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Augenlos

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02.11.2008
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Augenlos

Der Bus ist alt, schmutzig und stinkt erbärmlich, als er an meiner Station hält. Knatternd öffnen sich die Türen. Langsam steige ich ein und schaue mich um. Es gibt noch viele freie Sitzplätze. Die Polster sind zerschlissen und abgewetzt. Wankend gehe ich durch das ruckelnde Fahrzeug in den hinteren Teil des Busses, während ich nach einem vertrauten Gesicht Ausschau halte. Enttäuscht lasse ich mich auf einen Sitz plumpsen, der nicht ganz so heruntergekommen aussieht. Ich platziere meinen Rucksack neben mich und drücke den Ohrstöpsel meines iPods fester ins Ohr. „Because you had a bad day…“ Das Display erleuchtet kurz und zeigt mit den Titel und den Interpreten an. Leise singe ich den Refrain mit. Hoffentlich hört mir keiner zu, ich kann nämlich überhaupt nicht singen.
Plötzlich bemerke ich den Jungen, der mir schräg gegenüber sitzt. Abrupt stelle ich meinen schiefen Gesang ein.
Der Junge hat dunkle Knopfaugen, lange Wimpern und eine schöne, schwarze Haut, die in dem trüben Licht leicht kupfern glänzt. Er beugt sich vor, haucht seinen heißen Atem an die eiskalte Fensterscheibe und malt ein trauriges Gesicht hinein. Dann hebt er kurz seine Hand und wischt es schnell weg.
Die Scheibe reflektiert funkelnde Augen, die mir auf einmal entgegen blicken, sie durchbohren mich und hastig wende ich mich ab. Ich schaue aus dem Fenster. Nach oben, in den Himmel. Die Sonne ist nicht zu sehen, verborgen hinter einen dichten, undurchdringlichen Wand aus Wolken und Dunst. Mein Blick senkt sich und verfolgt die Häuser, an denen der Bus gemächlich vorbeituckert. Es scheint, als duckten sie sich unter der Last der Wolken. Ein feines Netz aus Regen beginnt den Boden zu bedecken, bis es ihn bald ganz überzogen hat. Dicke Regentropfen trommeln gegen das Glas und laufen in schmalen Sturzbächen an ihr hinab.
Der Bus wird allmählich wieder langsamer und seufzend hält er an der nächsten Station. Wieder öffnen sich die Türen knatternd. Wieder steigen ein paar Leute ein. Ihre Gesichter sind ausdruckslos und verschlossen, ihre Stimmung nicht zu deuten. Sie halten ihre Gedanken sorgsam hinter einer schützenden Fassade zurück.
Gerade wollen sich die Türen schließen, als vier mächtige, breitschultrige Jungen in den Bus springen. Sie sind riesig. Viel größer als ich. Dagegen bin ich ein winziger, unscheinbarer Zwerg.
Lässig boxen sie sich durch das Knäuel an der Tür und kommen zu mir und dem Jungen nach hinten. Unwillkürlich klammere ich mich an meine Tasche, doch die Typen beachten mich gar nicht. Ich lockere meinen Griff wieder. Sie haben etwas Angsteinflößendes, Brutales an sich, das ich nicht beschreiben kann. Wasser tropft ihnen aus den Haaren und bildet lauter kleine Pfützen auf dem Boden. Sie setzen sich zu dem schwarzen Jungen, der sie mit wachen, weit geöffneten Augen mustert. Einer der vier Typen ist stehen geblieben. Auf dem Vierer ist kein Platz mehr für ihn.
„Hey Neger! Verpiss dich, da will ich hin!“ befiehlt er selbstbewusst. Bestimmt fühlt er sich total cool. Der Kleine schaut zu dem Riesen auf und schüttelt kaum merklich den Kopf. Der mächtigste von ihnen beugt sich bedrohlich zu ihm vor.
„Hast du nicht gehört, Dreckskind?“ Die Augen des Jungen werden so weit, dass sie ihm wahrscheinlich gleich aus den Höhlen kullern.
„Soll ich dir eine klatschen, Neger? Beweg dich endlich!“ Sie wurden ungeduldig. Doch er bewegt sich keinen Millimeter. Aus Furcht? Er hat Angst, das sehe ich. Die Kerle verabscheuen ihn, das sehe ich auch. Doch bestimmt nicht nur, weil er keine Anstalten macht, nachzugeben... Ihnen fallen immer mehr hässliche Beleidigungen ein, mit denen sie ihn verstören.
„Missgeburt!“
„Scheißkerl!“
„Hurensohn…“
Ich will etwas sagen, aber ich bringe kein Wort heraus, nur ein erbärmliches Krächzen, das in dem allgemeinen Lärm aus Freundlichkeiten untergeht. Ich blicke mich um. Alle Leute scheinen überall hinzusehen, nur nicht zu uns. Sie wollen einfach nicht sehen. Sie verschließen lieber die Augen. Ich traue mich auch nicht. Sie würden mich einfach packen und k.o. schlagen.
Eine einzelne Träne glitzert, als sie ihm über die Wange läuft. Die Kerle fangen an, ihn zu stoßen und immer mehr zu bedrängen.
„Aufhören!“ sage ich plötzlich. Sie hören mich nicht.
„Aufhören!“ Ich schreie und stehe auf. Der größte von ihnen steht ebenfalls auf. Er lacht. Laut. Kalt. Furchtbar gehässig. Das Lachen berührt mich nicht. Ich fühle mich gut. Innerlich, denke ich, bin ich vielleicht doch gar nicht so klein.
Der Bus hält. Ich stolpere aus ihm hinaus und spüre die Blicke der feigen Leute in meinem Rücken. Der Junge folgt mir. Es regnet immer noch. Seufzend fährt der Bus ab. Mit ihnen. Ohne ihn, ohne mich. Dankbar sieht er mich an und ich sehe nicht weg.

 
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Hallo rueganerin!
Wenn Du es aus Deiner Perspektive betrachtest, hast Du sicherlich Recht. Ich habe mir allerdings etwas anderes dabei gedacht, als ich den Text geschrieben habe.
Viele Menschen in einer solchen Situation sehen wirklich weg und helfen nicht. Mein(e) Prota muss ebenfalls mit sich kämpfen, ob er/sie zur Hilfe eilt, oder eben nicht. Er/Sie hält sich selbst für klein und schwach, im Gegensatz zu den Typen, die den Jungen "ärgern" und die sehr selbstbewusst wirken. Obwohl er/sie sich mit diesen Gedanken herumschlägt, wagt er/sie doch diesen Schritt, denn eigentlich zählt nur die innere Größe und das was Du BIST, nicht wie die anderen dich sehen. Da macht es auch nichts, wenn du ein paar Zentimeter kleiner bist...

Ich habe ein paar deiner Vorschläge für die Verbesserung benutzt, besonders der mit der reflektierenden Fensterscheibe hat mir sehr gut gefallen. Danke!

Ach ja, ob mein Prota weiblich oder männlich ist, darfst Du Dir selbst aussuchen. Ich fand das hier nicht so wichtig. Und natürlich fühlt er/sie etwas, als der Typ lacht: Stolz! Er/sie hühlt sich Großartig! Das er/sie sich getraut hat, sich für den Jungen einzusetzten. Vielleicht fühlt er/sie auch Verachtung, weil diese Hohlköpfe jemanden für sein Äußeres, sprich die Hautfarbe, verurteilen und demütigen.

Vielen Dank für Deine Kritik!
lg Gismo

 
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Hallo Gismo

Obwohl er/sie sich mit diesen Gedanken herumschlägt, wagt er/sie doch diesen Schritt, denn eigentlich zählt nur die innere Größe und das was Du BIST, nicht wie die anderen dich sehen.
Für mich steht bei diesem Text auch mehr das Moralische im Vordergrund: Der Fokus liegt hauptsächlich darauf, dass vier Jungs einen Schwarzen angreifen und wie der/die Erzähler(in) damit umgeht. Wie die anderen ihn/sie sehen zum Beispiel wird nicht thematisiert. Die innere Größe wird durch eine gute Tat attestiert – ja, ein humanistischer Gedanke, aber der Inhalt handelt trotzdem von einem in erster Linie gesellschaftlichen Problem. Die Kurzgeschichte ist deswegen in Gesellschaft sicherlich besser aufgehoben, ich werde sie verschieben. :)


Zum Text selbst:
Lässt sich gut lesen und man merkt, dass er nicht nebenbei geschrieben wurde - das tut mir als Leser schon mal gut! Das Problem ist, dass man diese Handlung sehr oft zu lesen bekommt. Ein Beispiel nur: Linie 52: Endstation Freiheit
Andererseits ist es natürlich nicht verboten, ein altes Thema wieder aufzugreifen.

Wenige Sachen fand ich nicht so gut:

Dann hebt er kurz seine Hand und wischt es schnell weg. So, als wäre es nie da gewesen.
Der zweite Satz ist überflüssig: Er sagt nicht wirklich was aus, ist nur Füllung. Würde ich streichen.

Es scheint, als duckten sie sich unter der Last der Wolken. Ein feines Netz aus Regen beginnt den Boden zu bedecken, bis es ihn bald ganz überzogen hat. Dicke Regentropfen trommeln gegen das Glas und laufen in schmalen Sturzbächen an ihr hinab. Sie sind wie ein flüssiger Vorhang, der mir die Sicht versperrt.
Da kommen gleich mehrere Bilder für Regen an einer Stelle geballt: Netz, trommeln, Vorhang. Eins würde genügen und würde vor Allem stärker wirken. Weniger ist mehr, wie man's so sagt.

Ihre Gesichter sind ausdruckslos und verschlossen, ihre Stimmung nicht zu deuten. Sie halten ihre Gedanken sorgsam hinter einen schützenden Fassade zurück. Sie lassen nicht zu, dass ihr Gesicht zu ihrem Widerspiegel wird.
Hier das Gleiche. Ein wenig zuviel aufgetragen.

Eine dicke Mauer aus Ignoranz und Feigheit trennt uns von ihnen.
Ignoranz und Feigheit, das sind so abstrakte Begriffe, auf die im besten Fall der Leser von alleine kommt. Weg lassen.

Die Kerle fangen an[KOMMA] ihn zu stoßen und immer mehr zu bedrängen.

Wünsche dir viel Spaß hier!
Gruß
Kasimir

 

Hallo Kasimir!
Na gut, ich sehe es ein ;)

Danke, werde ich haben!

lg Gismo

 

Hallo Gismo,

Pepe Danquart hat ja 1994 mit einem ähnlichen (wenn auch für mein Gefühl witzigerem) Plot einen Oscar für den besten Kurzfilm ("Schwarzfahrer") gewonnen, und auch den soll er damals schon von einem schwedischen Werbespot gegen Rassismus plagiiert haben.
Du hast daraus eine andere Geschichte gemacht, indem du uns einen Erzähler (für mich war er so männlich, dass ich erst durch die Kommentare auf die Idee gekommen bin, es könnte ja auch eine Frau gewesen sein) präsentierst, der an sich zweifelt und dann über sich hinauswächst. Dabei kommt es für mich zu Unstimmigkeiten, denn sein Gedanke am Ende weist zu sehr auf deinen philosophischen Ansatz hin, der zwischen innerer und äußerer Stärke unterscheidet und die Beeinflussung der einen auf die andere hinweist. Ein Gedanke, der vielleicht abends zu Hause so kommen kann, nicht aber schon bevor man, vielleicht noch mit zitterndem Herzen, aus dem Bus steigt. Psychologisch fällt da erstmal alle Anspannung ab. Ein weiterer Aspekt fehlt mir, der ebenfalls deiner eher philosophischen Idee zum Opfer gefallen sein scheint, denn du fokussierst dich auf den Protagonisten, nicht auf die Situation. Und in der würde meiner Erfahrung nach mit dem Ersten, der etwas sagt, der Bann auch von den anderen fallen. Wenn nur einer etwas sagt, trauen sich auch die anderen.
Natürlich bleibt es dem Autor überlassen, welche Fragestellung ihm an einer Geschichte interessiert und worauf er bei der Erzählung seinen Fokus legt. Soll auch so bleiben, mir persönlich ist dieser philosophische/psychologische Aspekt, nachdem der Erzähler in seiner Handlung Zugang zu seiner Größe und zu sich findet, trotz aller Richtigkeit aber dafür zu "banal" abgehandelt. Vielleicht haben die anderen Rezensenten deshalb eher den gesellschaftlichen Aspekt gesehen.
Noch zwei Details:

Mein Blick senkt sich und verfolgt die Häuser, an denen der Bus gemächlich vorbeituckert
Der Bus wird allmählich wieder langsamer
gemächliches vorbeituckern signalisiert mir nicht gerade Geschwindigkeit, insofern weiß ich zwar, dass der Bus zum Anhalten noch langsamer werden muss, um schließlich anzuhalten, es liest sich aber trotzdem komisch.
Wieder öffnen sich die Türen knatternd.
Du kennst andere Busse als ich, bei denen, die ich kenne öffnen sich die Türen eher zischend.

Lieben Gruß
sim

 

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