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- 16.06.2005
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Aussortiert
Aussortiert
Es war ein Montagmorgen und Paul war noch ziehmlich müde. Seine Uhr sagte ihm, dass es
neun Uhr fünfundvierzig war. Der Schultag hatte gleich mit Physik begonnen, eine echte Zumutung,
nicht nur, weil es kompliziert ist - in der zehnten Klasse ist es ein echt harter Stoff -, sondern auch,
weil es öde wie kein anderes Fach ist. Es kostete ihn viel Mühe nicht einzudösen und abzutauchen
in das Schlummerland. Dann hatte er eine Freistunde, da er Ethikschüler ist und der Ethikunterricht
nachmittags am Donnerstag abgehalten wird. Er hatte in dem kleinen Hausaufgabenraum gesessen
und Gedichte geschrieben. Und nun, in der dritten und vierten Schulstunde hatten sie, die Jungen der
Klasse 10b und der 10d, Sport.
Sehr viele Schüler, fast alle aus der 10b und ein paar aus der 10d, Paul mit eingeschlossen,
hatten ihre Sportsachen nicht dabei, da der Lehrer einen Besuch eines Fitnesscenters geplant
hatte. Also entschied der Sportlehrer - er hatte anscheinend noch einiges zu erledigen -, dass
die Klassen selbstständig ein Fußballspiel austragen sollten. Nun standen alle Schüler, deren
Sportsachen vorhanden war, an der Außenlinie und hofften darauf, dass einer der vier
auserwählten Kapitäne sie in ihre Mannschaft wählen würde. Paul hatte sich auch zur Auswahl
bereit gestellt. Er ließ sich doch nicht daran hindern mitzuspielen, nur wegen nicht vorhandener
Sportkleidung.
Schülernamen wurden aufgerufen, die Mannschaften wurden immer größer und die Spieler, die
zur Auswahl standen, immer weniger. Fast alle waren schon einem Team zugeteilt worden und
Paul wurde immer nervöser. Was war los? Wieso wählte ihn keiner? Immer leerer wurde die
Außenlinie, bis nur noch zwei übrig waren, Paul und Tobi. Paul hätte niemals mit einer solchen
Situation gerechnet. Er war anscheinend genauso unerwünscht in einer Mannschaft wie Tobi, dem
Opfer der Klasse. Egal was für eine Aktion am laufen ist, Tobi kriegt immer was ab. Zum Beispiel
Sabberbatzen, die quer durch das Klassenzimmer fetzen und der Zielperson einen großen, ekligen
Fleck auf der Kleidung und eine Blamage vor allen Mitschülern hinterlassen. Schlimmer konnte es
doch gar nicht mehr kommen. Er war doch tatsächlich auf Tobi's Level gesunken. Aber warum? Er war
doch einigermaßen beliebt, bei den meisten zumindest. Wieso wollte ihn keiner?
Und dann kam die letzte Auswahl, bevor jemand übrig bleiben würde. Paul blickte auf die Schüler,
die bereits einen festen Platz besaßen. Sah ihre Blicke. Sah ein demütigendes Grinsen auf vielen
Fratzen. Dann kam der Aufruf. Entweder er oder Tobi. Ganz langsam kam der Name auf sie zugeflogen.
"Tobi", drang es in seine Ohren und zerdrückte ihn, wie einen Käfer unter einem Schuh. Er war also der
Letzte. Das Letzte. Der Rest, den niemand wollte. So wie es aussah, waren alle Teams auch schon
komplett. Es war kein Platz mehr für ihn frei. Es gibt nun mal keinen Platz für den Rest.
Leicht beleidigt und schwer gedemütigt machte er kehrt und setzte sich auf eine der langen Bänke,
auf denen auch die Anderen saßen, die nicht am Spiel teilnahmen. Er beobachtete lustlos das Spiel
und grübelte. Er dachte darüber nach, warum er nicht genommen wurde. War er vielleicht ein miserabler
Fußballspieler und ihm ist es noch nicht aufgefallen? Aber das konnte es doch nicht sein, schließlich
war er sportlich gebaut. Er fährt regelmäßig Skateboard, und das auch nicht schlecht. Lange Zeit suchte
er nach einem Grund, der ihn dafür hätte entschuldigen können, dass er nicht aufgenommen wurde und
jedesmal kam er zur selben Schlussfolgerung. Es war "das Aussortieren", das ihn in diese Lage gebracht
hatte. Man begutachtet alle zur Auswahl Stehenden und sortiert dann aus, ob der- oder diejenige
brauchbar ist, ob man geeignet ist. Es hatte den Anschein, als wäre er nicht geeignet, was ihn zuerst
sehr aufregte. 'Verfluchte Scheiße', dachte er sich, 'wieso achten alle mehr darauf, ob jemand Erfolg
bringen könnte, als auf den Menschen, den man sich in das Team wählt. Es ist doch bloß ein Spiel,
außerdem hätten sie mit mir viel mehr Spaß und Action.'
Doch nach einiger Zeit war ihm das dann auch egal. Er hatte dagesessen, zugeschaut und später
die Rolle des Schiedsrichters übernommen. Nur ein kleiner Ersatz dafür, dass er nicht mitspielen durfte,
aber immerhin etwas.
Er brachte noch den restlichen Schultag hinter sich und begab sich dann auf den Heimweg. Daheim
angekommen brauchte er zuerst was zwischen die Zähne. Seine Mutti hatte Nudeln gekocht, die er nun in
der Küche hinunterschlang. Dabei hörte er Radio und ließ sich den bisherigen Tag noch einmal durch den
Kopf gehen. Wie anstrengend Physik war. Was seine Mathelehrerin heute wieder für ausgefallene
Kleidung angezogen hatte. Was für komische Dinge sein Deutschlehrer gesagt hatte. Doch die Niederlage
bei der Zusammenstellung der Teams war schon längst wieder vergessen. Paul ist keiner von denen,
die nachtragend sind. Er regt sich ein wenig auf und dann, wenn er sich genug entladen hat, schleudert
er es einfach aus seinem Gedächtnis.
Der Teller war leer und der Hunger gestillt, trotzdem hätte er noch etwas vertragen können. Etwas leichtes.
Einer der Äpfel auf dem Tisch bot sich da gut an. Er packte sich den Nächstbesten und schlenderte rüber
zum Waschbecken. Als er den Apfel wusch, fiel ihm auf, dass eine weiche, pampige Stelle unter der
Schale verborgen war. Also ging er wieder zum Tisch, legte den Apfel zurück und nahm sich einen neuen
Apfel, den er wusch und anschließend im Wohnzimmer vor dem Fernseher verspeiste.
Der erste Apfel schien ihm wohl nicht geeignet.