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- 02.09.2008
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Aufbruch in die Fremde
Sie strahlte. Ihre Hände zitterten vor Aufregung, als sie den Brief noch einmal las. Sie hatte es geschafft, sie würde nach Paris gehen. Das harte Arbeiten, die vielen schlaflosen Nächte hatten sich gelohnt, denn jetzt würde alles anders werden. Sie schloss die Augen und tauchte ein in die ihr bevorstehende neue Welt. Vor ihr stand der Eiffelturm, sie hörte hupende Autos und roch den frischen Duft von Croissants.
Plötzlich stand Miu hinter ihr. Ihr Gesicht zeigte Freude, sie hatte sicher schon geahnt, dass sie das Stipendium für die Université in Paris erhalten hatte. Jedoch war auch eine Spur Trauer in ihr Gesicht geschrieben. Sie wusste, warum. Schließlich waren sie seit Kindertagen immer zusammen gewesen und hatten gemeinsam davon geträumt, in die weite Welt zu fahren- weit weg von Indien.
Sie träumten von einem Leben ohne Slums, Armut und Traurigkeit. Sie hofften auf ein selbstbestimmtes Leben nach ihren Vorstellungen.
Doch Miu hatte es nicht geschafft, nur sie würde gehen, um ein neues Leben zu beginnen. Zu der anfänglichen Freude kam jetzt die Angst. Würde sie alleine durchkommen? Würde sie sich mit der westlichen Kultur anfreunden können? Würde sie jemand kennenlernen, mit dem sie glücklich werden würde? Doch Miu baute sie auf, wie sie es immer getan hatte. Miu meinte, ihr würden alle Wege offen stehen und sie hätte genug Biss, um durchzukommen.
Sie begannen zu planen. Miu half ihr natürlich beim Packen ihrer wenigen Sachen. Sie packte ihre Saris, Tücher und Bücher in die kleine, blaue Reisetasche, die sie von ihrem Großvater geerbt hatte. Er hatte damals lange darauf gespart, um fortzugehen, hatte es aber nie geschafft. Aber an sie hatte er immer geglaubt. Er glaubte daran, dass sie es mit dem unbekannten Westen aufnehmen könne. Die Tasche gab ihr Mut. Vielleicht hatte ihr Großvater Recht.
Die Dämmerung brach herein, es war Zeit aufzubrechen. Sie verabschiedete sich von ihrer Großmutter, die die letzten Jahre für sie gesorgt hatte. Ihre Eltern hatte sie nie gekannt, ihre Großmutter vermutete, dass sie nicht mehr leben. Beim Abschied hatte die Großmutter Tränen in den Augen. Sie gab ihr einen Kuss auf die Stirn und sprach einen Glückssegen aus. Sie gab ihr ihr goldenes Amulett, dass sie an ihre Heimat erinnern sollte. Nun wurde ihr ihre Entscheidung bewusst und was sie zurücklassen würde, aber sie bereute nichts. Das war ihr Traum und sie würde ihn leben.
Miu begleitete sie zum Bus, der zum Flughafen fahren würde.
Die Sonne war nun vollständig untergegangen. Die Umgebung war finster und trostlos. Doch in ihren Gedanken war es hell, das Glück und ein neues Leben wartete auf sie.
Der alte, gelbe Bus kam, sie stieg ein und fuhr in die Fremde, voller Zuversicht. Das letzte was sie sah, war Mius winkende Hand. Sie hoffte, sie würden einander eines Tages wiedersehen.