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Ausgeschnitten
Letzte Nacht hat sich die Welt verändert. Ich weiß nicht, wodurch, aber heute Morgen ist alles anders.
Ich wache auf und bemerke, dass mein Zimmer in ein diffuses, grünes Licht getaucht ist. Irritiert verlasse ich mein warmes Bett und gehe zum Fenster, um die Vorhänge aufzuziehen. Draußen geht gerade die Sonne auf, aber der Himmel trägt nicht, wie sonst, Morgenröte, sondern Morgengrün. Da ist noch etwas anderes, was mich beunruhigt, ich kann es nur noch nicht genau einordnen. Kopfschüttelnd wende ich mich vom Fenster ab und gehe in die Küche, um die Kaffeemaschine zu starten, die ich, wie immer, gestern Abend schon vorbereitet habe. Ich warte auf das brodelnde Zischen des heißen Wassers, aber es passiert nichts. Der Stecker ist in der Steckdose, ob die Sicherung rausgeflogen ist? Auf dem Weg zum Sicherungskasten fällt mir ein, was ich vorhin am Fenster vermisste: Das Zwitschern der Vögel. Kein Ton dringt von draußen ins Haus, es ist geradezu gespenstisch still. Ich öffne den Sicherungskasten und finde alle Sicherungen unversehrt vor. Ratlos kehre ich in die Küche zurück und sehe mir die Kaffeemaschine genauer an. Wasser ist eingefüllt, der Filter enthält Filterpapier und weißes Kaffeepulver. Moment, wieso ist das Kaffeepulver weiß? Ich schnuppere daran und kann keinen Geruch feststellen.
Verstört gehe ich ins Bad, um meine Morgentoilette zu verrichten. Beim Blick in den Spiegel erstarre ich. Meine Haare sind über Nacht schlohweiß geworden, und meine Gesichtsfarbe ist von einem seltsamen hellblau. Ich öffne den Mund zu einem stummen Schrei und sehe eine Reihe schwarzer Zähne darin.
In Panik drehe ich mich um und renne aus dem Haus. Dass ich barfuss bin noch meinen Schlafanzug trage, ist mir egal. Ich will hier nur raus, und zwar sofort.
Die Eingangstür fällt hinter mir ins Schloss und ich stehe in meinem Garten. Dumpfe Stille senkt sich auf mich herab. Ungläubig betrachte ich den roten Rasen, die blauen Osterglocken und die schwarzen Krokusse. Ich versuche, zu gehen, aber meine Beine versagen mir den Dienst. Dafür beginnen die Fliesen des Gartenweges, sich langsam zu bewegen. Sie treiben gleichmäßig, sanft auf- und abschwingend vorwärts und scheinen sich ständig zu erneuern. So gelange ich sachte zur Straße. Es ist gespenstisch leer, außer mir ist kein Mensch zu sehen. Der Fußweg vibriert unter meinen Füßen und befördert mich zur Straße, wo ich vom Kopfsteinpflaster empfangen werde. Die einzelnen dicken, klobigen Steine bewegen sich rumpelnd, reiben aneinander und ab und zu quetschen sie mir meine Zehen ein, was schmerzhaft ist. Angst kriecht langsam meinen Nacken hoch und nimmt von mir Besitz. Mein Puls fängt an zu rasen, ich höre meinen Herzschlag in den Ohren. Leichenblass vor Entsetzen sehe ich am Straßenrand tote Vögel liegen, es müssen hunderte sein. Sie liegen alle auf dem Rücken und strecken ihre steifen Füßchen in den Himmel. Ich sehe nach oben. Über rotbelaubten Bäumen spannt sich ein orangefarbener Himmel. Was ist nur los, wieso sind die Farben alle falsch? Die Angst in mir wächst sich zu Panik aus. Ich versuche, stehen zu bleiben, aber das Kopfsteinpflaster mahlt unaufhörlich weiter und ich treibe auf eine große Straßenkreuzung zu. Auch hier sehe ich kein Anzeichen von Leben, im Gegenteil. Auf den Fußwegen liegen tote Hunde und Katzen, sie sehen so aus, als schliefen sie. Ich spüre, wie ich unendlich traurig werde und fange an zu frieren, obwohl kein Luftzug zu verspüren ist, kein Windhauch. Ich bewege mich auf eine große, weiße Fläche zu. Sie wirkt auf mich bedrohlich und beruhigend zugleich, ich kann mich nicht entscheiden. In mir toben Gefühle, die so intensiv sind, dass sie mir körperlich wehtun. Jetzt habe ich das blendende Weiß erreicht und die Straße katapultiert mich mitten hinein. Es ist, als sei ich schwerelos in einem weißen Nichts. Wenigstens kann ich jetzt meine Arme und meine Beine wieder bewegen, aber ich spüre nirgendwo einen Widerstand. Die Umrisse der Stadt, in der ich lebe, werden kleiner und kleiner und verschwinden schließlich ganz. Verzweifelt versuche ich, irgendwo ein Ende des weißen Nichts zu entdecken, aber es ist kein Ende zu sehen. Überall nur weißes, helles Nichts. Ich habe das Gefühl, ausgeschnitten zu sein. Ich habe den Kontakt zur Welt verloren, gebe mich auf und dem weißen Nichts hin.
Da höre ich in der Ferne ein Grollen. Es kommt näher, Sturm braust auf, Blitze zucken durch das Nichts und dann wirft sich das Unwetter über mich. Sekundenlang bekomme ich keine Luft mehr und ein brennender Schmerz fährt durch meinen Körper. Wie vom Sturm aufgepeitscht, bäumt sich mein Körper auf, um dann wieder in sich zusammenzusacken. Ich versuche, mich irgendwo am weißen Nichts festzuhalten, was mir nicht gelingt. Ich kann dieses Nichts nicht mehr ertragen und schließe meine Augen. Wieder durchzuckt mich ein gewaltiger Schmerz, lässt meinen Körper krampfartig zucken und jetzt höre ich ein leises, regelmäßiges Piepsen. Plötzlich empfinde ich körperlich Kontakt zu meiner Umgebung, spüre mich wieder. So, als sein ich nicht mehr ausgeschnitten, sondern wieder eingefügt, wie ein Puzzleteil. Ich öffne mühsam die Augen um sie gleich wieder vor Schmerz zu schließen, weil helles, gelbes Licht mich blendet. Eine Männerstimme sagt:“ Wir haben sie wieder."