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Augenlos
Der Bus ist alt, schmutzig und stinkt erbärmlich, als er an meiner Station hält. Knatternd öffnen sich die Türen. Langsam steige ich ein und schaue mich um. Es gibt noch viele freie Sitzplätze. Die Polster sind zerschlissen und abgewetzt. Wankend gehe ich durch das ruckelnde Fahrzeug in den hinteren Teil des Busses, während ich nach einem vertrauten Gesicht Ausschau halte. Enttäuscht lasse ich mich auf einen Sitz plumpsen, der nicht ganz so heruntergekommen aussieht. Ich platziere meinen Rucksack neben mich und drücke den Ohrstöpsel meines iPods fester ins Ohr. „Because you had a bad day…“ Das Display erleuchtet kurz und zeigt mit den Titel und den Interpreten an. Leise singe ich den Refrain mit. Hoffentlich hört mir keiner zu, ich kann nämlich überhaupt nicht singen.
Plötzlich bemerke ich den Jungen, der mir schräg gegenüber sitzt. Abrupt stelle ich meinen schiefen Gesang ein.
Der Junge hat dunkle Knopfaugen, lange Wimpern und eine schöne, schwarze Haut, die in dem trüben Licht leicht kupfern glänzt. Er beugt sich vor, haucht seinen heißen Atem an die eiskalte Fensterscheibe und malt ein trauriges Gesicht hinein. Dann hebt er kurz seine Hand und wischt es schnell weg.
Die Scheibe reflektiert funkelnde Augen, die mir auf einmal entgegen blicken, sie durchbohren mich und hastig wende ich mich ab. Ich schaue aus dem Fenster. Nach oben, in den Himmel. Die Sonne ist nicht zu sehen, verborgen hinter einen dichten, undurchdringlichen Wand aus Wolken und Dunst. Mein Blick senkt sich und verfolgt die Häuser, an denen der Bus gemächlich vorbeituckert. Es scheint, als duckten sie sich unter der Last der Wolken. Ein feines Netz aus Regen beginnt den Boden zu bedecken, bis es ihn bald ganz überzogen hat. Dicke Regentropfen trommeln gegen das Glas und laufen in schmalen Sturzbächen an ihr hinab.
Der Bus wird allmählich wieder langsamer und seufzend hält er an der nächsten Station. Wieder öffnen sich die Türen knatternd. Wieder steigen ein paar Leute ein. Ihre Gesichter sind ausdruckslos und verschlossen, ihre Stimmung nicht zu deuten. Sie halten ihre Gedanken sorgsam hinter einer schützenden Fassade zurück.
Gerade wollen sich die Türen schließen, als vier mächtige, breitschultrige Jungen in den Bus springen. Sie sind riesig. Viel größer als ich. Dagegen bin ich ein winziger, unscheinbarer Zwerg.
Lässig boxen sie sich durch das Knäuel an der Tür und kommen zu mir und dem Jungen nach hinten. Unwillkürlich klammere ich mich an meine Tasche, doch die Typen beachten mich gar nicht. Ich lockere meinen Griff wieder. Sie haben etwas Angsteinflößendes, Brutales an sich, das ich nicht beschreiben kann. Wasser tropft ihnen aus den Haaren und bildet lauter kleine Pfützen auf dem Boden. Sie setzen sich zu dem schwarzen Jungen, der sie mit wachen, weit geöffneten Augen mustert. Einer der vier Typen ist stehen geblieben. Auf dem Vierer ist kein Platz mehr für ihn.
„Hey Neger! Verpiss dich, da will ich hin!“ befiehlt er selbstbewusst. Bestimmt fühlt er sich total cool. Der Kleine schaut zu dem Riesen auf und schüttelt kaum merklich den Kopf. Der mächtigste von ihnen beugt sich bedrohlich zu ihm vor.
„Hast du nicht gehört, Dreckskind?“ Die Augen des Jungen werden so weit, dass sie ihm wahrscheinlich gleich aus den Höhlen kullern.
„Soll ich dir eine klatschen, Neger? Beweg dich endlich!“ Sie wurden ungeduldig. Doch er bewegt sich keinen Millimeter. Aus Furcht? Er hat Angst, das sehe ich. Die Kerle verabscheuen ihn, das sehe ich auch. Doch bestimmt nicht nur, weil er keine Anstalten macht, nachzugeben... Ihnen fallen immer mehr hässliche Beleidigungen ein, mit denen sie ihn verstören.
„Missgeburt!“
„Scheißkerl!“
„Hurensohn…“
Ich will etwas sagen, aber ich bringe kein Wort heraus, nur ein erbärmliches Krächzen, das in dem allgemeinen Lärm aus Freundlichkeiten untergeht. Ich blicke mich um. Alle Leute scheinen überall hinzusehen, nur nicht zu uns. Sie wollen einfach nicht sehen. Sie verschließen lieber die Augen. Ich traue mich auch nicht. Sie würden mich einfach packen und k.o. schlagen.
Eine einzelne Träne glitzert, als sie ihm über die Wange läuft. Die Kerle fangen an, ihn zu stoßen und immer mehr zu bedrängen.
„Aufhören!“ sage ich plötzlich. Sie hören mich nicht.
„Aufhören!“ Ich schreie und stehe auf. Der größte von ihnen steht ebenfalls auf. Er lacht. Laut. Kalt. Furchtbar gehässig. Das Lachen berührt mich nicht. Ich fühle mich gut. Innerlich, denke ich, bin ich vielleicht doch gar nicht so klein.
Der Bus hält. Ich stolpere aus ihm hinaus und spüre die Blicke der feigen Leute in meinem Rücken. Der Junge folgt mir. Es regnet immer noch. Seufzend fährt der Bus ab. Mit ihnen. Ohne ihn, ohne mich. Dankbar sieht er mich an und ich sehe nicht weg.