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- Anmerkungen zum Text
Ich habe abgesehen von Aufsätzen während der Schulzeit noch nie geschrieben.
Mir ist bewusst, dass ich wohl noch schreibe wie ein 15-jähriger Jugendlicher.
Aller Anfang ist schwer und wer nicht anfängt, kann auch nicht weiterkommen.Mir ist bewusst, dass die Geschichte auch ohne die ersten zwei teile auskommen würde. Ich hatte aber so vieles im Kopf, was ich ausprobieren wollte.
Besten Dank für eure Unterstützung.
Aurels erster Botengang
Aurel stand, das Schwert gezogen, an der Hügelkuppe und starrte auf die überwältigende Zahl feindlicher Soldaten hinunter. Sein pechschwarzes Schlachtross Merkur tänzelte unruhig. Ob dessen Bewegungen oder der mit grossen Tropfen vom Himmel fallende Regen Aurels glänzende Rüstung klappern liess, war schwer auszumachen.
«Ruhig, Merkur», flüsterte Aurel und streichelte das Tier sanft am kräftigen, mit Eisenplatten geschützten Hals, «die Schlacht wird früh genug beginnen, mein Freund.»
Er wendete Merkur zu seinen Männern hin, die in schwarzen Rüstungen hinter ihm auf den Pferden sassen. Ihre Blicke waren von Sorge gezeichnet. Verhöhnende Rufe des feindlichen Heeres durchbrachen das dumpfe Plätschern des Regens.
Aurel zog das legendäre Schwert, den Heidenstecher, aus dessen Schneide und hob es in die Luft.
«Was macht ihr für Gesichter?», rief Aurel ihnen zu, die Stimme voll Kraft, «denkt ihr etwa, die Bauerntölpel sind eine Bedrohung für uns? Wir, die stolze und mutige Schwarze Garde, haben uns schon mit furchtloseren Gegnern gemessen! Noch heute Abend werden wir, mit reicher Beute, singend und wankend am warmen Feuer sitzen!»
Ein lautes Gejohle erhob sich aus den Reihen seiner Ritter, als sie die Schwerter schwangen.
Aurel wendete das Pferd wieder der gegnerischen Übermacht zu. Mit einem kraftvollen Ruck gab Aurel Merkur die Sporen: «Für die Prinzessin!», schrie er und streckte sein Schwert seinen Feinden entgegen.
«Für die Prinzessin!», hallte der Ruf seiner Männer nach, während sie ihrem Anführer folgten und den Hügel hinabstürmten.
Aurel brauste im Galopp den feindlichen Soldaten entgegen. Von Merkurs Hufen spritzte die Erde auf. Sie näherten sich der mit Spiessen gespickten Wand aus Stahl. Schneller, immer schneller…
Er hörte ein leichtes Knarren der Eingangstür. War doch schon jemand auf? Aurel entschloss sich aufzustehen. Vorsichtig schritt er durch sein dunkles Zimmer. In der Stube brannte eine frische, aber schwache Glut, die den Raum rund um die Feuerstelle in ein sanftes, goldenes Leuchten tauchte. Leise öffnete er die hölzerne Tür nach draussen und schloss sie ebenso sorgsam hinter sich.
Es war noch dunkel. An der fernen östlichen Hügelkette kündete ein bläulicher Schimmer vom baldigen Erwachen des Tages. Im schwachen Licht konnte Aurel die wenigen Gebäude um den Hofplatz nur erahnen. Er wusste jedoch, dass sich hinter dem dunklen Schleier die Stallungen, die Schmiede von Andreas und die Scheune mit den Ackerwerkzeugen und Übungswaffen verbargen.
Im Schloss, das hoch oben auf einem Felssporn erbaut worden war, flackerten die ersten Lichter in den Fenstern. Der Nachtwächter machte - wie jeden Morgen - seine Runde, entzündete die ersten Feuer in den Stuben und weckte die Bediensteten.
Aus der Richtung des Stalles vernahm Aurel ein Geräusch. Das rhythmische Stampfen von Hufeisen auf die verdichtete Erde des Hofplatzes war ihm nur allzu bekannt. Langsam nahmen zwei näherkommende Gestalten aus der Dunkelheit Form an.
Der Mensch, der sein Pferd an den Zügeln neben sich führte, blieb vor Aurel stehen. «Habe ich dich geweckt, Brüderchen? War keine Absicht», meinte er mit dumpfer Stimme, um die schlafenden Bewohner des Hofes nicht zu wecken.
«Ist schon gut, Rob, die Sonne geht ja bald auf.», noch sichtlich müde, rieb sich Aurel mit dem Handballen das rechte Auge. «Wo gehst du hin?»
Während Robert auf die Frage antwortete, kontrollierte er den Halt des Sattels und zog die Riemen fester an: «Die Kappeler Bande treibt im Birsthal wieder ihr Unwesen. Der Vogt von Zwingen hat um Hilfe gebeten und Vater hat ihm diese gewährt. Ich treffe mich bei Morgengrauen mit einigen Knechten unten im Dorf und reite mit ihnen nach Zwingen, um nach dem Rechten zu sehen.»
«Ach, diese Banditen schlagt ihr doch ohne Mühe in die Flucht», meinte Aurel, während er die Faust ballte und stolz seinen Bruder anschaute.
Robert stützte den Arm auf das Pferd. Das stetig heller werdende Sonnenlicht liess nun erkennen, dass er seine Armschienen und eine Brustplatte trug, direkt über dem enganliegenden Kettenhemd.
Er blickte Aurel durchdringend an: «Du zwölfjähriger Naivling! Dir fehlt es an Erfahrung und Wissen. Unterschätze nie deinen Gegner! Voreiliges, unüberlegtes Hervorpreschen führt nur zu unnötigem Blutvergiessen! Sei deinem Widersacher immer einen Schritt voraus! Es liegt nichts heldenhaftes in einem Tod, der hätte vermieden werden können. Verstehst du das, Aurel?»
Aurel blickte verlegen auf die Erde. «Ja, Robert, ich verstehe. Dasselbe sagt Vater immer, ‘Aurel, wenn du nicht bald damit anfängst, mit dem Kopf zu denken, statt immer unbedacht mit dem Schädel vorzupreschen, brichst du dir den Hals», er imitierte beim Rezitieren Vaters tiefe Stimme und rollte am Ende mit den Augen.
Ein kleines, warmes Lächeln zeichnete sich auf Roberts Lippen ab. Aurel nahm allen Mut zusammen, schaute seinen Bruder fest an und stellte die Frage, die ihn schon lange beschäftigte: «Hat sich nicht Alexander dieser Kappeler Bande angeschlossen?» Sehr vermisste Aurel seinen ältesten Bruder, der vor Jahren den Hof im Streit mit ihrem Vater verlassen hatte.
Robert hielt inne und schaute nachdenklich auf den Hals des Pferdes: «Wir wissen es nicht sicher, doch die Vermutung liegt nahe. Mehrere Dorfbewohner haben berichtet, dass sie jemand mit denselben schwarzen Locken wie Alex gesehen hätten.»
«Robert, wenn Alexander wirklich ein Bandenmitglied ist, musst du ihn wieder nach Hause bringen. Hörst du, Robert? Du darfst unserem Bruder nichts antun, ich bitte dich!»
Robert stieg aufs Pferd und richtete sein gegürtetes Schwert. Er hielt einen Moment inne. Das Gesicht zur aufgehenden Sonne gewandt, gab er langsam und überlegt Antwort: «Weisst du, manchmal, wenn man den falschen Weg eingeschlagen hat, ist es schwer, diesen wieder zu verlassen. Brandschatzen, sich der Fleischeslust hingeben und saufen, scheint oft in erster Linie ein gutes Leben zu sein. Ein ausschweifendes und lasterhaftes Leben bereut man erst dann, wenn alles zu spät ist und es kein Zurück gibt. Und wenn man mit Gottes Hilfe doch noch erkennt, dass der begangene Weg der falsche ist, hindern uns Scham und Stolz, auf den richtigen zurückzukehren. Ich weiss nicht, ob ich Alexander dazu bewegen kann, zurück zu unserer Familie zu kommen. Aber was auch immer passieren wird, du hast mein Wort, dass ich nichts unversucht lassen werde.»
Er drehte den Kopf zu Aurel, sein ernstes Gesicht wich einem warmen Lächeln: «Halt die Ohren steif und gib auf dich acht, Holzkopf», er wendete das Pferd und ritt davon.
«Herrgott noch mal, Aurel! Wie oft muss ich dir das noch sagen? Du musst bei dieser Parade das Schwert mit voller Kraft nach oben schlagen, der Gegner muss das Gleichgewicht verlieren, sonst wird das nichts», blaffte Simon, Aurels Vater, ihn an.
Es waren ungefähr zwei Stunden vergangen, seit Robert fortgeritten war. Aurel stand für die morgendlichen Übungen auf dem Hofplatz. Der drei Jahre ältere Adrian stand vor ihm.
Simon lehnte gespannt am Koppelzaun und verfolgte mit geschultem Auge die Bewegungen der beiden fechtenden Knaben und gab gelegentlich Anweisungen. Adrians Vater, Andreas der Schmied, stützte neben Simon seine Unterarme lässig an einem Pfahl der Koppel ab.
Aurel konzentrierte sich nochmals, ging innerlich die einzelnen Bewegungsabläufe durch, die er heute Morgen schon unzählige Male durchgeführt hatte. Adrian wartete mit einem Eisenhut und gepolstertem Wams geschützt.
Mit einem Nicken gab ihm Aurel ein Zeichen, um die Übung nochmals zu beginnen. Adrian, der sein Schwert in beiden Händen über seinem Kopf hielt, führte einen Hieb von oben nach unten aus. Aurel, der sein Schwert fest in der rechten Hand hielt, liess dieses innenseitig nach oben schnellen. Als sich die beiden Übungsschwerter trafen, ertönte ein hölzerner Knall. Durch die Wucht der Parade schnellte Adrians Schwert nach hinten. Aurel schwang sein Schwert über seinem Kopf. Um mehr Schwung zu erhalten, drehte er in der Bewegung seine Hüfte ab und liess das Schwert von rechts oben herabsausen und traf Adrian in dessen linke Flanke.
Die kleine Lisa, Aurels Schwester, die bei jedem Training gespannt mitfieberte, klatschte amüsiert in die Hände.
«Geht doch!», meinte Simon, sichtlich zufriedener, «kommt her und trinkt einen Schluck Wasser, es ist Zeit für eure Botengänge.»
Adrian zog den Helm ab, zwinkerte Aurel freudig über dessen gelungenen Schlag zu. Die beiden jungen Duellanten liefen in Richtung des Zauns, bei dem sich die Väter befanden. Simon überreichte Aurel den Trinkschlauch. Nachdem dieser einen grossen Schluck getrunken hatte, reichte er den Schlauch an Adrian weiter, der mittlerweile auf der obersten Querstange des Zauns sass.
Ein Mann, der in Richtung Burg unterwegs war, näherte sich mit einem Gespann dem Hof. Er sass auf dem Zugpferd, hinter sich einen Einachser mit Bordwänden. Der Bauer, den alle aus dem Dorf kannten, sah die Gruppe, hielt an und nahm die Gugel vom Kopf.
Andreas hob seine Hand zum Gruss: «He, he! Grüss dich, Bauer Hänggi, gehst zur Burg den Mist abholen?»
«Guten Morgen allerseits. Ja, Meister Andreas, der Dung ist ein wichtiger Rohstoff und dient als Bau- und Brennstoff. Gerber möchten ihn für ihre Häute und die Sieder für ihren Salpeter. Der Mist ist in diesen Zeiten ein seltenes Gut. Ich möchte mich nicht beklagen, aber wir haben mehr nach Dung rufendes Gewerbe, als uns Mist zur Verfügung steht.»
Andreas lächelte ironisch: «Ha! Dann müsst ihr den Kühen mehr zu fressen geben, auf dass das Vieh mehr scheisst.»
Auf den Lippen aller zeichnete sich ein kleines Lächeln ab.
«Hä?», Lisa schaute verwundert in die Runde, «wie zum Kuckuck soll das gehen? Habt ihr die Kühe schon einmal beobachtet? Wie sollen die denn noch mehr fressen? Die sind doch schon immer am Kauen! Beim Grasen kauen sie, beim Melken kauen sie, beim Laufen kauen sie, beim Schlafen kauen sie, selbst wenn sie der Stier besteigt, sind die Kühe am Kauen!»
Bei allen Umstehenden erhob sich schallendes Gelächter.
Adrian, der vor lauter Lachen rücklings vom Zaun gefallen war, wälzte sich im Rasen und rief mit piepsender Stimme: »Ha, ich, haha, ich krieg keine Luft, haha, ich krieg keine Luft hahaha!»
Der Bauer Hänggi schüttelte amüsiert den Kopf, hob die Hand zum Abschied und setzte das Gespann in Bewegung.
Johanna, Aurels Mutter, kam aus dem Haus, um nach dem Rechten zu sehen, sichtlich verwundert über die amüsierte Runde.
Lisa, die nicht zu verstehen vermochte, warum alle über ihre doch so logische Aussage lachten, presste die Lippen zusammen, schnaubte, machte kehrt und stampfte beleidigt an ihrer Mutter vorbei und ins steinerne Wohnhaus.
Simon war der Erste, der sich wieder gefangen hatte und seine ernste Miene aufsetzte: »Genug, es ist Zeit, mit der Arbeit zu beginnen. Aurel, ich möchte, dass du das Werkzeug, das Andreas repariert hat, dem Dorfvorsteher Waldemar bringst. Anschliessend gehst du in die Engi zur Mühle und erkundigst dich beim Müller, warum er gestern die Bestellung für die Burg und unseren Hof nicht geliefert hat, und dann kommst du zurück. Wenn du die Sache gut machst, wirst du nach dem Mittagessen noch weitere Aufträge erhalten.
Aurel und Adrian schauten sich überrascht an. Normalerweise machten sie die Botengänge und Besorgungen immer gemeinsam.
«Und du Adrian», setzte Simon fort, «meldest dich im Schloss beim Burgherrn. Da Robert abwesend ist, darfst heute du die Botengänge im Auftrag des Grafen erledigen.»
Andreas legte eine Hand auf eine Schulter Adrians und nickte ihm stolz mit einem Lächeln zu: «Du darfst auch unser Pferd nehmen. Und für dich, Aurel, habe ich etwas ganz Besonderes angefertigt.»
Er zog einen Gegenstand hervor und streckte ihn Aurel hin. Der bekam grosse Augen und konnte die Freude kaum zurückhalten: «Ein Dolch! Für mich? Mein erster eigener Dolch? Danke Andreas!» Er nahm das Geschenk, musterte die lederne SCheide, zog langsam den Dolch heraus, hielt ihn ans Licht. Das Metall glänzte bläulich in der Sonne.
Simon musterte seinen Sohn und kniff die Augen leicht zusammen: «Denk daran, das ist kein Spielzeug. Du sollst ihn nur im absoluten Notfall benutzen. Solange du kannst, ist bei Gefahr immer die Flucht die erste Wahl.»
Aurel nickte Simon ernst zu und stiess die Klinge zurück in die Scheide.
Johanna, die immer noch bei der Hütte stand, rief: «Aurel, wen du gehst, vergiss deinen Strohhut nicht!»
Aurel winkte ab: «Ist schon gut, Mama, ich trage die Gugel.»
Johanna zog eine Augenbraue hoch: «um ihn dann vom Kopf zu ziehen, sobald du ausser Sichtweite bist? Nein! Du ziehst den Strohhut an!»
Simon fing Aurels verzweifelten Blick auf und ermahnte ihn: «Hör auf deine Mutter, die Weiber wissen oft am besten, was gut für uns ist. Respektiere die Aufforderung!»
Aurel erwiderte mit leiser, fast flüsternder Stimme: «Aber du ziehst dir die Gugel doch auch immer vom Kopf, wenn wir den Hof verlassen.»
Simon beugte sich zu Aurel, schaute ihm tief in die Augen und antwortete ihm durch seine zusammengepressten Zähne: «Und wenn du das Mama erzählst, versohle ich dir so den Hintern, dass du zwei Wochen im Stehen essen musst!»
Hocherhobenen Hauptes lief Aurel an den entgegenkommenden Bauern vorbei und grüsste höflich.
Für seinen allerersten allein ausgeführten Botengang hatte er sein blaues Lieblingswams und die gelben Strümpfe angezogen. Der neue Dolch war gut sichtbar gegürtet. Über der rechten Schulter trug er die von Andreas mitgegebenen Werkzeuge. Zwei zusammengebundene Sensen, an deren Ende ein Bündel angebracht war, dessen Inhalt ein metallisches Klirren von sich gab. Auf den fernen Hügeln und Hängen sah man die vielen vereinzelten Höfe. Kleine, sich bewegende Punkte liessen tüchtig arbeitende Knechte vermuten.
Das Dorf, dem sich Aurel näherte, war nicht sonderlich gross. Die meisten Häuser aus Holz gebaut. Auf der breiten Strasse, die hindurchführte, lag ein kiesiger Belag. Das dazugehörige Land jedes Hauses war mit einem Flechtzaun eingegrenzt. Hinter den Häusern befand sich das grösste Stück. Da waren die Hühnerställe, Gemüsegärten, das wenige Vieh, das nicht auf der Weide graste, die Holzschober und Werkstätte.
Gleich vor dem ersten steinernen Haus, sass der Dorfvorsteher an der Hausmauer auf seiner Bank. Ein kräftiger, grosser Mann, noch keine fünfzig Sommer alt, mit einem Vollbart, der einen grossen Teil seines vom Wetter gegerbten Gesicht verdeckte. Seine Arme glänzten in der Sonne. Eine Axt ruhte quer auf dem Schoss. Die schweissnasse Stirn tupfte er mit einem Tuch trocken.
Beim naheliegenden Holzblock stand ein Junge, der das gespaltene Holz auf eine Schubkarre stapelte.
«Grüss’ euch», Aurel machte eine Handbewegung, während er durch das offenstehende Zauntürchen schritt.
Der Dorfvorsteher Waldemar nickte Aurel zu.
Der Junge fing an zu plappern: «Grüss di, Aurel! Schönes Wetter heut, was? Hab mit Vati Holz gespalten. Für meine Tante, die in der Engi lebt, weisst du? Die hats schwer, seit sie Witwe ist. Ich helfe aber, wo ich kann, nachher bring ich Ihr das Holz und dann, oh, einen schönen Dolch hast du da! Ist der neu? Ich habe mein Messer gestern erst geschliffen…»
Aurel hörte schon nach dem ersten Satz nicht mehr zu und blickte entgeistert zum Dorfvorsteher.
Dieser zog die Augenbrauen leicht hoch, zuckte kaum merklich mit den Schultern und meinte mit schwerer, langsamer und tiefer Stimme: »Kennst ihn.»
Aurel machte eine Bewegung mit der Schulter, die auf die zwei zusammengebundenen Sensen hindeuten sollte: «Ich habe dir etwas vom Schmied mitgebracht.»
Der Dorfvorsteher blickte neben sich auf den Boden und nickte dabei in dessen Richtung. Aurel verstand und legte die Werkzeuge vor ihn auf den Boden.
Aurel wollte sich auf den Weg machen, da fragte ihn Waldemar: «Wohin?»
«Zur Mühle.»
«Meltingen?»
«Nein, Engi.»
«Nimmst den Erwin mit?»
Aurel, der Erwins Worte, dass er mit dem Holz zur Tante in die Engi müsse, absichtlich ignorierte, sah den Dorfvorsteher mit entgeistertem Blick an.
Dieser wiederum zog eine Augenbraue hoch und neigte leicht den Kopf. Seine Lippe schien sich auf einer Seite zu verziehen, wobei Aurel dies aufgrund des dichten Bartes nur zu erahnen vermochte.
Erwin redete und zog dabei die Schubkarre hinter sich her. Er redete ununterbrochen, jedoch immer über die gleichen zwei bis drei langweiligen, eintönigen Themen aus seiner Arbeitswelt. Erwin war ungefähr in Aurels Alter, nur grösser und vor allem kräftiger. Der mutigste, kräftigste und tüchtigste aller gleichaltrigen Jungen in der Umgebung. Genau genommen, kein übler Knabe. Nur ein wenig dümmlich. Aber nicht dumm! Dies bewies seine schnelle Auffassungsgabe bei der Verrichtung der Arbeit. Es schien so, als ob er sich aufgrund seines wortkargen Vaters aneignete, dessen eingesparten Worte selbst zu benutzen. Dies führte dazu, dass er zwar alle vollquasselte, sich jedoch nie die Zeit nahm, anderen zuzuhören, was seinen Geist meist nur mit seinem eigenen Gelaber füllte. Aurel fragte sich, warum ein so wortkarger Mann wie Waldemar zum Dorfvorsteher gewählt werden konnte.
Ein Rascheln aus dem Wald unterbrach Aurels Gedanken. Die beiden Knaben blieben stehen und wendeten sich in die Richtung des Geräuschs hin. Das Rascheln kam näher. Anspannung. Plötzlich sprang ein Rehkitz aus den vorderen Baumreihen. Die Jungs schreckten leicht auf. Erleichterung. Das Reh hielt einen Moment inne und schaute erschrocken die beiden unbekannten Gestalten an. Ein Moment, der sein Verderben bedeutete, denn in diesem Moment jagte ein Wolf aus dem Dickicht, sprang das Reh an, warf es um und verbiss sich in dessen Hals.
«Ein Wolf!», schrie Erwin, «wir müssen das arme Rehkitz retten!»
Er liess die hölzerne Karre los. Sofort eilte er dem kleinen, hilflosen Geschöpf nach.
«Halt! nein, Warte! Wir dürfen nichts überstürzen!», rief ihm Aurel nach.
Zu spät! Der Wolf, der bemerkte, dass er nicht allein war, stürzte sich auf Erwin und verbiss sich in dessen Arm.
Dieser kippte nach hinten um, lag auf dem Rücken und versuchte sich, mit Schlägen der freien Hand, zu wehren. Der Wolf liess los, nur um sich in den anderen Arm zu verbeissen.
Aurels Gedanken rasten. Gefahr! Flucht! Hilfe holen! Er wollte zum Dorf rennen. Doch dann hielt er inne und blickte zu Erwin. Er realisierte, dass die Zeit drängte. Erwin versuchte mit aller Kraft, sich dem Wolf zu erwehren. Versuchte den Wolf an dessen Hals wegzudrücken. Der Wolf stemmte sich mit dem ganzen Gewicht gegen ihn, versuchte sich dem Gesicht, mit seinen fletschenden Zähnen zu nähern, um dieses zu zerfleischen. Er kam seinem Ziel näher, immer näher.
Aurel rannte in Richtung des Kampfes. Aber nicht mit voller Geschwindigkeit. Denn er musste sich überlegen, wie er vorgehen sollte.
Die Worte Roberts schwirrten ihm im Hinterkopf herum. Nicht voreilig und unüberlegt handeln, Aurel! Er wusste, wenn der Wolf ihn zu früh bemerkte, würde das wilde Tier sich sofort auf Aurel stürzen.
Aurel zog im Lauf seinen Dolch, machte einen kleinen Bogen, um sich besser zu positionieren und stürzte sich mit seinem Gewicht in die Flanke des Raubtieres. Dabei nimmt er den Wolf mit dem linken Arm in den Schwitzkasten und stach, sooft es ging, in dessen Hals und Oberbauch. Der Wolf winselte und wendete sich, bis er sich befreien konnte. Stand auf allen Vieren und knurrte. Aurel sprang auf, den Dolch fest in der Hand und blickte seinem Widersacher tief in die Augen. Dieser jedoch fing an zu keuchen und sprintete über die Wiese Richtung Engi davon.
Aurel schaute aufgewühlt dem fliehenden Tier nach. Er atmete schwer und seine Beine fingen an zu zittern.
Er vernahm ein Stöhnen neben sich. Erwin! Aurel liess sich auf die Knie sinken und hielt Erwins Hand. Während er ihm zuredete, inspizierte er dessen Wunden. Bissspuren an den Armen, eine in der Hand. Die Finger waren noch alle dran und unversehrt. Sein Wams war aufgeschlitzt, das weisse Unterhemd färbte sich Rot.
Aurel sprang sofort auf, holte den Schubkarren, setzte Erwin hinein und schob die Karre so schnell es ging Richtung Dorf. Auf halbem Wege kamen ihnen zwei Bauern entgegen, die sofort halfen. Der eine übernahm die Karre, der andere lief so schnell er konnte voraus zum Dorf. Aurel rannte neben der Schubkarre her und versuchte Erwin ermunternde Worte zuzurufen. Erwin stöhnte leise und schien wenig von der Umgebung und dem aktuellen Geschehen zu erfassen.
Im Dorf angelangt, kam ihnen Waldemar mit ein paar Dorfbewohnern entgegen.
«Erwin», keuchte er, strich dem Jungen übers Haar.
Dann drehte er sich - wieder mit gewohnt ernster Miene - und zeigte auf jeden, den er direkt ansprach: «Du, geh zu meiner Scheune und leg Stroh auf das Schlachtbrett!
Du! Spann mein Pferd an! Du bringst Erwin zum Meltinger-Bad. Zügig! Aber nicht zu schnell!
Du! Nimm das zweite Pferd! So schnell es geht zum Meltinger-Bad. Der Bader soll sich bereithalten!
Du! nimm dein Pferd und sage Simon Bescheid!
Ihr da! Steht nicht so rum! Ich brauche Leinen und heisses Wasser! Los, Los, LOS!
Aurel staunte. Er begriff, warum Waldemar der Dorfvorsteher war.
Waldemar hob Erwin aus der Schubkarre und lief sorgsam, aber geschwind Richtung Haus.
Er schaute in das Wasser, das sich mit dem Rot seiner eben noch blutüberströmten Hände vermischte. War das Erwins Blut oder das des Wolfes? So unterschiedlich Tier und Mensch auch sein mögen, Blut sah irgendwie immer gleich aus. Er berührte das frisch angezogene Leinenhemd, das er trug.
Eine Dorfbewohnerin gab es ihm und versprach, sein schönes blaues Wams, das voll Blut und Dreck war, zu waschen.
Erwin war unterwegs. Die Dorfbewohner klopften ihm einer um die andere auf die Schultern. Er sei ein Held, sagten sie ihm. War er das? Er schaute immer noch in das trübe Wasser. War es das, was es bedeutete, ein Held zu sein? Man wusste nicht einmal, ob Erwin überleben würde, und verschrien ihn schon als Held. Was, wenn Erwin sterben würde? Wäre er dann immer noch ein Held? Weshalb? Erwin wäre tot und die Heldentat für nichts gewesen. Was mussten wohl Robert und Alexander alles durchmachen, um als so heldenhaft zu gelten, wie von ihnen im Dorf gesprochen wurde?
Aurel blickte auf zum Flechtzaun, bei dem Simon mit Waldemar sprach. Der Dorfvorsteher erklärte das Geschehen.
«Waldemar, was machst du noch hier? Nimm mein Pferd und reite zu deinem Sohn, reden können wir später noch,» meinte Simon mit verständnisvollem, aber leicht vorwurfsvollem Ton.
Waldemar blickte zu Boden und nestelte an der Haube in seinen Händen: »Der Bader muss… Ich habe vor kurzem den Zehnt bezahlt. Meine Schwester ist Witwe und benötigt Unterstützung…»
Simon verstand, legte die Hand auf Waldemars Schulter und blickte diesen mit einem kleinen Lächeln an: «Mach dir darüber keinen Kopf, sage dem Bader, dass ich die Behandlungskosten übernehme, auch wenn er zusätzlich nach einem Medicus oder Scharfrichter rufen lässt. Wenn Erwin wieder gesund ist - und das wird er - kannst du ihn für ein paar Tage zu mir auf den Hof schicken. Ist ein tüchtiger Junge!»
Die Anspannung in des Dorfvorstehers Gesicht wich einer grossen Erleichterung. Ein kräftiges Nicken bezeugte seine Zustimmung. Ohne ein weiteres Wort stieg er auf Simons Pferd. Doch Simon hielt es noch an den Zügeln und schaute in Richtung des Dorfeinganges.
Andreas kam aus Richtung Engi her zugelaufen und trug etwas über seine Schultern: «Heehee Simon, hab wie befohlen bei der Mühle auf Aurel gewartet. Als er nicht kam, ging ich auf die Suche nach ihm.» Er schmiss Simon zwei Kadaver vor die Füsse und erblickte dabei Aurel auf der Bank, ein erleichtertes Lächeln zeichnet sich auf seinen Lippen ab, «hab den Jungwolf tot auf der Wiese gefunden. Ich ging den Blutspuren nach und fand das kleine Reh.»
Simon erklärte kurz und knapp, was geschehen ist und merkt am Ende an: «Andreas, der Wolf!»
Andreas verstand: «Hehe, ach so, der Jungwolf ist abgemagert, hat eine ältere, nicht verheilte Wunde an der Pfote. Ansonsten scheint er gesund, keine Anzeichen der Wut. Ich vermute, er war im Blutrausch oder so hungrig, dass er die Beute mit dem Leben verteidigen wollte.»
Simon blickte zu Waldemar. «Gute Nachricht, geh und melde dem Bader, dass keine Anzeichen der Hundswut bestehen.»
Waldemar nickte und ritt davon.
Simon und Andreas standen am Flechtzaun und blickten zu Aurel. Dieser war vor Erschöpfung auf der Bank sitzend eingeschlafen.
Andreas meinte mit verschränkten Armen, seinen Blick nicht von Aurel abwendend: «Harter Tag für den Jungen. Er kommt, wie seine Brüder, ganz nach dir.Wird noch ein ansehnlicher Kämpfer aus dem hitzköpfigen Bub.»
Simon schaute Aurel stolz an: «Ach Andreas, er soll doch einfach meinen Hof übernehmen. Ich möchte nicht, dass er, wie seine Brüder, sich dem Kampf und Kriege widmet. Der Tag ist noch lang. Lass ihn uns wecken, nach Hause spazieren, gemeinsam das Reh ausweiden und zur Feier des tages aufs Feuer werfen.»
Freudig klopfte Andreas auf Simons Rücken: «Hehe, der Tag wird ja immer besser!»