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Auswärtsspiel

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05.07.2003
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Auswärtsspiel

Leise schließe ich die Wohnungstür hinter mir. Bis auf die funzelige Flurlampe ist es dunkel, nur im Wohnzimmer phosphoresziert der Fernsehschirm. Ich schlüpfe aus meinen Schuhen und pirsche mich in Richtung Lichtquelle. Ole sitzt auf der Sofakante, nach vorne gebeugt, als wäre er ein Sprinter vor dem Start, die Ellenbogen auf die Knie gepresst. Wie ein Scherenschnitt heben sich seine zerrauften Haare von dem erleuchteten Viereck ab.

Ich schenke dem Geschehen auf der Mattscheibe nur einen flüchtigen Blick. Wie Objekte auf einem Radarschirm ziehen die kleinen Figuren ihre unberechenbare Bahn über das grelle Grün, untermalt von der bellenden Staccatostimme des Kommentators. Ich warte ab, bis Ole die zur filigranen Aschensäule heruntergebrannte Zigarette ausgedrückt hat, dann klettere ich vorsichtig über die Rückenlehne und hocke mich hinter ihn.

Der späte Sommerabend ist drückend heiß. Ole hat das Hemd ausgezogen, seine Haut schimmert feucht. Einen Moment lang vertiefe ich mich in das Spiel der flachen und tiefen Schatten auf seinem kräftigen Rücken, dessen Anblick mir regelmäßig ein wohliges Kribbeln beschert. Dann setze ich meine Fingerspitzen auf seine Schulterblätter und beginne ihn sanft zu massieren.

Er zuckt leicht zusammen und japst einmal kurz, aber er dreht seinen Kopf nur halb, denn gerade eben sind zwei der Objekte auf dem Bildschirm kollidiert. Das amorphe Klangrauschen von der Tribüne schwillt an wie ein Orkan, der Kommentator zetert wie Goebbels vor dem Reichsparteitag.
„Ich bin’s nur“, hauche ich in Oles Ohr und küsse seinen Nacken, dann gleiten meine Daumen mit leichtem Druck seine Wirbelsäule entlang bis unter den Bund seines Slips und wieder nach oben.
„Was machst du denn da?“, murmelt er und verfolgt gebannt, wie der Schwarze Mann im TV seine farbigen Karten sortiert.
„Ich spiele ein bisschen“, wispere ich und lasse ihn ganz zart die Schärfe meiner Fingernägel spüren. „Soll ich aufhören?“
„Vielleicht warten wir bis zur Halbzeitpause...“ Oles Reibeisenstimme und die Gänsehaut unter meinen Händen sprechen eine andere Sprache. Ich ziehe mein T-Shirt hoch, schlinge die Arme um seine Brust und drücke meinen nackten Busen gegen seinen Rücken. Schließlich ist nicht nur der Ball rund. Ole atmet langgezogen ein. „Nein, mach weiter!“

Geduckt rutsche ich vom Sofa und tauche in das Dunkel zwischen seinen Beinen. Die Erregung auf dem Spielfeld, wo der gegnerische Mannschaftskapitän gerade die Freistoßposition einnimmt, hat ihn fühlbar angesteckt. Ich brauche mein ganzes Geschick, um seine Jeans aufzuknöpfen. Ich schiebe mir noch ein Kissen unter die Knie, dann widme ich mich meinem Werk der christlichen Nächstenliebe.

Das Tor in der 42. Spielminute nach Steilvorlage des Rechtsaußen erlebt Ole leider nur halb bewusst, denn just in diesem Moment kommt er selbst zum Schuss. Sein gutturales Stöhnen ist schwer zu verstehen, und doch glaube ich ein Echo des hysterischen „Toooor!“-Röhrens aus den Fernsehlautsprechern wahrzunehmen. Ein letztes Mal dribbele ich mit der Zunge über seinen Schwanz, dann angele ich mir die Bierflasche vom Tisch, nehme einen tiefen Schluck und schleiche auf allen Vieren ins Abseits zurück. Ole hängt in der Sofaecke, als wäre er gefoult worden. Ich mache mir keine Illusionen, dass das beseligte Lächeln auf seinem Gesicht mir zu verdanken ist und nicht der wiederholten Torszene, die gerade über die Mattscheibe flimmert.

Ich höre noch den Pfiff, mit dem der Schiri die erste Halbzeit beendet, dann ziehe ich die Wohnungstür hinter mir ins Schloss. Meine Freundin Mia wartet schon an der Theke unserer Stammkneipe. Wir prosten uns zu, während wir die Schlüsselbunde tauschen.
„Und?“, frage ich und senke die Stimme verschwörerisch. „Bei dir auch alles glatt gegangen?“ Mia nickt.
„Nur dass dein Matthias für einen Moment irritiert schien, als er meine kurzen Haare fühlte. Aber es hat ihm offenbar nicht wirklich zu denken gegeben. Na ja, David Beckham hat schließlich auch andauernd eine neue Frisur.“

Wir scheitern bei dem Versuch, ein zweites Getränk zu bestellen. Das gesamte Thekenpersonal schart sich mit den spärlichen männlichen Gästen um einen kleinen tragbaren Fernseher. Wir sehen uns ratlos an, zucken die Achseln und verlassen den heute ungastlichen Ort.

Trotz der schönen warmen Nacht ist die Straße menschenleer. Kein Auto fährt. Überall dringt der geisterhaft grünliche Widerschein der Bildschirme aus weit offenen Fenstern.
„Kommst du noch mal mit zu uns?“, frage ich Mia. „Ole wird dich sicher noch nicht vermissen.“
„Ole? Ich werde ihn in Zukunft anders nennen. Nicht mehr Ole, sondern...“ Mia tänzelt im Sambaschritt über den Bordstein und kickt mit der spielerischen Eleganz eines brasilianischen Favela-Talents eine Coladose über die Straße.
„Olé!“

 

Erst einmal vielen Dank für dein Lob, Webmaster!

Wenn ich zur sonstigen Diskussion auch mal was sagen darf....
Das "Wie du mir, so ich dir"-Motiv, das Goldene Dame ansprach, war mir auch nicht auf den ersten Blick eingängig. Ich würde es am ehesten erklären als wechselseitigen Treuebruch: Mann entthront seine Favoritin zugunsten eines Kerls, nämlich König Fußball. Daraufhin vergilt frau es ihm, indem sie ihre sexuelle Gunst temporär einem anderen widmet. Ist allerdings auch ein wenig weit hergeholt. Von der Autorinnen-Intention her wird ein Feldforschungsexperiment beschrieben, das wurde richtig erwähnt.

Natürlich braucht ein Versuch das zugehörige Objekt, da hast du schon Recht, Dion. Aber es kann lustvoll sein, Objekt zu sein, und Ole/Olé sagt schließlich ausdrücklich, dass die Prot weitermachen soll. Ich denke, wir müssen uns keine Sorgen um sein sexuelles Selbstbestimmungsrecht machen. ;)

Grüße an euch alle!
Chica

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Dion,

*Hüstel*, ich wollte eigentlich nur das amüsante Gefrozzel zwischen den Geschlechtern fortführen, welches ich aus der Geschichte Chicas interpretiert hatte. Sorry,
Off topic, ich sehe es ein ;)

 

Hallo Chica

An dieser Geschichte mag ich vor allem die Schilderung der Oberflächlichkeit, die im Allgemeinen und insbesondere zwischen den Akteuren herrscht. Keine Gefühle. Es ist wie wenn man bei der Auflösung des Fernsehkrimis geistesabwesend in die Chips-Tüte greift. Gratulation.

Gerade unter diesem Aspekt stört mich jedoch folgender Nebensatz ungemein:

"... dessen Anblick mir regelmäßig ein wohliges Kribbeln beschert."

Du gibst Dir während des gesamten Textes viel Mühe eine Atmosphäre der Abgelenktheit und mangelnden Wahrnehmungsfähigkeit aufzubauen. Bei der Geschichte geht es mir, als würde mir jemand für ein paar Sekunden ein seltsames Foto vor die Augen halten, ohne mir jedoch irgendwelche zusätzliche Informationen zu geben. Ich sehe zwar, doch verfüge ich über zu wenige Informationen, um zu verstehen. Mit dem obigen Nebensatz machst Du diese Wirkung irgendwie kaputt.

Ich gehe mal davon aus, dass Du den Nebensatz eingebaut hast, um den Leser auch ganz sicher auf die Falsche Fährte zu locken. Das "regelmässig" wird sofort gedeutet mit: "Ah, die beiden kennen sich. Gut weiter im Text." Das ist aber gar nicht nötig. Da Du dem Leser ja sonst auch keine Informationen über die Personen gibst, können gar keine definitiven Schlüsse gezogen werden und die Spannung bleibt auch ohne Ablenkungsmanöver ("A diversion") aufrechterhalten.

Im Weiteren ist dieser Nebensatz die einzige Stelle, in der wir etwas über die Gefühlswelt Deiner Protagonistin erfahren. Sie findet seinen Rücken toll.
Auch diese Andeutung finde ich überflüssig. Sie bringt der Geschichte kaum etwas, doch zerstört sie die oben geschilderte Atmosphäre zusätzlich. Wir erfahren, dass sie die Situation nicht nur erlebt, sondern sich dabei auch etwas denkt. Es ist nicht mehr nur eine eigenartige Szene, die dem Leser präsentiert wird, sondern plötzlich gibt eine der beiden Figuren etwas von sich Preis.
Dass die Protagonistin etwas von ihrem Innenleben preisgibt, könnte sehr spannend in die Geschichte eingebaut werden. Beispiel: Wie sie den fremdem Körper wahrnimmt. Die Leserin erfährt dann, dass irgendetwas nicht stimmt, sie erfährt jedoch noch nicht was.

Der folgende Punkt schiesst übers Ziel hinaus, aber ich möchte ihn dennoch anbringen. Vor allem auch deshalb, weil es mich interessiert, ob Du dir ein solches Ende vorstellen könntest.

Ich würde die Geschichte nicht einfach auflösen. Kneipenidee. Frauentausch. Danke Anke.
Das finde ich zu plump. Ich würde den Leser zwar einen Hinweis geben, was sein könnte, jedoch nichts Definitives.
Beispiel:
Sachte schliesst sie die Tür hinter sich. Der warme, harte Stahl in ihrer Hand bringt sie zurück in ihre Welt. Sie blickt auf den ihr so bekannten und gleichwohl fremden Schlüsselbund und versucht sich zu erinnern, wann und wo ihre beste Freundin ihn gekauft hat. Sie weiss, dass sie dabei war. Sie hat sie sie sogar ermutigt, diesen zu nehmen und nicht einen anderen. Sie wird ihn zurückgeben müssen.
Oder wahrscheinlich eher in Deinem Sinn: Der Tausch hat sich gelohnt.

Wie gesagt: das geht zu weit. Es ist Deine Geschichte. Ich würde nur gerne wissen, ob Du Dir auch einen solchen Schluss für die Geschichte vorstellen könntest.

 

Hallo Nicolas,

und herzlichen Dank für deine ausführliche, durchdachte Kritik und die partielle Anerkennung.

Ich denke, ich muss ein paar Worte sagen zur Entstehung von "Auswärtsspiel". Die Geschichte ist ein Schnellschuss, geschrieben am Tag und gepostet ganz kurz vor Anpfiff des Eröffnungsspiels der letztjährigen Fußball-EM. Meine Intention dahinter war eigentlich nur eine augenzwinkernde und burlesk übertriebene Anspielung auf die Faszination, die der Sport und die zugehörigen Events vor allem auf Männer ausüben. Dass du eine Porträt von emotionalen Beliebigkeit und Fühlarmut darin erkennst, schmeichelt mir, aber es war keine bewusste Absicht.

Den von dir zitierten Satz halte ich schon für wichtig. Ja, natürlich kennen sich die beiden, so wie sich befreundete Paare eben kennen. Aber wichtiger ist für mich darin die Aussage, dass sie ihr "Opfer" begehrenswert findet, eine sinnliche Frau ist, empfänglich für erotische Ausstrahlung und bereit, darauf zu reagieren völlig losgelöst von den vielzitierten "inneren Werten". Ohne diese Information käme mir das Geschilderte zu aufgesetzt vor.

Das Alternativ-Ende, das du vorschlägst, hat seinen Reiz. Der Schlüsselbund als Symbol der Beziehungsalternative. Aber der Tenor der Geschichte würde dadurch ein völlig anderer werden, sie würde introspektiver, symbolschwerer werden. Wäre das meine Absicht gewesen, hätte ich anders geschrieben.

Danke nochmals für eine Gedanken!
Chica

 

Hallo Chica,
wenn ich ein Fußballfan wäre, dann...ein Traum. Ich mein: Ein gutes Spiel, eine Flasche Bier, ein blow job und ne andere Frau...Paradies!!! :cool:
Nein, mal im Ernst. Ich finde deine Geschichte gelungen, auch wenn sie sicherlich vor Klischees fast ertrinkt, mal abgesehen, von dem selbstverständlichen Oralverkehr.
Aber ich habe gelacht!!! :D

Liebe Grüße...
morti

 

Siehst du, Morti, mehr wollte ich auch nicht. Zum Entstehungshintergrund der Geschichte siehe die Antwort von mir über deiner, sprich ich reklamiere ein wenig mildernde Umstände. :)

Danke fürs Lesen und dein Lob!

Grüße!
Chica

 

Kommentar 1:
Nein, Chica, das kann ich nun wirklich nicht gutheißen. Das ist sexistisch und männerverachtend. Ich hab den Link gleich unserem Männerbeauftragten geschickt. Abstoßend, wirklich widerlich.

Kommentar 2:
Vor einem nicht näher spezifizierten soziokulturellen Hintergrund schildert die Autorin eine scheinbar alltägliche Begebenheit. Ein Mann schaut Fußball und erfährt sexuelle Befriedigung durch Oralverkehr, ohne die Person des Partners auch nur zu identifizieren. Was im Kleid einer leichten, gar belanglosen Komödie daherkommt, entpuppt sich in Wirklichkeit als eine fundamentale Kritik an der Oberflächlichkeit des Seins in einer der Wertebeliebigkeit ausgesetzten Gesellschaft. Seit Houellebecq hat niemand mehr sexuelle Orientierungslosigkeit so scharfsinnig skizziert.

Kommentar 3:
Wie schön, dass man so eine geniale Story gar nicht kommentieren muss.

Gruß,
Labude

 

Tja, Labude...

Sex sells, wie wir alle im Grundkurs Gesellschaftswissenschaft gelernt haben, also lässt sich eine moralische Enzyklika am besten ins Gewand einer *beep*-Story kleiden. Vielleicht sollte ich mich dem gewesenen Kardinal Ratzinger als Ghostwriterin anbieten? ;)

Ganz herzlichen Dank für dieses positive Feedback!

Chica

 

DAMIT würde sein Pontifikat jedenfalls wirklich neue Akzente setzen ;)

 

hi chica,

so zum feierabend suche ich mir immer einszweidrei geschichten wahllos aus als beruhigungslektüre und heute war diese dabei......sie ist so witzig und unterhaltsam!!

ich - ein fanatischer fernsehfussballgucker - dachte beim ersten teil, naja, ich weiss nicht, wenn meine frau das mal versuchen würde, so begeistert wäre ich nicht oder doch? wie geht das wohl in der geschichte aus, fragte ich mich.

und dann kommt im zweiten teil noch diese pointe....glückwunsch zu dieser unterhaltsamen geschichte.

viele grüße

kardinal

dann lieferst dü im zweiten teil

 

Danke, Kardinal!
... und da sage noch einer, Männer verstünden keinen Spaß mit ihrem Allerheiligsten... ;-)

Chica

 

Hm... wieso habe ich die Geschichte nicht längst kommentiert. Gelesen hab ich sie schon vor eine Weile.

Erstmal: Hi Chica!

Viel Neues kann ich nicht sagen. Die meisten "Schwächen" deiner Geschichte hast du ja schon im ersten Posting angesprochen.
Gestört hat mich keine davon, weil ich die Geschichte wahnsinnig unterhaltsam fand. Obwohl ich beim zweiten Lesen die Pointe schon kannte, hat´s mir gut gefallen.

Tja, das war´s auch schon.

LG
Bella

 

...

Guten Tag allerseits,
bislang habe ich mich darauf beschränkt hier hin und wieder mitzulesen, hier aber nun mein erster Beitrag:

Hallo Chica,
Deine Geschichte hat mir von der Idee und der Umsetzung her gut gefallen und hebt Dich sicher vom Durchschnitt ab, obgleich einige kleine Dinge meine Lesefreude hemmten:

„der Kommentator zetert wie Goebbels vor dem Reichsparteitag.“

„dann widme ich mich meinem Werk der christlichen Nächstenliebe.“

Ich finde, Du gehst hier metaphorisch über alle Dörfer um Kraut und Rüben zu sammeln, wenn Du verstehst, was ich meine. Die Bilder würde ich mir ein wenig einheitlicher wünschen, da, nach meiner Ansicht, weder der Propagandaminister noch das Christentum in diese Geschichte passen.

„Ein letztes Mal dribbele ich mit der Zunge über seinen Schwanz„

Nachdem Du Dich so elegant durch die zweideutigen Fußballbilder gedribbelt hast, wäre diese abschließende Explizitheit doch gar nicht vonnöten gewesen, oder? Ich habe mir die Angelegenheit jedenfalls schon vorher genügend ausmalen können.

„„Ole? Ich werde ihn in Zukunft anders nennen. Nicht mehr Ole, sondern...“ Mia tänzelt im Sambaschritt über den Bordstein und kickt mit der spielerischen Eleganz eines brasilianischen Favela-Talents eine Coladose über die Straße.
„Olé!“„

Der Abpfiff hätte schon vor dieser billigen Pointe erfolgen müssen, so viele Spiele werden noch unverdient in der Nachspielzeit verloren.

Nochmals Gratulation zu dieser ausgezeichneten Geschichte!

DrWinter

 

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