind nicht … befugt. Sie sind nn-nichtnicht … befugt. Sie sinnnnt n…“ Der Schnauzbart zuckte und wand sich wie eben noch der Elefantenrüssel, während er sich immer mehr sträubte.
„Von dem haben wir nichts zu erwarten“, erklang die Stimme Ilonas neben ihm. Aaron hatte überhaupt nicht mehr an sie gedacht. Er blickte sie an. Ihr Gesicht hatte alle Farbe verloren und sie zitterte. Er bewunderte ihre Tapferkeit, obwohl sie wie er kurz davor zu sein schien, in Ohnmacht zu fallen.
Er fasste sie unter und ging ein Stückchen zur Seite, um dem Schnauzbart auszuweichen, doch der machte sich lang und versperrte immer noch den Weg. Wieder wich Aaron zur Seite und wieder wuchs sich der Schnauzbart zu einer unüberwindlichen Schranke aus.
Ilona kramte in ihrer Handtasche. Natürlich. Das Necessaire. Dass er daran nicht gedacht hatte! Schon hatte Ilona eine Schere in der Hand und näherte sich dem Schnauzbart. Der ahnte wohl, was ihm blühte, und verstärkte sein konvulsivisches Zucken, während er immer weiter seine Litanei aufsagte, die allerdings jetzt kaum noch zu verstehen war: „Sssieee sss-sinin… nichttt bebehhe….“ Alles Sträuben half nichts. Ilona packte zu und ritsche-ratsch, schnitt mit ein paar raschen Schnitten durch ihn hindurch. Das Geplapper verstummte. Niemand behauptete mehr, sie seien nicht befugt. Dafür plärrte der Kopf des Schaffners wie ein kleines Kind, das den Verlust seines liebsten Spielzeugs betrauert, und plumpste zu Boden.
„Irgendwie tut er mir auch leid“, meinte Ilona. „Er hat doch nur versucht, seine Pflicht zu erfüllen.“
„Und das über den Tod hinaus“, stimmte Aaron zu. Er bückte sich und drückte dem Kopf beide Augen zu. Vorher strich er ihm noch über den Schnauzbart, der nun wieder auf ein normales Maß zusammengeschrumpft war.

„Also weiter. Zur Spitze“, bestimmte er und sie wanderten nach vorne. Während sie durch die Menge gingen, nahm er eine subtile Veränderung an den Fahrgästen wahr. Nur noch einige wenige waren in ihre Plaudereien vertieft, rauchten oder tippten auf ihren Smartphones herum.
Die allermeisten trugen nun eine abwesende Miene zur Schau, als wären sie mitten in ihrer Party mit offenen Augen in Morpheus‘ Arme gelaufen. Sie dämmerten stehend vor sich hin, aber das hinderte sie nicht daran, sich mit beiläufigem Interesse Ilona und ihm zuzuwenden, wenn sie sich ihnen näherten.
„Sehen Sie das auch?“ Aaron hatte unwillkürlich geflüstert.
„Ja!“, hauchte Ilona zurück.
Sie beschleunigten ihre Schritte und verfielen fast in Laufschritt. Die Zugspitze war weit, weit vorne zu sehen. Als so lang hatte Aaron den Zug nicht in Erinnerung.
Weit und breit war nichts zu sehen, das Hilfe versprach oder auch nur von der Anwesenheit von Menschen kündete. Da waren, von der hin und her wabernden Menge immer wieder verdeckt, nur diese riesigen grauen Erdhügel, die überall in der flachen, von gelblichem, verdorrtem Gras bedeckten Ebene herumstanden gleich Wächtern der Trostlosigkeit. Aaron fand, dass sie auch etwas Bedrohliches ausstrahlten, genau wie mittlerweile die Menge um sie herum.
Eine Frau in einem gelben Kostüm, die einen Rucksack über der Schulter trug, trat mit ruckartigen Bewegungen an ihn heran und fletschte die Zähne. Nachdem sie ihn angezischt hatte, trat sie zurück. Aaron stolperte fast, als auch er einen Schritt zurücktrat. Ein anderer Fahrgast, ein klapperdürres Männchen mit tiefliegenden Augen, das über die Maßen hohlwangig war, hob drohend die Hand.
„Was haben die auf einmal alle?“, fragte Ilona. Ihre Stimme klang piepsig.
„Na ja, ich vermute mal, wir haben eine Grenze überschritten.“
„Eine Grenze?“
„Denken Sie an den Schaffner.“
Ilona winkte ab. „Furchtbar, diese Autoritätshörigkeit. Aber das war noch nie mein Ding.“
„Meins auch nicht. Am besten, wir versuchen, aus dem Gedränge herauszukommen.“

Sie gingen nun nicht mehr längs des Zuges, sondern steuerten die freie Ebene an, bestrebt, die seltsame Party hinter sich zu lassen. Allmählich lichtete sich die Menge und die Konturen der Hügel traten immer deutlicher hervor.
„Wohin wollten Sie eigentlich?“, fragte Aaron seine Reisebegleiterin.
„Ich wollte meine Tante Charlotte besuchen. Sie feiert morgen ihren neunzigsten Geburtstag.
Aaron hatte den Eindruck, dass Ilona froh über die Ablenkung war. Nun erzählte sie des Langen und Breiten von dieser Tante. Die sei eine Schwester des Lichts, und sie, Ilona, habe schon seit ihrer Kindheit eine enge Bindung zu ihr. Vor kurzem habe ihre Tante sie sogar in die Mysterien ihrer Schwesternschaft eingeweiht. „Ich bin jetzt eine von ihnen“, sagte sie mit Stolz in der Stimme. „Wenn auch nur eine Novizin.“
„Schwester des Lichts?“, fragte Aaron, während sie einem Betrunkenen auswichen, der auf sie zu torkelte.
„Ja, Schwester des Lichts“, bestätigte Ilona.
„Von denen habe ich schon mal gehört. Aber ich komme nicht drauf, in welchem Zusammenhang. Was sind Sie denn für Schwestern?“
„Wollen wir nicht langsam zum „Du“ übergehen?“, fragte Ilona.
„Ja, ich denke, es ist an der Zeit. Also, was hat es auf sich mit diesen Schwestern des Lichts.“
„Das ist eine Art Geheimbund für Frauen. Deshalb kann ich nicht viel dazu sagen. Du bist ja ein Mann. Meine Tante und auch die anderen Schwestern sind aber alle sehr spirituell angehaucht. Und wir sind stolz darauf, gewisse Kräfte zu besitzen.“
„Gewisse Kräfte?“, echote Aaron.
„Ja, das hat meine Tante behauptet. Keine Ahnung, was sie damit meint. Bis jetzt habe ich auch noch keine bei mir festgestellt. Morgen hätte ich Ihnen mehr sagen können. Da wollte sie mich einweihen.“
„Da hast du jetzt gleich zwei Fehler gemacht.“
„Wie bitte? Wieso?“
„‚Morgen könnte ich Ihnen mehr sagen‘, das war Fehler Nummer eins, denn der Konjunktiv „hätte“ deutet auf die Vergangenheit hin.“
„Schlaumeier! Und der zweite Fehler?“
„Wir hatten uns gerade auf das „Du“ geeinigt.“
„Oh Mann, an wen bin ich denn da geraten?“
„Ich weiß, ich kann manchmal ganz schön nervig sein. Aber wenn ich recht habe, dann habe ich recht, so einfach ist das.“
„Erzähl mal ein bisschen von dir“, verlangte Ilona nun. „Wo willst du hin? Und was machst du so?“
„Das sind gleich zwei Fragen auf einmal. Also schön, der Reihe nach. Ich will nach Kempthal. Dort findet ein Kongress der Enzyklopädiker statt. Ich bin nämlich auch einer. Mein Ehrgeiz ist es, das gesamte menschliche Wissen in einem Werk zusammenzufassen. Im Moment bin ich bei Band hundertneun. Grammatik der europäischen Sprachen.“
„Ach so, hätte ich mir auch denken können. Klingt ja ganz interessant.“ Ilona schien beeindruckt zu sein, denn sie schwieg eine Weile.
Hoffentlich fragt sie jetzt nicht, wozu man das braucht, dachte Aaron.
„Und wozu braucht man das?“, fragte Ilona. „Ich meine, es gibt Wikipedia.“
Aaron seufzte.

Die Menschenmenge um den Zug herum befand sich inzwischen in sicherer Entfernung und sie schlugen nun wieder die Richtung zur Zugspitze hin ein. Aaron kam die Sage von Skylla und Charybdis in den Sinn, als er sich dessen bewusst wurde, dass sie nun von zwei potentiellen Gefahren flankiert waren: Links die feindselige Menge, rechts diese seltsamen Hügel. Deren Umrisse waren aus der Nähe betrachtet merkwürdig unbeständig. Sie flimmerten und waberten, als bestünden die Ränder aus Wattebäuschen, die sich im Wind hin und her bewegten. Als sie weitergingen, gab einer der Hügel den Blick auf ein gewaltiges Gerippe frei. Bleiche Knochen ragten in den frühabendlichen Himmel. So sauber, abgenagt?, kam es Aaron in den Sinn, dass ihr Weiß in die Augen stach. Noch weißer als die Knochen war etwas anderes, zwei elegant gebogene Stoßzähne.
„Ob das dieser Wüterich von vorhin ist? Oder vielmehr das, was von ihm übrig ist?“, fragte Aaron mehr für sich.
„Der Nagelfeilendieb?“, ergänzte Ilona.
„Na ja, du hast ihm die Nagelfeile ja regelrecht aufgedrängt.“
„Ach? Willst du jetzt wieder Holz mit dem Rasiermesser spalten?“
„Schon gut. Vermutlich hat er den Diebstahl mit dem Leben bezahlt.“
„Geschieht ihm ganz recht. Wir sollten wieder zum Zug gehen. Diese Hügel hier sind mir unheimlich“, schlug Ilona vor und Aaron stimmte zu.
Gerade, als sie sich zum Zug wenden wollten, entdeckte Aaron aus dem Augenwinkel eine Bewegung auf dem ihnen zunächst stehenden Hügel, der etwa hundert Meter von ihnen entfernt war.
Dessen Oberfläche begann sich zu bewegen. Es war, als würden Wellen schwarzen Wassers über ihn hinablaufen und sich über das umgebende Erdreich ergießen. Aaron fürchtete jedoch, dass es sich nicht um Wasser handelte.
„Laufen Sie!“, schrie er.
„Jetzt hast du aber einen Fehler gemacht!“, sagte Ilona.
„Ja, ja, du bist ganz schön kleinlich.“
„Phh! Das sagt der Richtige.“
„Also ich finde, jetzt ist nicht die Zeit zum Streiten. Ist ja gut! Du hast recht! Ich habe einen Fehler gemacht. Lauf! Da!“
Ilona sah in die Richtung, in die Aaron deutete. Die schwarze Masse, die von dem Hügel herabgeflossen war, war inzwischen nur noch ein dutzend Meter von ihnen entfernt. Sie entpuppte sich als eine Ansammlung von tausenden und abertausenden schwarz gefärbter Käfer, die in rasendem Tempo auf sie zu krabbelten.
„Iiiiiii!“, kreischte Ilona und rannte los.
„Neben ihr keuchte und schnaufte Aaron. „Die … die haben den Elefanten …“
Hinter ihnen hörte Aaron jetzt ein Zischeln und Rascheln, als ob Millionen trockener Handflächen aneinandergerieben würden. Um sich von seiner Angst abzulenken, versuchte er die Konversation wieder in Gang zu bringen.
„Wusstest du, … dass … etwa 250000 Arten … von … Käfern … existieren?“
„Nein! Was … du … nicht sagst“, keuchte Ilona. „Und … welche … ist gerade hinter … hinter uns her?“
Aaron wusste es nicht und schwieg.
„Na?“, bohrte Ilona nach.
„Ich weiß es … nicht!“, brüllte Aaron.
„Igitt!“, kreischte Ilona und wedelte hektisch mit den Armen. „Die … die sind schon …“
Aaron wusste, was Ilona meinte, auch ohne dass sie ihren Satz beendete. Er sah sie auf seinem Hemd, auch auf seinem Handrücken, und eben fühlte er ein Krabbeln auf seinem Hals.
„Schneller!“, keuchte er.
Schon hatten sie sich dem Zug bis auf wenige Meter genähert, die schwarze, wabernde Masse dicht auf ihren Fersen. Die Menschen vor dem Zug hatten sich ihnen zugewandt und betrachteten sie interessiert. Ein alter Mann mit einer langen Nase im faltigen Gesicht humpelte auf sie zu, die Arme vor sich ausgestreckt wie ein Blinder. Seine Hände öffneten und schlossen sich, sein Gesicht war zu einer Fratze verzerrt.
Aaron stieß ihn zur Seite und der Alte fiel zwischen die herumwuselnden Käfer und streckte alle Viere von sich. Aaron und Ilona hatten keine Zeit, sich um ihn zu kümmern. Wie Rugbyspieler zwischen feindliche Spieler drängten sie sich durch die Menge. Inzwischen hatten es viele der Käfer auf Aarons Gesicht geschafft, einer biss ihn ins Ohr und auch Ilona schien es nicht besser zu gehen, denn sie kreischte nun ununterbrochen und führte einen hektischen Tanz auf.
Aaron packte sie am Arm und zog sie mit. „In den Zug!“, schrie er.
Sie stiegen auf die Plattform vor der Eingangstür eines Waggons. Aaron rüttelte an dem Türöffner, doch nichts geschah. Als er einen Blick über die Schulter zurückwarf, sah er ein erstaunliches Bild. Die Partygäste in der näheren Umgebung ihres Waggons waren fast zur Gänze von einer schwarzen wimmelnden Schicht bedeckt, was sie jedoch ausgesprochen gelassen hinnahmen. Kein Schreien, kein Zucken von Armen oder Beinen. Der Alte, den er vor kaum ein paar Sekunden umgestoßen hatte, war nur noch eine unförmige schwarze Masse. Nochmals versuchte Aaron die Tür des Waggons aufzureißen und diesmal ließ sie sich einen Spalt breit öffnen. Gemeinsam mit Ilona zwängte er sich hindurch und schob die Tür rasch wieder zu.

„Das war knapp“, keuchte er. Ilona gab keine Antwort. Sie war damit beschäftigt, unter leisem Wimmern Käfer von ihrem rosafarbenen Kleid zu wischen. Auch in ihren Haaren entdeckte Aaron welche und machte sie darauf aufmerksam.
„Das ist ja widerlich.“ Ilona schüttelte sich und nestelte an ihrer Handtasche. Sie holte einen Kamm hervor und zog ihn mit abrupten Bewegungen durch ihre Frisur. Einige Strähnen hatten sich gelöst und bedeckten halb ihr Gesicht. Auch Aaron versuchte, die letzten ihrer Verfolger loszuwerden. Anders als Ilona ging er methodisch vor, begann am Kopf, wischte dann übers Gesicht und säuberte sich so von oben nach unten. Einen der zappelnden Käfer nahm er in die Hand und hielt ihn vor seine Augen.
„Hmmm, ich würde sagen, ein Arceaptix“, meinte er. „Auch als Totengräberkäfer bekannt.“
Ilona bot ihm ihren Kamm an. Aaron sah zwei auf den Zinken des Kamms aufgespießte Totengräber und lehnte dankend ab.
Nachdem sie sich gesäubert hatten, trampelten sie auf den am Boden liegenden und noch zuckenden Käfern herum. Es knirschte und knackte, begleitet von schrillem Zirpen. Erst, als sich nichts mehr regte, betraten sie das Abteil. Die Sonne draußen war im Untergehen begriffen und sandte nur noch ein paar kümmerliche Reststrahlen in das Innere des Wagens, so dass sich die Deckenbeleuchtung eingeschaltet hatte. Das geisterhafte Rascheln der Insekten drang gedämpft bis zu ihnen.
„Sollten wir überhaupt hier sein?“, fragte Ilona mehr sich selbst.
„Wie meinst du das?“, erkundigte sich Aaron. „Hier ist es allemal besser als draußen.“
„Natürlich. Du hast ja recht“, sagte Ilona. „Es ist nur … ich fühle mich schuldig.“
„Schuldig. Wieso das denn?“, wollte Aaron wissen.
„Der Schaffner hatte ausdrücklich befohlen, aus dem Zug auszusteigen.“
„Das kann doch nicht wahr sein.“ Aaron klatschte sich mit der Hand vor die Stirn. „Er hat es ausdrücklich befohlen? Rausgeschmissen hat er uns. Und damit fast denen zum Fraß vorgeworfen.
Hast du nicht behauptet, du wärst nicht autoritätshörig.“
Ilona musste einräumen, dass sie genau das getan hatte. „Aber trotzdem …“, meinte sie.
Aaron wollte gerade etwas erwidern, als ein Summton ertönte. Gleichzeitig damit leuchtete eine kleine Fläche über der nächsten Abteiltür weiß auf. Eine Schrift lief darüber hinweg.
„Trinkflasche gefunden. Bitte in Abteil dreiundvierzig melden!“, verkündete sie.
„Hattest du eine Trinkflasche dabei?“, fragte Ilona.
„Ich? Natürlich nicht!“, beteuerte Aaron. „Und du?“
„Na, ich doch auch nicht. Ich glaube, das ist eine Falle.“
„Aber wenn wir zur Spitze des Zuges wollen, und das wollen wir doch, oder?“ Ilona nickte „Dann müssen wir da durch. Ich meine mich daran zu erinnern, dass Abteil dreiundvierzig vor uns liegt.“
Aaron und Ilona sahen sich lange an. Es war sehr still im Abteil. Aaron fiel die Ruhe als Erstem auf. „Das Rascheln! Es hat aufgehört.“

Sie traten beide ans Abteilfenster. Vor ihnen breitete sich eine grausige Szenerie aus.
Dort draußen war kein Leben mehr. Die Käfer hatten ihre Mahlzeit offenbar beendet und ihre Opfer bis zur Unkenntlichkeit abgenagt. Nur die Kleidung hatten sie verschmäht. Bleiche, zerfressene, mit schwarzen Flecken besprenkelte Schädel und Hände ragten aus viel zu weiten Sakkos, Hemden, Pullovern und Blusen. Manch ein Totenschädel bleckte die Zähne gegen den wolkenlosen Himmel. Von den Käfern war weit und breit nichts zu sehen.
Ilona sank auf einen Sitzplatz und barg ihr Gesicht in den Händen. „Furchtbar“, stieß sie hervor. Aaron setzte sich neben sie und legte ihr den Arm um die Schultern.
So saßen sie eine Weile schweigend nebeneinander, bis sich Aaron mit einem Seufzer erhob. „Wir müssen jetzt an uns denken“, meinte er. „Lass uns weitergehen, nach vorne.“
„Und wenn wir nun doch …“, wagte Ilona sich vor.
„Vergiss es!“, unterbrach sie Aaron.
„Da draußen sind sie doch nicht mehr. Ich habe keinen Käfer gesehen. Die werden noch satt sein. Reichlich zu fressen hatten sie ja.“
„Vergiss es!“ Er sah zur Abteiltür. „Die Schrift ist weg!“
„Das war vielleicht nur eine Fehlfunktion“, meinte Ilona. „Ein Bug des Zuges.“
„Des Zuges? Mir kommt es vor, als ob das alles hier ein einziger Bug ist. Noch ein Käfer!“
„Käfer?“
„Ja, Käfer“, bequemte sich Aaron zu erklären. „Bug bedeutet „Käfer“. Angeblich soll in den Anfängen der Computerzeit ein Käfer auf die Platinen eines Computers geraten sein und so einen Fehler verursacht haben. Deswegen spricht man bei Computern statt Fehlern von Bugs.“
„Danke für die Belehrung, oh großer Enzyklopädiker.“ Ilona deutete einen Hofknicks an.
„Bitte, bitte. Gern geschehen“, murmelte Aaron. Er spürte, wie er rot wurde. Rasch wandte er sich ab.
„Wenn es ein Bug war, haben wir ja nichts zu befürchten“, sagte er und ging entschlossen zur Abteiltür. Ilona folgte ihm zögernd.
Sie betraten das nächste Abteil und durchquerten es ohne Zwischenfälle, genauso wie die darauffolgenden. Koffer, Rucksäcke, Jacken gemahnten an ihre ehemaligen Besitzer. Hier stand ein geöffneter Laptop auf dem ausgeklappten Tisch, dort lag eine Illustrierte halb aufgeschlagen auf dem Sitz.
Ein Schnuller war auf den Fußboden gefallen und Ilona wäre um ein Haar darauf getreten. Ihr Fuß zuckte zurück. „Entsetzlich!“, murmelte sie.
„Komm weiter“, mahnte Aaron und schweigend gingen sie durch den Gang nach vorne. Irgendwann standen sie vor Abteil dreiundvierzig.
„Vielleicht sollten wir uns nun darüber einigen, was wir machen“, insistierte Ilona.
„Ich dachte, darüber wären wir uns einig“, antwortete Aaron. „Wir gehen da durch und weiter nach vorn. Das mit der Trinkflasche vorhin, das war nur ein Bug.“
„Das war nur vielleicht ein Bug.“ Ilona schürzte die Lippen. „Oder vielleicht eine Falle. Ich bin eine Schwester des Lichts und habe gewisse Kräfte. Und ich sage dir, in Abteil dreiundvierzig, da lauert irgendwas.“
„Du bist nur eine Novizin des Lichts“, korrigierte Aaron sie. „Und ich bin gespannt, was da drin ist.“ Entschlossen öffnete er die nächste Abteiltür.
Ilona verdrehte die Augen und warf die Arme nach oben. Nach kurzem Zögern folgte sie ihm jedoch.
Aaron war stehengeblieben und als Ilona über seine Schulter lugte, sah sie den Grund für sein Zögern.

Auf dem Boden vor ihm kniete ein etwa dreijähriger Junge, der einen hellblauen Strampelanzug trug. Der gesamte Boden des Abteils war von einer Miniaturlandschaft bedeckt, die wohl so etwas wie eine Savanne mit über dürrem Gras verteilten schwarzen Hügeln darstellte. Das Kind beobachtete einen Zug, der durch die Landschaft fuhr. Dabei summte es vor sich hin. Das Summen! Aaron hatte es schon einmal gehört, aber er kam nicht darauf, bei welcher Gelegenheit. Neben dem Kind stand eine Trinkflasche, die mit etwas Weißem gefüllt war.
„Da, die Trinkflasche!“ Aaron zeigte darauf. Das Kind blickte kurz zu ihm auf und Aaron zuckte zurück, als hätte ihm jemand kaltes Wasser ins Gesicht geschüttet.
„Das gibt’s doch nicht!“ Er hörte seine eigene Stimme, dünn, fast kindlich. Er begann zu zittern, erst in den Fingern, dann in den Schultern, bis schließlich sein ganzer Körper klapperte wie ein schlecht befestigtes Fenster im Sturm.
„Ruhig.“ Ilona streichelte Aarons Schulter. Die Berührung fühlte sich warm an, aber sie half nicht. Gar nicht.
„Es ist nur ein Kind mit einem Trinkfläschchen. Da drin ist Milch. Kein Grund, sich aufzuregen.“
Nun hob das Kind den Kopf und fixierte sie beide mit blauen Puppenaugen. Dabei verzog sich der winzig kleine, senffarbene halbe Schnauzbart, oder vielleicht auch der Mund darunter? zu einem Lächeln, das ihnen wie Eisnadeln durch die Adern fuhr.
„Der Schaffner!“, flüsterte Aaron.
„Die Falle!“, flüsterte Ilona.
Das Kind stand auf, nicht langsam und fließend, sondern ruckartig, als wäre es von unsichtbaren Drähten gezogen. Es bleckte unnatürlich große Zähne.
„Sie sind nicht befugt … Sie sind nicht befugt …“, quäkte es. Die Stimme kam nicht aus der Kehle, sondern aus dem Bauch, eine kaputte Lautsprecherstimme, die durch einen fremden Köper sprach.
Aaron und Ilona wichen zurück, doch es war zu spät. Der Junge sprang, wurde zu einem Pfeil aus Fleisch und Wahnsinn.
Die Zähne schnappten zu, trafen aber nur auf Aarons linken Unterarm, den er reflexartig hochgerissen hatte, bohrten sich hinein. Der Schmerz war überwältigend, scharf und heiß wie Säure, die sich in die Haut fraß. Der Schrei Aarons hatte nichts Menschliches mehr. Er flog gegen die Wände des Abteils, brach sich an ihnen das Genick, verflocht sich post mortem zu einer gespenstischen Kakophonie.
Wieder und wieder schlug Ilona mit ihrer Handtasche auf den Kopf des Kindes ein, doch es ließ nicht locker und Blut tropfte auf den Boden.
Plötzlich wurde das kindliche Scheusal, der wiederauferstandene Schaffner?, von einem Lichtstrahl getroffen, einem Lichtstrahl, ausgesandt von der Hand Ilonas. Es kreischte auf, während es von Aarons Arm weggerissen und nach vorne geschleudert wurde. Dann krachte es vor die Spielzeugeisenbahn und stoppte sie.
Greinend drehte es sich langsam zu ihnen. Jetzt glühten seine Augen purpurrot.
„Komm!“ Ilona zerrte Aaron, der ihre Hand anstarrte, zur Tür. „Ich weiß nicht, ob ich das noch einmal schaffe.“
Aaron ließ sich widerstandslos aus dem Abteil ziehen.
„Ich denke, wir verlassen besser den Zug“, sagte Ilona.
„Ja, wir sind nicht befugt“, stöhnte Aaron.

Der Horizont glühte inzwischen tiefrot. Genau wie die Augen eben, dachte Aaron und sein Magen verkrampfte sich. Hier vorne waren kaum noch Leichen zu sehen. Und von den Käfern fehlte jede Spur.
„Wir sind fast am Ziel“, meinte er und deutete nach vorn. Tatsächlich sahen sie nur wenige Waggons weiter vorne die Lokomotive, die auf Aaron den Eindruck machte, als ob sie in sich ruhend meditierte.
„Fehlt nur noch, dass sie „Ommm“ sagt“, murmelte er in einem Versuch zu witzeln, obwohl in seinem Unterarm der Schmerz hämmerte.
Ilona sah kurz in sein Gesicht, dann auf seine Hand, die den Unterarm umklammerte.
„Du brauchst nicht den Helden zu spielen, jammere ruhig“, sagte sie.
„Das also können die Schwestern des Lichts. Damit könntest du im Zirkus auftreten.“
„Zusammen mit dir als Pausenclown gerne.“
„Wir wollen uns nicht streiten. Danke, dass du mich von dieser Bestie befreit hast.“
„Gern geschehen. Ich wusste selbst nicht, dass ich sowas kann. Ich bin ja erst Novizin. Das mit dem Licht, das habe ich nicht gesteuert. Ich hatte einfach Angst.“ „Um dich“, fügte Ilona hinzu.
„Um mich?“ Aaron wandte sich ihr zu. „Soll das heißen …“
„Ja, du verdammter Enzyklopädist.“
„Also ich … ich weiß gar nicht, was ich …“
„Ach, halt einfach die Klappe.“
Aaron tat, wie geheißen, doch er nahm Ilonas Hand. Sie schritten auf die Spitze des Zuges zu.

Als sie sich der Lok näherten, sahen sie, dass dort etwas ganz und gar nicht stimmte. Das Panorama vor ihnen mit der gelben verdorrten Steppe und den schwarz drohenden Hügeln in der Ferne verblasste und wirkte immer durchscheinender, als wäre es auf eine Glasscheibe aufgemalt. Dahinter wallte weißer Nebel. Das Phänomen erstreckte sich auch links und rechts von ihnen bis zum Horizont. Endlich standen sie neben der Lok, die mit leerem Blick nach vorne ins Nichts starrte. Die Schienen endeten in dem Nebel, der mittlerweile das Bild der Savanne vollständig verdrängt hatte. Schemenhaft war darin etwas ungeheuer Großes zu erkennen, das quer über den Schienen lag.
Sie blieben stehen.
„Hier also soll unsere Reise enden“, sagte Aaron nach einer Weile.
„Wieso?“ Ilona schüttelte den Kopf. „Weil wir nicht befugt sind?“
„Das ist es nicht“, antwortete Aaron. „Oder ja. In einem gewissen Sinn doch. Erinnerst du dich an die Modelleisenbahn? Ich glaube, wir haben die Grenze unserer kleinen Wirklichkeit erreicht.“
„Die Wirklichkeit? Dass ich nicht lache. Wie ist dann die Unwirklichkeit“, sagte Ilona.
„Lass es uns herausfinden.“
Der Enzyklopädist und die Schwester des Lichts traten in den Nebel.

 

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