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Ausgerechnet Murmeln

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18.08.2006
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Ausgerechnet Murmeln

Ausgerechnet Murmeln

Er durchschritt die Zimmer, langsam, mit den Fingern über die Möbelflächen gleitend, eine schrille Leere in sich. Es roch in der Wohnung nach grauer Verzweiflung. Er nahm die Äusserlichkeiten nicht wahr, weil sich alles auf den Schmerz in seiner Mitte konzentrierte. Vertrautheit eines gemeinsamen Lebens? Da war nichts mehr vorhanden. Er kam sich vor wie ein Fremder, ein Ausgestoßener. Er hob den Blick, als er sich im Flurspiegel begegnete, erschrak über seine furchtsamen blassen Augen und wandte sich ab. Ein kleiner Koffer stand schon an der Eingangstüre zu der Wohnung, das einst ihr Paradies gleich unter den Wolken gewesen war. Seine Hand wog die Hausschlüssel ab, zögernd, dann legte er sie weg. Die Tür zog er geräuschlos hinter sich zu, um nur niemanden auf sich aufmerksam zu machen.
Sollte er links oder rechts an der Häuserwand entlang? Ach was, weg von der alltäglichen Richtung, er wollte niemanden grüssen müssen. Den Kopf gebeugt, verfolgte er über seine Nase hinweg seine Schuhe, die sich vor einander setzten, wie kleine Lebewesen, selbstständig gleitend über die quadratischen Flächen des Strassenpflasters. Einmal in die Mitte steigend, dann durchschneidend, gut fand er es, wenn seine Schuhe den Kreuzpunkt trafen. Die Schuhe zogen ihn wie einen Hund an der Leine, er musste nichts tun, nichts denken, nur brav bei Fuss folgen, es machte das Gewicht in seiner Brust leichter, seinen Kopf leer. Automatisch bewegte er den Kopf sicherheitsbewusst von Seite zu Seite, wenn er Strassen überqueren musste. Er folgte Strassenläufen, Block um Block, nichts in ihm verlangte zu wissen, wo er war. Mit den Kilometern und Stunden rollte er gleichzeitig den Faden der letzten Jahre ab und irgendwann kam er an den Punkt, wo sich sein Selbsterhaltungstrieb meldete und die Frage stellte: Was ist mit uns geschehen? Sie war so stark. In ihrem Eifer, ihre Karriere voranzubringen, ihre geistige Unabhängigkeit zur Schau zu stellen, übersah sie seine Bedürfnisse. Das Dumme war, er machte sich in allem abhängig von ihr und je stärker sie wurde, desto verlassener fühlte er sich. Wo waren die Zeiten der Gemeinsamkeiten? Erst heute morgen wieder kam es zu einem Stellungsstreit und die Drohung stand im Raum, dass Konsequenzen gezogen werden müssten.
Wie müde er war, merkte er, als er an einem Vorstadtpark ankam. Er ging auf eine leere Bank zu, setzte sich, stützte die Unterarme auf die Schenkel, faltete die Hände und liess den Kopf hängen. Gedankenfetzen tropften in dieses Dreieck von Armen und Beinen. In diesem Dreieck tauchten plötzlich zwei Kinderbeine auf. Er hob die Augen langsam an ihnen entlang und gelangte zu dem Gesicht eines kleinen Mädchens. Sie musterten sich.
“Ich wollte Dich fragen, ob Du mit mir Murmeln spielst, Du hast sicher Zeit, da Du schon solange hier sitzt.”
“Murmeln? Wieso Murmeln,” fragte er verstört.
“He, schau, Du hast Augen wie meine größte Murmel hier, sieh nur.”
Seine Augen füllten sich mit Wasser, und er starrte entgeistert in das Mädchengesicht. Plötzlich bildeten sich Klümpchen, krampfartige Klümpchen in seinem Magen, die heraus wollten, heraus aus dem Mund, wie platzende Seifenblasen, ein kleines Lachen löste sich wie Husten von ihm und während er weinte, platzte es aus ihm heraus und er öffnete den Mund weit und er lachte und lachte. Das Mädchen war tief erschrocken, drückte ihre Schachtel mit Murmeln fester an sich und lief davon. Doch er bog seinen Körper auf wie einen Bogen und lachte, bis er krächzend nach hinten an die Lehne fiel und nach Luft schnappte. Er trocknete sich das Gesicht mit beiden Händen und stöhnte: “Das hatte sie vor vielen Jahren auch zu mir gesagt” und wieder lachte er, doch nicht mehr so krampfartig.
Nach einer Weile stand er auf und ging. “Hallo Sie”, rief das kleine Mädchen von der nächsten Bank hinter ihm her, “Sie haben ihren Koffer vergessen!” Er drehte sich kurz um, lächelte und sagte “Den brauche ich nicht mehr, da ist mein altes Ich drin, das hat nichts getaugt, das war viel zu dumm und blind.”
Und er ging weiter, den Kopf schüttelnd “Ausgerechnet Murmeln!”
Er wird sie in den Arm nehmen und ihr sagen, “lass uns noch einmal miteinander reden und dieses Mal werde ich zuhören!”

 

Hi Manzara,

versuche ich mir ein paar Bilder von dir vorzustellen, habe ich teilweise Schwierigkeiten:

Er schritt die Wände ab, mit den Fingern über die Möbelflächen gleitend, eine schrille Leere in sich.
Wenn jemand die Wände abschreitet, dürften keine Möbel davor stehen, sonst müsste er die Möbel (oder die Zimmer) abschreiten.

Er kam sich vor wie ein Fremder, ein Ausgestossener.
Meiner Meinung Ausgestoßener (ich find es im Duden nicht :confused: )

Nach einer Weile stand er auf und ging. “Mister”, rief das kleine Mädchen von der nächsten Bank hinter ihm her,
bisher sprach nichts für Ausland, deshalb ist das Mister doch unnötig

Er wird sie in den Arm nehmen und ihr sagen, “lass uns noch einmal miteinander reden!”
Tja, es wird ein Abschiednehmen aus einer Beziehung, einer Wohnung erzählt. Dann kommt, nur weil es ein Anknüpfungspunkt aus guten alten Zeiten gibt, der Gedanke, es noch einmal zu versuchen. Das ist für mich etwas aus der Luft gegriffen. Da müsste mehr passieren - oder du müsstest mir mehr von seinen Gedanken, die ihn dazu führen, erzählen.

Lieber Gruß
bernadette

 

Hallo Bernadette,

habe versucht, Klarheit reinzubringen. Danke für die Anregung. Natürlich kann das Problem nicht so leicht gelöst werden, dieser Knoten aber, der ihn am klaren Denken hinderte, kann sich lösen.
Gruss, Manzara

 

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