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Auf nach Timbuktu
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Allein nach Timbuktu
Besser hätte Helens Leben eigentlich nicht beginnen können: Bei den älteren Leuten galt sie als „Tochter aus gutem Hause“, denn ihre Eltern hatten es, nach deren Meinung, „zu etwas gebracht“. Außerdem war sie hübsch anzuschauen mit ihren honigfarbenen Locken. Niemandem war sie je unangenehm aufgefallen, weder in der Schule noch im Religionsunterricht. Ein sanftes Mädchen also, mit Wimpern, so lang, dass sie, bei richtigem Licht, Schatten auf die Wangen warfen. Ein Mädchen, das jedermann mochte, am allermeisten ihr Vater.
Bescheiden, sittsam und rein – irgendjemand hatte ihr diese Adjektive ans Herz gelegt, will heißen: ins Poesiealbum geschrieben. Sei wie das Veilchen im Moose... sogar an die krakelige Jungenschrift und die Tintenkleckse dazwischen konnte sie sich noch erinnern und an seine – vielleicht ein halbes Jahr später - aufgeregt gestammelten Worte: „Mit dir würde ich bis nach Timbuktu gehen!“.
Karsten war wirklich rührend. Und sie? Sie hatte übermütig den Kopf zurückgeworfen und immer nur ihr helles, flüchtiges Lachen ausgestoßen.
Auch jetzt, da sie daran dachte, wollte es wieder in ihr hoch kollern. Gerade noch rechtzeitig, buchstäblich in letzter Sekunde, konnte sie es am Entweichen hindern. Sie passten nun nicht mehr zusammen, sie und dieses Lachen.
Doch, sie war immer noch jung. Vielleicht nicht mehr so ganz? Und sie war gewiss auch noch schön. Aber vielleicht auch nicht mehr so ganz? Früher, ja, da hatten sie fast alle so gesehen: jung, schön, klug. Sie würde es weit bringen, hatte es geheißen – und Mutter hatte mit gekräuseltem Lächeln selbstgefällig in die Runde geblickt.
Da war der Vater schon lange weg gewesen. Verschwunden. Spurlos.
Helen hatte ihre Mutter damals lange forschend aus den Augenwinkeln beobachtet, aber Anzeichen von Traurigkeit oder Schmerz über sein Verschwinden konnte sie nicht ausmachen. Einmal hatte die Mutter auf die Frage ihrer Tochter ärgerlich gefaucht: „Von mir aus kann er in Timbuktu sein!“
Das Mädchen hatte daraus entnommen, dass die Mutter keineswegs vorhatte, ihm dorthin zu folgen wie Karsten seinerzeit ihr, Helen. Doch manchmal kommt eben alles ganz anders. Hier kam plötzlich Roger. Wie aus dem Nichts war er aufgetaucht – und hatte alles, was vor ihm war, zu einem Nichts zusammenschrumpfen lassen.
Ach Roger, Helen wusste bis heute nicht, ob das überhaupt sein richtiger Name war... vom ersten Moment an hatte er ihr eingeredet, sie sei jung, schön und klug. Das heißt: Schön und klug? Solche Wörter benutzte er kaum. Er wollte, dass sie sexy sei – und clever.
Helen, dieser Name war übrigens auch so ein Spleen ihrer Mutter, der ihr in der Schule den Spitznamen „Fromme Helene“ eingebracht hatte, reckte ihre Glieder, die jetzt schon bei der geringsten Bewegung schmerzten.
Dabei fiel ihr Blick durch die schmutzigen Scheiben, wanderte über die Dächer der Stadt. Wie hatte sie sich manchmal regelrecht zurück halten müssen, um nicht einfach los zu wandern, hin und wieder an ein Fenster zu klopfen, um zu diesem und jenem nur mal so „Hallo!“ zu sagen. Aber so etwas tut man nicht in einer Großstadt. In der Hauptstadt schon gar nicht.
Der Schrank mit der Klappe fiel ihr wieder ein, der stammte aus ihrem Kinderzimmer in der Provinz, einst ihr geheimnisvoller Schreibschrank, später Aufenthaltsort von weniger geheimnisvollen Flaschen. Jetzt allerdings waren sie leer. Wie sie.
Oder vielleicht doch nicht? Zu hastiges, zu hoffnungsvolles Öffnen der Klappe und das Fehlen von Öl, ein Tropfen hätte ja schon genügt, um es verstummen zu lassen, ließen die Scharniere quietschen. Und auf dem Boden der einzigen Flasche, die im Fach noch ihr kümmerliches Dasein fristete, war auch nicht das kleinste Milliliterchen zusammengelaufen. Oder?
Helen gab der Flasche einen unsanften Stoß, aber das änderte auch nichts an deren unerfreulichem Zustand.
„Wir passen zusammen“, konstatierte sie bitter, dem laut gewordenen Gedankensatz hatte sich nun doch so eine Art Lachen beigemengt, was sie widerspruchslos duldete. Rücklings ließ sie sich aufs Bett fallen und starrte an die Decke. Es war ein Rundbett - aus besseren Zeiten – und es stand mitten im Raum.
Roger hatte das so gewollt. Und sie hatten sich oft sinken lassen, von allen Seiten. Sie hatte überhaupt immer alles getan, was Roger wollte. Nicht wie ihre Mutter, die sich irgendwann eine eigene Meinung geleistet hatte und nun wohl überzeugt davon war, so den Vater vertrieben zu haben. Helen wusste es zwar besser, aber das musste sie jetzt wirklich für sich behalten.
Und nun war auch Roger verschwunden.
Sie rappelte sich mühsam hoch, was nicht so einfach war, stolperte mehr als dass sie ging wieder zum Fenster.
Wieso putze ich die nicht? fuhr es ihr schmerzhaft durch den Kopf. Roger hätte ihr „Feuer unterm Arsch gemacht“, aber davor brauchte sie sich ja nun nicht mehr zu fürchten. Davor nicht.
„Die Kunden merken sehr wohl, ob eine sauber ist oder nicht!“, hätte er sie angebrüllt. Aber nun war er ja weg. Verschollen. Seit wann? Das Datum war ihr mittlerweile entfallen.
Die Männer auf dem Revier hatten nur verständnislos geschaut und gegrinst, als sie eine Vermisstenanzeige aufgeben wollte.
„Der kommt schon wieder!“
Dauernd verschwinden Leute. Das wundert offenbar niemanden mehr.
War sie selbst nicht auch schon verschwunden? Jedenfalls für ihre Familie, wobei sie, wie selbstverständlich, nur an die Mutter dachte. Noch heute hat sie deren Warnungen im Ohr. Roger sei nicht gut für sie, er würde sie nur benutzen, ausnutzen, dann fallen lassen wie eine heiße Kartoffel. Ach Mutter, was wusste sie schon!
„Würdest du denn jemals verstehen, wie ergeben, ja hörig, ich diesem Mann war?“ dachte sie laut mit kläglich verzogenem Mund, in dem sich die Zunge pelzig wölbte. Sie wäre mit ihm bis nach Timbuktu gegangen, jawohl, das hatte sie ihm auch oft zugeflüstert.
„Du weißt ja nicht einmal, wo dieses verdammte Timbuktu liegt!“
Sein Lachen war nicht hell und flüchtig, sondern dunkel und gebieterisch. Erst viel später hatte sie nachgeschaut: eine kleine Oasenstadt in der heutigen Republik Mali. Grün und freundlich stellte sich Helen dieses Städtchen vor, von geheimnisvollen afrikanischen Düften durchzogen. So ging sie immer öfter in Timbuktu spazieren, umgeben von Wärme und Licht, erfüllt von fremdartigen Klängen. Mit der Zeit war diese Stadt zu ihrem Traum vom Paradies herangewachsen, sie träumte ihn sogar zu einer Zeit, als der Traum eigentlich schon lange vorbei war.
So war sie also langsam verschollen, nach Hause hatte sie eine Karte geschrieben. Sie sei ausgewandert, nach Amerika, ein ehemaliger Studienfreund hatte die Post mitgenommen und sie in San Franzisko abgeschickt. Nach C. – in die Provinz.
Als ihr Blick auf den Bretterzaun an einem Grundstück gegenüber fiel, las sie wieder diese Nummer: 0800 – 111 0 111.
„Wenn Sie sich etwas von der Seele reden wollen...“
Eigentlich ganz einfach. Idiotensicher. Sozusagen.
Langsam drehte sie sich wieder um, sah an den Wänden die Scheinwerfer der Autos entlang kriechen. Von unten drangen Geräusche zu ihr in die luftige Höhe, Bremsen quietschten, die Straßenbahn schepperte um die Ecke, in der Wohnung unter ihr schrie ein Kind, und sie regte sich nicht einmal mehr darüber auf.
Es war Abend geworden.
Es war Zeit.
Endlich.
Seit Wochen ging das nun schon so. Jeden Abend nahm sie sich vor, der inneren nun endlich auch die äußere Verschollenheit folgen zu lassen. Aber ihr Körper streikte jedes Mal, wenn sie auf die Brüstung klettern wollte. War das überhaupt noch ihr Körper? Wie ein Schwamm kam er ihr vor, einer, der alles Unglück dieser Welt begierig aufsaugte. Aber der Schwamm war jetzt voll.
„Quatsch!“ hätte die Mutter gelacht, sie solle sich doch nur umschauen, es gäbe so vieles, worüber man sich („bei allen Problemen!“) doch nun wirklich freuen könne.
Ach ja? Vielleicht über den Krieg, der täglich grauenhafte Bilder ins Wohnzimmer spuckt? Oder die Bilder von den Kindern, die vor Hunger aufgeblähte Bäuche bekommen? Ganz zu schweigen von der Not, die ihre Eltern manchmal zwingt, ihre eigenen Nachkommen zu verkaufen?
Helen las schon seit Wochen keine Zeitungen mehr, den Stecker des Fernsehers hatte sie vorsorglich herausgezogen. Sie konnte die hereinströmende Flut von Katastrophen einfach nicht mehr ertragen.
Und Roger?
Wie gut, dass sie keinen Kontakt mehr zu ihrer Familie hatte. Nicht zur Mutter mit ihrem verdammten Zweckoptimismus. Den Vater kümmerte das eh nicht mehr, das wusste niemand besser als Helen. Sie hatte es schließlich gesehen.
Roger wusste natürlich nichts von alledem, aber trotzdem war sie für ihn nie „bescheiden, sittsam und rein“ gewesen. Deshalb wohl auch hatte er eines Tages, wie selbstverständlich, die Männer mitgebracht. Als sie sich anfangs weigerte, kam, ganz unverhofft, die erste Spritze.
Später kamen dann immer mehr, Männer und Spritzen, und sie merkte kaum noch, wie sich alles aufzulösen begann.
Nur manchmal spürte sie die Nähe des Abgrunds, doch das anfängliche Schaudern war längst zur Gleichgültigkeit mutiert.
Sie hatte immer alles getan, was Roger von ihr verlangte, hatte ihm immer getreulich alles Geld abgeliefert... bis zu jenem Spaziergang in den Bergen. Dort hatte sie sich zum ersten Mal gewehrt gegen seine Angriffe. Ein Wort hatte das andere ergeben.
„Du siehst so richtig abgehalftert aus, die Kunden werden wegbleiben...“
„Ich will das alles überhaupt nicht – habe es nie gewollt!“
Sie wird dieses Lachen, so dunkel und gebieterisch, niemals vergessen, mit dem er sie an den steilen Abgrund zerrte und drohte, sie hinabzustoßen, wenn sie sich nicht ein bisschen mehr zusammennähme.
Wieder in Berlin, war sie gleich zur Polizei gegangen, aber die Diensthabenden hatten verständnislos die Achseln gezuckt.
0800-111-0111! Die Nummer der Telefonseelsorge am Zaun, verbunden mit der Aufforderung: „Wenn sie sich etwas von der Seele reden wollen...“
Von welcher Seele? dachte sie und sprang. Sie hatte sich auf den Weg gemacht. Allein. Allein nach Timbuktu.