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Autogrammjäger
Wie ein König blickte er hinunter auf das Gewusel der menschlichen Ameisen, die mit ihren Körpern die Gehwege und mit ihren Autos die Straßen füllten. Dicht an dicht bliesen sie ihren Atem in die drückend schwüle Abendluft, hasteten, schlenderten, lachten oder gingen mürrisch einher im Sog der Masse.
„Ich war mal ein König“, dachte Jan bitter.
In seinem Loft in L.A. hingen die Zeugnisse seiner einstigen Regentschaft über die europäischen Hitparaden an holzvertäfelten Wänden. Zwanzig goldene Schallplatten, zwei sogar in Platin. Und seinem royalen Status entsprechend hatte er einen Hofstaat um sich geschart, der ihm unentwegt einflüsterte, wie einzigartig er sei.
Wie nach einer verlorenen Schlacht waren viele seiner einstigen Getreuen abgesprungen und hatten sich dem Sieger angeschlossen. Ein erster Platz in den Charts zählte nun einmal mehr als Platz zwanzig.
Oder wie ihm sein ehemaliger Agent mit kalter Stimme nach der Vertragsauflösung erklärt hatte: „So läuft das nun mal, Jan.“
Ja, so lief das, ob mit oder ohne ihn, ob über oder unter ihm. Und einsam war’s an der Spitze. Niemand hätte ermessen können, wie einsam es war, wenn man all die Lakaien, Speichellecker und Opportunisten beiseite ließ.
Er sah auf die Uhr. Zwanzig nach acht. Sein Auftritt war gerade mal eine Stunde her und er war kein bisschen müde. Früher war er nach jedem Bühnenauftritt erledigt gewesen. Er konnte sich an ein Konzert in Paris erinnern, als er in der Garderobe eingepennt war. Aber damals hatten ihm seine Fans auch Zugabe um Zugabe herausgezogen, wie ein Kinderzauberer, der Kaninchen um Kaninchen aus dem Zylinder holte.
Und jetzt? Jetzt stand er vor dem Fenster einer Suite im achten Stock und befand sich in einem seltsamen Taumelzustand zwischen Lethargie und Einsamkeit. Nicht einmal für eine halbherzige Suizid-Phantasie langte es noch. Wobei der Gedanke daran ohnehin lächerlich war, denn von seiner fehlenden Lebensmüdigkeit abgesehen: Unsterblich wurden Ikonen der Musikgeschichte dann, wenn sie auf dem Höhepunkt ihres Schaffens verschieden, nicht, während sie erbarmungslos auf das Abstellgleis rangiert wurden.
Ja, früher, vor ein paar Jahren noch, wenn er unter den Bergen an Plüschtieren, die auf die Bühne geworfen worden waren, erstickt wäre, das wäre ein Abgang gewesen!
Müde lächelte er.
Das Klopfen registrierte er erst nach dem dritten Schlag so richtig. Wer konnte das denn sein? Er hatte nichts bestellt und klare Anweisung gegeben, nicht gestört zu werden. Verärgert schritt er Richtung Tür aus. Es pochte erneut, und er rief: „Ja, ich komme ja schon!“
Mit einem Rück öffnete er die Tür nach innen. Und legte die Stirn in Runzeln. Auf der Schwelle stand ein junges Mädchen, das ihn erwartungsvoll angrinste.
Schlagartig fiel jeglicher Ärger von ihm ab. Wenn da wenigstens sein neuer Manager gestanden hätte, oder ein Hotelbediensteter, den er anblaffen konnte. Aber das Mädchen sah so unschuldig aus, als wäre es direkt einem der Videos zu seinen übelsten Schmachtfetzen entstiegen. Sechzehn, allenfalls siebzehn Jahre alt, langes, toupiertes, kastanienbraunes Haar, sanfte, blaue Augen. Ihr Grinsen verbreiterte sich zu einem unwiderstehlichen Lächeln.
„Hallo“, sagte sie mit einer Selbstsicherheit, die ihn verblüffte.
„Ja, hallo“, erwiderte er steif und atmete scharf die abgestandene Luft vom Flur ein. „Kann ich was für dich tun?“
Die junge Frau schwieg einen Moment lang. Der Korridor war hell erleuchtet und zeichnete um ihren schlanken Körper herum eine flirrende Korona. Sie blickte an ihm vorbei in die Suite, ehe sie wieder hoch sah. „Ich bin Sabrina und seit langem ein Riesenfan von Ihnen!“
Jan nickte bedächtig und kratzte sich am linken Ohr, wie immer, wenn er ratlos war. Diesen Tick hatte er seit seiner Jugend.
„Na ja“, fuhr sie fort. „Jedenfalls hätte ich so gerne ein Autogramm von Ihnen! Das wäre echt das Größte für mich!“
Jan nickte erneut. Eine Autogrammjägerin. Wunderbar! Wozu hatte man Security-Leute angeheuert, wenn dann plötzlich ein zierliches, junges Mädchen vor seiner Tür stand, das nun nicht gerade den Eindruck machte, sich den Weg wie Jackie Chan freigeschlagen zu haben?
„Sicher“, murmelte er, obwohl er es hasste, Autogramme zu geben. Signierstunden für neue Alben waren der reinste Horror für ihn. Die meisten Leute laberten ihn bei dieser Gelegenheit voll, und er musste Interesse oder Anteilnahme heucheln, wenn sie ihm berichteten, mit wem sie bei „Still loving you“ hauteng getanzt oder an welchem Strand sie bei den Klängen zu „L is for lovers“ ihren ersten Kuss bekommen hatten. All das interessierte ihn exakt einen Scheißdreck. Aber natürlich musste er lächeln, sich bedanken und CDs signieren.
Er streckte die Hand aus, damit sie ihm das Buch, das sie mit verschränkten Armen an die Brust gepresst hielt, geben konnte.
Stattdessen sagte sie: „Könnte ich vielleicht auch ein paar Minuten lang mit Ihnen plaudern?“
Normalerweise regten ihn dermaßen nervige Fans auf. Doch er fühlte sich zu lethargisch, um ihr seinen Standpunkt höflich, aber unmissverständlich klarzumachen. Resignierend trat er einen Schritt zur Seite und verfolgte mit einer Mischung aus Amüsement und Faszination wie Sabrina unerschütterlich selbstbewusst eintrat.
Sie zog eine Parfüm-Wolke hinter sich her, die er beinahe sehen zu können glaubte. Er hasste Parfüme, aber dieses roch schier unwiderstehlich nach Vanille. Als er die Tür schloss, bedrückte ihn die Erinnerung an seine verstorbene Mutter, die ihm jeden Sonntag Vanillepudding gekocht hatte. Seit ihrem Tod hatte er nie wieder einen angerührt.
Sabrina schlenderte ins Wohnzimmer, stellte sich in die Mitte, breitete ihre Arme aus und drehte sich ein paar Mal um die eigene Achse. Dabei lachte sie und warf den Kopf in den Nacken.
Nachdem sie wieder zum Stillstand gekommen war, setzte er ein gekünsteltes Lächeln auf. Erst jetzt schien er so richtig zu realisieren, welchen Fehler er begangen hatte. Eine seiner eisernen Regeln, die er mit anderen Künstlern teilte, war seit jeher gewesen: Pflege niemals zu engen Kontakt mit Fans! Schon gar nicht mit jungen Frauen wie dieser, die es sich auf dem Diwan bequem machte und ihn erwartungsvoll musterte.
Das Letzte, das er brauchen konnte, war eine Skandalgeschichte. Sein Image war Teil seines Kapitals, und dazu gehörte es, nicht mit Fans herumzumachen. Schon gar nicht mit solchen, die noch nicht einmal volljährig waren. Das gäbe Schlagzeilen: „Eltern klagen an: Bekannter Popstar verführte unsere sechzehnjährige Tochter!“
Falls sie überhaupt schon so alt war. Am Ende war sie gar erst vierzehn oder fünfzehn. Ein kalter Schauder durchlief ihn. Warum hatte er Idiot sie überhaupt hineingelassen?
„Du, hör mal“, sagte er und zupfte wieder nervös am Ohr. „Vielleicht war das doch keine so gute Idee. Ich bin ehrlich gesagt müde und –“
„Sie brauchen keine Angst zu haben, dass ich überall herumerzähle, wir hätten es miteinander getrieben, oder so was in der Art“, unterbrach sie ihn.
Jan spürte, wie ihm das Blut in die Wangen schoss.
„Nein, das ist es nicht“, setzte er zu einer halbherzigen Erwiderung an. „Ich bin einfach nur ausgepowert, das verstehst du doch.“
Wieder lächelte sie ihn an, strahlend schön wie ein Sonnenaufgang an der Küste. Er konnte nicht umhin, auf ihre Beine zu starren, als sie sie übereinanderschlug. Es schmerzte beinahe, den Blick wieder abzuwenden. Langsam kam er sich wie ein alter Lüstling vor.
„Natürlich verstehe ich das. Die Trennung von Ihrer Verlobten, der Tod Ihrer Mutter, der Rauswurf bei der Plattenfirma …“
Sie legte eine bedeutungsschwangere Pause ein. „Und beim Konzert heute waren die Reihen halbleer.“
Erneut füllten sich seine Wangen mit Blut. Wie eine geistesgestörte Krankenschwester hatte sie die Finger mit akribischer Genauigkeit auf alle seine noch frischen Wunden gepresst.
„Du gehst jetzt besser“, sagte er schroff.
Ungerührt strich seine Besucherin den Rock gerade. „Ich dachte, Sie seien einsam? Haben Sie zumindest im ‚Stern’-Interview behauptet.“
Jan atmete tief durch und schloss dabei die Augen. „Ich bitte dich, geh jetzt! Mir ist gar nicht wohl zumute und ich habe Kopfschmerzen.“
Tatsächlich stand sie auf und ging Richtung Tür, wo er wie angenagelt verharrt hatte. Dann starrte sie ihm unverwandt in die Augen. „Wir sind uns nicht unähnlich. Ich kenne dieses Gefühl der Einsamkeit. Ich weiß, was es heißt, wenn niemand einen aufrichtig zu lieben scheint. Wie in Ihrem zweiten Hit: ‚Lonely Hearts’: ‚The eyes of darkness …’“
„Bitte nicht!“, stöhnte er und rieb sich die Schläfen. „Diese Scheiße zu singen macht mich krank. Da muss ich nicht auch noch daran erinnert werden.“
Hatte er das tatsächlich ausgesprochen oder nur gedacht? Ihr Lächeln ließ keinen Zweifel daran, dass er es gesagt hatte.
„Warum schreiben Sie dann nicht einfach Ihre Lieder selber?“
Das war ein Punkt, über den er auch schon oft gegrübelt hatte. Als Jugendlicher, bevor er auf die Musik-Empore gehoben worden war, hatte er dutzendweise Songs geschrieben.
„Weil ich keinen Erfolg mehr hätte“, gestand er.
Ihre blauen Augen blitzten wie Saphire auf. „Das wissen Sie doch gar nicht. Wenn wir ganz fest daran glauben, schaffen Sie das.“
Verwirrt blickte er sie an. „Wieso ‚wir’?“
Sie zuckte mit den Achseln. „Ohne Unterstützung erreicht man nichts im Leben.“
Dann beugte sie sich vor, und fast erschrocken fühlte er ihre feuchten Lippen an seiner Wange. Der Vanilleduft vernebelte ihm eine Sekunde lang die Sinne.
„Tun Sie es einfach“, sagte sie mit sanfter Stimme, die dennoch keinen Widerspruch zu dulden schien. „Ich weiß, dass Sie es schaffen werden! Und ich weiß, Sie werden Ihren Seelenpartner finden. Vielleicht nicht heute oder morgen, aber irgendwann ganz bestimmt. Vertrauen Sie mir.“
„Ein Traum“, dachte er verstört. „Das muss einer dieser Träume sein, die einem absolut real erscheinen, bis man aufwacht.“
Er nickte. Es war das Nicken eines Kindes, dem ein Erwachsener eine wichtige Lektion erteilt hatte. Merkwürdig: Falls das ein Traum war, wollte er nicht daraus erwachen. Der warme Kuss auf seiner Wange, Sabrinas Parfüm, ihre Augen, ihr Lächeln … einen Moment lang fühlte er sich berauscht.
Sie zerstörte diesen Moment der vollkommenen Zufriedenheit, indem sie sagte, sie werde gehen. Alles in ihm drängte danach, sie zum Bleiben zu bewegen. Aber er konnte nicht. Nicht jetzt, da er immer noch der Realität entrückt war.
Sie ging zur Tür, öffnete sie und drehte sich noch einmal um. „Tu es einfach, okay? Du wirst alles schaffen, was du dir vornimmst. Das verspreche ich dir.“
„Gut“, sagte er mit leiser Stimme, die er seiner trockenen Kehle mühsam entrungen hatte.
Ermutigend lächelte sie ihn an. Ihre Zähne waren nicht einfach weiß, sondern von einer fast transparenten Klarheit wie Kristall.
„Ach“, meinte sie plötzlich, schlug das Buch auf und streckte es ihm entgegen. „Ich wollte ja ein Autogramm. Deshalb war ich ja hier.“
Sie reichte ihm noch einen Kugelschreiber. Er schrieb seinen Namen auf die leere Seite. „Mit Widmung?“
Die Worte kamen ihm automatisch über die Lippen, als fügte er einer Bestellung im Restaurant ein „Bitte“ an.
Sabrina schüttelte den Kopf, sammelte Buch und Kugelschreiber ein und ging ohne ein einziges Abschiedswort.
Jan schritt auf den Korridor hinaus und blickte ihr hinterher, bis sie um die Ecke herum verschwunden war.
Lange stand er noch da, als hoffte er, sie würde es sich anders überlegen und zurückkommen. In seinem Verstand fühlte er eine Leichtigkeit, die ihn die Dinge mit anderen Augen sehen ließ.
Ja, warum sollte sie nicht recht behalten? Er würde es versuchen. Schluss mit diesem idiotischen Saubermann-Image und dem Nachträllern beknackter Lieder! Sabrinas Zuversicht schien ansteckend zu sein, denn er fühlte sie in seinem Körper vibrieren. Ja, er würde es machen. Und er würde es schaffen. Und seinen Seelenpartner finden, was immer sie damit gemeint haben mochte. Ein ehrliches Lächeln huschte über seine dünnen Lippen.
Gleich morgen würde er seinem neuen Manager kündigen und seine Karriere wie ein neuer Künstler durchstarten. Morgen? Nein – heute noch! Entschlossen ging er in die Wohnung zurück und schmiss die Tür hinter sich ins Schloss.
Einen Moment lang stutzte er: Wieso roch es plötzlich nach Schwefel?
Er verdrängte den unangenehmen Geruch, dachte an Sabrina, an ihre strahlenden, überzeugenden Augen, und schon roch es wieder nach Vanille.