Augenblicke – Münster Trilogie II
Als er die Augen öffnete, sah er direkt in die Augen seines Mitbewohners, der ihn am Arm festhielt. Er hatte ihn geweckt. Sie sahen sich: der eine grinsend, der andere verschlafen. Er lag auf der Couch im Wohnzimmer; auf der Couch, die jetzt sein Mitbewohner und dessen Freundin besitzen wollten. Es war offensichtlich früher Abend – Zeit für die allabendliche Litanei von Serien, die alle nichts anderes vorgaben als die Realität zu sein. So sind Jugendliche. Super süß, mega trendy und krass cool. Doch die Fernseh-WGs sahen anders aus als die, in der er vor wenigen Minuten erwacht war. Auch sahen die Menschen anders aus als die, die jetzt neben ihm Platz nahmen. Sein Mitbewohner hatte eine alte Jeans an und Wollsocken an, die von unten sehr dunkel waren. Wahrscheinlich von den Staubmäusen am Boden, den im Fernsehen auch nie zu sehen waren. Die Freundin des Mitbewohners hatte dunkle Ränder unter den Augen und einen hellbraunen Fleck auf dem T-Shirt. Beides sah man im TV auch nie. Der Blick in das Leben der anderen wird erst in der gespielten Realität des Fernsehens interessant, da man dort all jene uninteressanten Einzelheiten nicht sehen musste. Von Toiletten bis Abstellkammern, Mülleimer bis Wäschesack – diese Details blieben dem Zuschauer zum Glück - oder vielleicht leider - erspart.
Jetzt begannen die kurzen Nachrichten vor den Soaps. Nachrichten über andere Leute. Er, sein Mitbewohner und dessen Freundin sahen sich das Schicksal einer Frau an, die tot in einem Wald im Bergischen gefunden wurde, nachdem sie von ihrem drei Jahre älteren Mann verprügelt und dessen arbeitslosen Bekannten vergewaltigt worden war. Die Kinder mussten zusehen. Für die Dauer einer Nachricht bekommt man auch Einsicht in das Leben Anderer, realer Menschen. Dort kommt dann meist Unschönes zu Tage, die sterile Banalität erscheint auf einmal wünschenswerter. Dreieinhalb Minuten enden mit dem Vorabend verstörenden Anblick eines weinenden Mannes.
Sein Mitbewohner aber lacht. Er hat gerade in der TV-Zeitschrift gesehen, dass heute Abend „Austin Powers“ auf RTL läuft. Auf einen gemütlichen Abend mit dem WG-Pärchen kann er verzichten. Die Figuren auf dem Bildschirm ziehen an ihm vorüber, wie auch die Insiderbemerkungen der beiden Zuschauer neben ihm. Ob Daniel gestern anders ausgeschaut hat oder Jessy einen neuen Look hat, ist von sehr geringem Interesse für ihn.
Wichtiger ist das Treffen mit seiner Ex-Freundin, das für halb acht im Gasolin geplant war. Sie wolle ihn gerne sehen, hat sie gesagt. Da für diesen Donnerstagabend nichts Besseres in Aussicht stand, hatte er zugestimmt. Wahrscheinlich wollte sie wieder die vor kurzem beendete Beziehung kitten. Nach dem ja sie diese als gescheitert erklärt hatte, war er einem Treffen nicht abgeneigt, zweifelte aber am Erfolg. Keiner der beiden hatte sich wohl in den letzten drei Wochen so grundsätzlich geändert, dass der sie trennende Abgrund überschaubarer geworden wäre. Auch hatte er sich bereits nach anderen Mädels umgesehen und mit nun frischem Blick festgestellt, dass das örtliche Nachtleben die ein oder andere ansehnliche Frau bereithielt.
Als er kurz nach halb die Tür des Cafes öffnete, hatte er die zehn Minuten Fußweg im strömenden Regen zurückgelegt. Nur einige Radfahrer mit und vor allem ohne Licht hatten ihm dort sehr kurze Gesellschaft geleistet. Nun stand er tropfend da und sah ihre schönen braunen Augen. Ohne Brille dieses Mal, sie hatte sich wohl Kontaktlinsen zugelegt. Nach der hilflosen Begrüßung – halb distanzierter Handschlag, halb vertraute Umarmung – saßen sie sich an einem kleinen Tisch gegenüber. Sie begann von ihren Dozenten zu erzählen, seine Gedanken schweiften bereits ab. Das Licht der Straßenlaternen vibrierte auf der nassen Straße und die Kerze am Tisch nebenan zuckte sehr unrhythmisch. Sie schaute ihn fragend an. Er wandte sich wieder ihren Lippen und den kleinen weißen Zähnen zu und versuchte so, aufmerksam auszusehen. Sie gab ihre Erzählung bald auf und verlangte von ihm, ein paar Neuigkeiten zu erfahren. Er wolle über Sylvester bei einem Freund in Berlin vorbeischauen und anschließend noch eine Woche Sightseeing dort machen. Sie schenkte ihm einen liebvollen Blick: Jetzt, wo sie nicht mehr zusammen waren, könne er ja machen, was er wolle. Hinter ihrem Rücken hatten sich zwei Studentinnen hingesetzt und bestellten ihre Getränke bei der Bedienung, die ihren wundervoll runden Hintern zeigte. Die eine der beiden Studentinnen hatte einen ansehnlichen Ausschnitt, der sich an seine Fantasie wandte. Leider bemerkten sowohl die Studentinnen als auch seine Ex-Freundin die eingehenden Beobachtungen. Die eine drehte sich auf ihrem Stuhl in eine andere Richtung, die andere feuerte vorwurfsvolle Blicke. Er müsse ihr ja nicht so auffällig zeigen, dass er jetzt andere interessanter finde. Sie tauschten noch eine Weile ihre Perspektiven auf die Sache aus, bis sie ging, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen.
Es war halb elf und Zeit ebenfalls zu gehen. Seit ihrer etwas lebhaften Diskussion schaute ihn ein Typ mit wolligen Koteletten immer wieder an. Nicht so wie er meinte, die Studentin angeguckt zu haben, sondern völlig unverblümt einige Augenblicke lang. Aber weder eine verschrobene Diskussion über Emanzipation noch eine schwule Anmache sollten das Ende dieses Abends einläuten.
Beim Verlassen der Kneipe überlegte er, wo er jetzt hingehen könnte. Kurz vor elf war sicher noch nicht die Zeit, um in den Club zu gehen, aber alleine in einer Kneipe sitzen, wollte er auch nicht. Das macht entweder den Eindruck des elitären Intellektuellen oder des einsamen Säufers – beides entsprach nur teilweise der Realität. Und seinen Vorstellungen von dem, was er an diesem Abend verkörpern wollte, schon gar nicht. Als sich die beiden Männer an ihm vorbei drängelten, bemerkte er, dass er gedankenverloren vor der Tür stehen geblieben war. Sie musterten ihn abschätzig und kehrten ihm den Rücken zu, blieben aber selbst stehen. Einer der beiden war der Typ, der ihn so angesehen hatte.
Jetzt an der frischen Luft bemerkte er nach ein paar Schritten, dass der Alkohol seine angenehm federnde Wirkung in den Knien entfaltete. Er war sich daher nicht sicher, ob er die ernüchternde Wirkung der feucht-kalten Luft willkommen heißen konnte. Er bog in die tropfenden Baumreihen der Straße ein, die ihn in diese Nacht führte. Im Licht der wenigen Laternen klatschten dicke Tropfen auf die zu braunem Brei zerfahrenen Blätter am Boden. In einiger Entfernung kamen ihm die zwei einzigen Gestalten entgegen, die sich augenscheinlich bei diesem Wetter noch auf die Straße begaben. Er ging rechts, wohl aus der Gewohnheit heraus, die er beim Radfahren entwickelt hatte. Im mittäglichen Verkehr würde man sonst entweder über den Haufen gefahren oder zu Tode gehupt. Die zwei Männer, das erkannte er nun im dünnen Licht, gingen auf der anderen Seite des Weges. Sie reichten sich kurz die Hände und einer verschwand in einem der angrenzenden Gärten. Der andere ging weiter, wechselte aber die Seite. Als sie sich auf gleicher Höhe trafen, verlangsamte der Mann seinen Schritt und blieb schließlich stehen. Er sah, dass der Typ sich eine Zigarette ansteckte. Im Licht der hinter ihm liegenden Laterne bemerkte er aber auch, dass es der Typ mit den Woll-Koteletten war und dieser seinen Weg fortsetzte – in seine Richtung. Am Kreisverkehr passierte er eine Bushaltestelle. Das Licht schien seinen Augen zu hell. Niemand brauchte um diese Zeit so helle Haltestellen. Er wandte sich davon ab und sah in das Rund des Platzes mit dem NS-Mahnmal in der Mitte. Auf der anderen Seite ging der Mann mit der Zigarette und schaute in seine Richtung, blieb stehen und blies eine Rauchfahne in die Luft.
An der nächsten Ecke war „Berlin-Döner“. Er stand einen Moment vor dem Schaufenster, entdeckte den bereits leeren Spieß und verabschiedete sich von der Vorstellung ein Häppchen zu essen – für die Jungs hinter dem Tresen war Feierabend. Als er seine Schritte wieder in Richtung des Clubs lenkte, entdeckte er den Typ mit der Zigarette auf der anderen Straßenseite – jetzt allerdings ohne Kippe. Der Mann stand dort und starrte zu ihm herüber.
Bevor er den engen Korridor betrat, schaute er sich noch einmal um, konnte zwischen den tropfenden Bäumen auf der Straße niemanden sehen. Bis auf einen Bus, aus dem ein paar Leute stumpfsinnig starrten, war die Straße leer. Er wandte sich um und ging hinein. Heute war wieder „Scirocco Club“, was zumindest musikalisch eine bessere Stimmung versprach. Der große Spiegel am Eingang zeigte aber einen ziemlich durchnässten Typen, der erst mal ein Bier brauchte. Und danach noch eins. Die Kassenfrau hatte ihn schon so mitleidig angesehen, oder war es höhnisch?
An der Theke standen vier Jungs. Polohemden mit aufgestelltem Kragen und diese unrühmliche Frisur bei der ebenfalls die Haare über der Stirn aufgestellt waren, sah man hier wirklich selten. Dessen wohl bewusst, tappten sie unsicher von einem Fuß auf den anderen und begrabbelten sich gegenseitig. Take-Five hier, Schulterklopfen da und noch ein Rippenstoß extra – das Gefühl des hier-passen-wir-nicht-hin, das die vier bedrängte, war unübersehbar.
Als er sich an die Theke stellte, schaute die Barfrau, eine auffällig niedliche mit Lippenpiercing, schwarzen Haaren und einer anheimelnden Figur, ihn fragend an. Mit ihr der Rest der Anwesenden, inklusive der vier aufrechten Polohemden, die dafür sogar in ihrem Gefummel innehielten. Als er seine zwei Flaschen Astra bekam und zahlte, schien das immer noch von allgemeinem Interesse zu sein. Also zog er sich in den von der Bar abgetrennten Raum mit der Tanzfläche zurück. Zu seiner Verwunderung lugten aus allen Separees schon Körperteile hervor. Da er kein Interesse an einem Ist-hier-noch-frei-Gespräch hatte, nahm er auf den Sitzen rechts vom DJ Platz. So hatte er zumindest einen schönen Panoramablick auf die eintrudelnden Leute –vorzugsweise weibliche. Raffa, DJ des Abends, blickte auf, nickte ihm kurz zu und kümmerte sich um die nächste Platte. Hatten sie sich schon mal in der Uni gesehen? Oder auf Lars’ Party?
Im Separee gegenüber saßen zwei Skijacken-Träger mit Britpop-Frisur. Sie schauten gelangweilt aus dem Fenster, das den Blick auf die leere Tanzfläche erlaubte. Wohl in Ermangelung eines Gesprächstoffs stierten sie ihn an. Er suchte schnell einen anderen Punkt, den er fixieren konnte und fand ihn: die Dreadlocks der Frau im Separee nebenan. Gepflegte blonde Filzlocken, die zu einem Zopf zusammengebunden waren. Das gefiel ihm, weniger aber, dass auch sie aufschaute und ihn direkt ansah. Er lächelte, doch sie erwiderte nicht und schaute nur. Einen Schluck Bier und ein Separee weiter, wurde die Lage nicht aussichtsreicher. Dort saßen zwei Jungs mit zwei Mädels, die sich nach dem Bauen nun ihren Joint ansteckten. Auffällig unauffällig kreiste das Gerät und so blieb ihnen Zeit, in die Gegend zu gucken. Eine Gegend, die leider wohl nur aus seiner Sitzecke zu bestehen schien. Abwechselnd und gleichzeitig - je nach Beschäftigung – richteten auch sie ihre Blick auf ihn. Saß er falsch, leuchteten seine Zähne im Schwarzlicht, hatten die nichts Besseres zu tun?
Ein Gang zur Toilette würde ihnen die Grundlage entziehen! Als er an der Pissrinne stand, kam ein weiterer Mann herein. Dieser tat jedoch nicht, was zu tun war, sondern stellte sich schräg hinter ihn. Er schaute ihm doch jetzt nicht wirklich beim Pinkeln zu, oder? Einen Blick im Nacken beim Pissen zu spüren, ist nicht sehr entspannend, und so beeilte er sich insofern man das dabei kann. Als er sich nach dem Mann umsah, kramte der allerdings in seinem Portemonnaie.
In der Zwischenzeit war eine Gruppe in die Bar gekommen. Etwa zehn Leute hatten sich unter anderem auch auf seinem ehemaligen Platz niedergelassen. Als er sich zu seiner Jacke, die dort noch lag, durcharbeitete und sein Bier wegnahm, wurde das von den aufmerksamen Blicken der Umstehenden verfolgt. Kein Sitzplatz war mehr frei, die Tanzfläche hingegen gähnend leer – ungünstige Voraussetzungen für einen Sologast. Also zurück zur Bar und der leckeren Barfrau. Die hatte ihn schon beim Betreten des Raumes beäugt, was ihn erfreute und zugleich erstaunte. Die vier Polohemden waren verschwunden, dafür hatten sich einige Leute mehr vor dem Tresen versammelt. Er wollte sich durchdrängeln, um der Barfrau mit einem tiefen Blick in die Augen seine Bestellung zu sagen, doch die fünf Jungs im HipHop-Outfit ließen ihn nicht durch. Sie schauten ihn nur grinsend an und rückten weiter zusammen, so dass er die Theke, und noch schlimmer, die Thekenfrau nicht mehr sehen konnte. Sie waren größer als er, was bei 1,75 Metern nicht selten war; so richtet er seinen Blick etwas aufwärts und schaute den Typ in der Mitte an. Mit haschischroten Augen blinzelte er ihn fragend an. Auch die anderen schlossen auf und bildeten fast einen Kreis um ihn. Am Rand seines Gesichtsfeldes nahm er wollige Koteletten wahr, die sich zum ihn umgebenden Kreis gesellt hatten und diesen damit schlossen.
Ein weiterer Versuch sich der Theke zu nähern, stieß auf keine Gegenliebe. Vor allem sein direktes Gegenüber verengte die Augen und schaute nun wenig kooperativ an. Er sah sogar aggressiv aus. Die zwei neben ihm stellten ihre Bierflaschen auf den Tresen und schoben demonstrativ ihre Hände in die Hosentaschen. Und die Blicke des Typen, der hinter ihm stand, konnte er jetzt auf seinem Hinterkopf fühlen. Ein Schritt zur Seite – ein alternatives Angebot für die drei vor sich – führte zu keinem guten Ergebnis. Die Seiten waren nun auch dicht und der Typ links von ihm zuckte mit einem Augenlid. Für einen Moment konnte er sich von seinem Gegenüber lösen und sah die anderen Gäste. Sie alle schienen Großes zu erwarten, denn sie konzentrierten sich auf den Kreis von Männern, dessen unglücklichen Kern er bildete. Die Barfrau lehnte sich an die Rückwand und verschränkte die Arme. Alles stand für einen Moment still. Keine Bewegung, kein Umhergehen, kein Trinken, kein Rauchen, auch kein Lidzucken. Stille Beobachtung, erwartungsvolles Betrachten, die Bar war ein Auge.
Dann fasste ihn jemand von hinten an der Schulter. Ruckte, griff noch einmal nach. Seine Augen weiteten sich vor Schreck, vor Angst, vor Furcht vor dem, was nun folgen mochte. Er drehte sich mühsam um und sah direkt in die Augen seines Mitbewohners, der ihn an der Schulter hielt. Hinter ihm Stand seine Freundin und kicherte. Im Hintergrund lief der Fernseher. „Wie lange willst du denn noch pennen, Alter?“ fragte sein Mitbewohner grinsend. „Es ist kurz vor sechs und Martina würd’ gerne ihre dusselige Soap gucken!“ Er richtete sich auf und gab ein Stück der Couch frei, auf der er gelegen hatte. Die beiden setzten sich und machten den Fernseher lauter als der Trailer begann. Aus der Küche roch es nach Tiefkühlpizza im Ofen.