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Ayam Cemani
Ayam Cemani
Ein Abschiedsbrief
Dies ist die Geschichte meiner Tode. Mein Tag neigt sich zur Nacht. Gänzlich zweifellos ist die Stunde gekommen. Ich bette mich zum Schlaf in Erwartung all der zuckrig süßen Träume deren gewisse Existenz mir versichert wurde. Setzt Schlaf nicht ein Aufwachen voraus, handelt es sich nicht um ein Intervall, gewissermaßen um eine Pause, wobei doch jedes Kind bereits den Ablauf einer Pause und die Zugehörigkeit des Endes von dieser kennt? So lass mich es doch ergründen, entschweben in den Abgrund der höchsten Tiefe des menschlichen Seins und Nichtseins zugleich, forschen im transzendenten Prozess der urwüchsigsten aller Schlachten, lass mich dich entkleiden, mein Leben, dir deine Maske entreißen, dein Lächeln dechiffrieren, an deinem Atem ersticken und am Glanz deiner Augen erblinden, auf das ich endlich sehend bin und umsichtig, allwissend und leer. Entrinne, mein Geist, doch lass Ewigkeit währen wo Bewunderung für einstige Wüchse deiner Schöpfung lebt. Verstumme, mein Leib, doch lass einen Finger auf der Waagschale des Thanatos ruhen.
So trat ich meinem Schöpfer entgegen. Er schloss den Vorhang mit bedacht und ließ mich ein in seine Werkstatt, sein Atelier. Obgleich ich gewiss nicht zum ersten Mal im Innern dieser Wände wandelte, so war dennoch die unbehagliche Sterilität, welche mir bei jedem Aufeinandertreffen die Stimme raubte, nicht vergangen. Die drastische Revision der Lichtverhältnisse ertränkte auch die letzten Knospen des Leichtsinns in einer schwarzen Welle aus systematischer Düsternis, wo früher Bilder in den prächtigsten Farben dem praxisorientierten und wenig prunkvollen Raum ein winziges Geständnis an ungewollter, gar grotesker Komik einräumten, erdrückten nun schwarze Tücher jegliche Lust an Humor. Tatsächlich war Gelb die einzig verbliebene Farbe. Die verstaubten Rahmen vergangener Gemälde vermochten es jedoch nicht den Raum zu erhellen, alleinige Lichtquelle war eine gänzlich blanke und Rahmenlose Leinwand in der Mitte der aufgestellten Staffelei, leicht erhoben auf einer Art Sockel und umgeben von vollendeten Portraits, wobei ein jedes das Antlitz des selbigen jungen Mannes zeigte und dennoch ein Unikat, eine Komposition des Meisters, unanfechtbar perfekt doch gescheitert am ungebildeten Auge der kritischen Masse an erblindeten Dummköpfen war, wirkte sie trotz ihre vollkommenen Leere wie ein Despot, erschaffen um über ihre Brüder zu richten. Ohne durch Wort oder Geste zur Begrüßung meine Existenz zu respektieren, schritt mein Schöpfer zielstrebig zum Mittelpunkt des Raumes und übertrug sein Genie mit dem Pinsel auf die Leinwand. Wenige Tage stand er so da und schuf sein Ebenbild in schwarz. Da ich diesen Ablauf schon mehrfach miterlebt hatte, spürte ich keine Angst als er mir die geladene Waffe an die Brust setzte, lediglich etwas Verwunderung, da er sonst stets einen Rahmen schuf, in welchem sich das Portrait zu bewegen wusste, was er diesmal allerdings sein ließ. „Bereit?“, fragte er wie üblich, wobei sein Finger bereits kaum sichtbar am Abzug zog, „Nein“, entgegnete ich wie üblich und vernahm weder Geräusch noch Schmerz als ich starb.
Und jetzt schau dich an. Du hattest immer den Wunsch dich in ein Auto zu setzen, die Augen zu schließen, das Lenkrad zu drehen und Vollgas zu geben. Du wolltest einfach weg von hier, ans Meer, und schließlich ist es egal in welche Richtung man fährt wenn man ans Meer will, oder? Doch auch der lebendigste Traum ist nicht lebendig bis er gelebt wird und längst nicht jeder Traum wurde geträumt um gelebt zu werden. Du warst in Woodstock nicht dabei. Natürlich kannst du dir nun einreden dass du 1969 schlicht noch nicht geboren warst, keine Möglichkeit hattest und dieser Vorwurf deshalb absolut unfair ist. Aber wärst du dabei gewesen, hättest du die Chance dazu gehabt? Du hast noch nie auf LSD zu Pink Floyd getanzt. Du hast noch nie demonstriert, gegen Krieg, gegen Ungerechtigkeit, für Rechte. Du bist ein freier Mensch. Bist du ein freier Mensch? Du warst noch nie außerhalb des europäischen Festlandes. Du hast die verregnete Nachtluft nie als Tanzfläche genutzt, stets hast du ein Dach geortet, eine Kapuze schützend auf dein Haupt geworfen, als wäre Regen etwas ganz und gar unnatürliches, etwas, vor dem es Schutz zu suchen gilt. Du hast noch nie gekämpft, dich durchgebissen, deinen Weg bestritten, frei von Selbstzweifeln. Wann hast du das letzte Mal gelacht? So richtig gelacht, ohne Skepsis, ohne Angst ob andere, oder du selbst, dein Lachen schön finden? Wie willst du dich durchbeißen wenn du nicht einmal beim Lachen deine Zähne zeigen kannst. Du wolltest normal sein, doch auch ungewöhnlich, als Außenseiter anerkannt und wertgeschätzt. Die Welt ist schon verrückt genug, du musst sie nicht verrückter machen. Und jetzt stehst du vor mir, wie so oft, doch ich kenne dich nicht. Du machst Fotos von mir, löschst diese binnen weniger Sekunden des Betrachtens mit von Trauer und Schmerz verzerrtem Gesicht und wiederholst das, unzählige Male, dann versinkst du im Braun meiner Augen, ankerst auf dem Grund, suchst nach etwas, irgendetwas, das dir vertraut vorkommt, findest nichts, resignierst, gibst dich auf, gibst mich auf, gibst uns auf, dann, urplötzlich, bewegst du deine Lippen doch mein Raum bleibt stumm, du nimmst allen Mut zusammen, nährst dich vom letzten bisschen Hass und fragst: Wer bist du und was machst du in meinem Spiegel?
Wer ich bin? Ein Portrait ohne Rahmen, so wie ich geschaffen wurde. Schlaflos, scheinbar als einziger Bewohner meiner spießbürgerlichen Gemeinde Freitagnachts. Mich und mein Zimmer. Nur uns beide scheint es zu geben. Ohne den Blickkontakt mit meinem Spiegelbild zu unterbrechen bewege ich meinen rechten Arm umständlich hinter meinen Rücken um im Chaos auf meinem Schreibtisch nach Zigarettenpackung und Feuerzeug zu fischen. Wenige Sekunden später mischt sich Rauch in die staubige Luft. Mich stört das nicht. Mich stören die vielen leeren Plastikflaschen nicht, die Schmutzwäsche oder das benutzte Geschirr. Ich räume auf wenn ich Besuch bekomme, aber den bekomme ich nie. Mit kritischen Blicken beäuge ich mich selbst, wie ich da sitze, in meinem verhassten Zimmer und rauche. Mein Handy zeigt Mitternacht. Es ist auf lautlos, es ist immer auf stumm gestellt, damit ich es nicht höre, wenn niemand mich anruft. Ohne meinen Blick vom mit Fingerabdrücken verwischten Spiegelbild abzuwenden drücke ich die Zigarette im improvisierten Aschenbecher, einer Untertasse, aus. Fremdgesteuert erhebe ich mich. Widerwillen greift meine Hand nach dem Spiegel und streichelt die Hand dieses Mannes. Kaltes Spiegelglas ernüchtert meine Euphorie. Kurzzeitig herrschte die Erwartung von Hautkontakt über meine Emotionen. „Schon wieder?“, flüstert der Mann im Spiegel, ein mokantes Lächeln aufgesetzt und betrachtet den frischen Fingerabdruck, den frischen Beweis für die alles übermannende Neugier nach der Beschaffenheit von Menschenhaut.
Ich lebe jetzt am Kap Valdivia. Hier sind alle Menschen gleich. Meine Biwakschachtel steht etwas Abseits der Küste, im Schatten des Leuchtturms ohne Lampe. Die meiste Zeit lese ich. Hesse, Böll, Hemingway und selbstverständlich Defoe. Manchmal sitze ich auch einfach nur da, mit dem Blick Richtung Süden und warte, warte auf Schiffe. Hier traue ich mich zu singen, zu tanzen und zu lachen, denn nur hier sind alle Menschen gleich.
Ich bin 20 Jahre alt und der festen Überzeugung alles schon gesehen, gehört und gespürt zu haben.
Menschen lügen. Sie lügen sich selbst an. Es gibt keine Ewigkeit, alles endet, wenigstens die moderne Sprache hat das schon begriffen. Was einst schlicht eine „Ehe“ zwischen zwei „Partnern“ war ist heute eine „Beziehung“ zwischen zwei, oder mehreren, „Lebensabschnittsgefährten“. Geheiratet wird nicht mehr, wenn dann nur mit Vertrag und der festen Bereitschaft zu Polygamie und Partnertausch. Wer sich verliebt, in jemand anderen als sich selbst, ist in der Welt von heute entweder ein Teenager oder ein Künstler. Innerlich zerrissen von solchen Gedanken erinnere ich mich dann an uns, wie wir ein Schwert aus Liebe schmiedeten, bloß um diese zu zerschlagen, wie wir sie emsig auflasen, die Bruchstücke, um sie zu schmelzen, von neuem zu schmieden, so oft, bis die einst feine Klinge spröde war, rissig und alt und ein einziger Hammerschlag dieses Herz, welchem der Hammer einst sein Klopfen schenkte, zerbrach. Dann habe ich es mir geschworen. Ich werde nie wieder Liebe schmieden. Nie wieder Hass empfinden.
Im aller wärmsten Mondschein saßen wir auf der Straße im Kreis, bei Filterzigaretten und einem billigen Spätburgunder, ein Hauch von Lagerfeuerduft lag stillschweigend und tief in der Nachtluft, welche an jenem Abend deinen Blick als Gravur trug. Unser Tag. Ein Moment der Übereinstimmung, ein Blitz aus deinen Augen, ein Feuer im Ofen, bereit um zu schmieden.
Mein Hass auf die Welt, auf Beziehungen und Liebe war kindisch. Sicher, es gab oberflächliche Menschen, aber warum sollte mich das stören, solange ich wusste, dass du keiner von ihnen warst? Du warst wie ich. Irgendwie anders, irgendwie schwarz. Unsere Gesellschaft ist nichts anderes als ein Maskenball, ein Maskenball auf welchem nur wir beide Tanzverbot erhalten, weil wir tanzen. Auf dem es verboten ist ohne Maske zu erscheinen. Tausend gleichgemachte Idioten aus ein und der selben Schablone gestanzt bewegen sich hier gleichgeschaltet zum Takt der Geräusche welche von einer, für uns beide untergeordneten, Obrigkeit als Musik deklariert wurden und nennen das tanzen, sie gehen sogar noch weiter und vergnügen sich an Phrasen wie „tanzen als ob keiner zusieht“, stets darauf achtend von möglichst jedem dabei betrachtet zu werden. Doch wir nicht, denn wir sind anders, wir sind gleich. Unter deiner schwarzen Maske bist du wie ich.
Für dich war das immer eine Farbe. Was du auf deine Oberfläche projiziert hast würden manche Menschen als Missverständnis bezeichnen, ich nenne es ganz einfach eine Lüge. Du warst nie schwarz, du warst immer nur modisch. Ich frage mich nicht mehr was du gesehen hast, jedes mal als du mich sahst. Keine Seelenverwandtschaft, kein Schicksal, bloß mich. Und das ist nicht viel. Ich sah alles schwarz durch meine rosa-rote Brille und du sahst alles schwarz durch deine Hipsterbrille mit dicken schwarzen Rändern und Fensterglas. Meine monochrome Welt verstehst du nicht. Hier gibt es keine Farben. Hier gibt es Schmerzen. Hier gibt es Alkohol, Szenedrogen, Zigaretten und Glücksspiel, Kafka Romane und Poe Gedichte, Antidepressiva und Schlaftabletten, anonyme Internetkontakte und Masturbation. Hier gibt es keine anderen Menschen. Hier gibt es Isolation, ein Leben als Eremit in der Großstadt, als abgeschminkter Clown in einer Maskenwelt. Die Gesellschaft will mich lachen sehen. Die Gesellschaft will dass ich sie zum Lachen bringe. Ich will einen Kasten Bier trinken, mich Rückwärts auf das Geländer einer Autobahnbrücke stellen, auf das unverkennbare Geräusch eines Lastwagens warten und mich abstoßen. Würdest du mich an der Hand nehmen und mit mir springen, gemeinsam in die ersehnten Arme des Todes? Nein, denn für dich war das immer eine Farbe. Und das ist in Ordnung. Das ist okay für mich. Aber bitte, frage mich einfach niemals wieder, ob ich nicht die Schönheit in schwarz sehe. Denn irgendwann legst du deine schwarzen Federn ab und wirst ein Mensch, während ich solang ich denken kann schwarz bin, und eben solang schwarz bleiben werde, denn für mich war das immer eine Strafe. Und bitte lüge mich nie wieder an, sage nie wieder deine Seele wäre schwarz. Eine schwarze Seele verstehst du nicht. In mir gibt es keine Farbe. Da gibt es Selbstentfremdung, Einsamkeit und Hass. Alles hier ist schwarz, bis auf den Schuss, der ist aus Gold. Gescheitert an den Ansprüchen einer urbanen Kultur stehe ich erneut im Atelier, von mir umgeben, und hasse jedes der Bilder. Mein erneutes Misslingen im Verkauf des Portraits steht mir ins Gesicht geschrieben, mein Schöpfer jedoch widmet mir keinen Blick, legt sich eine Schürze um, malt mich erneut, erschießt mich und öffnet den Vorhang mit Bedacht.