Was ist neu

Bäume und Bücher

Mitglied
Beitritt
10.03.2008
Beiträge
8

Bäume und Bücher

Jacob stieg aus dem Bus, der in der Parallelstraße zu seinem Elternhaus hielt. Er schulterte die schwere Reisetasche und sah auf die Uhr. Es war zwei Uhr mittags und er war erst um vier mit seinen Eltern zum Kaffeetrinken verabredet. Es war Heilig Abend und in den Straßen waren nur wenige Passanten unterwegs. Jacob überlegte, ob er noch einen alten Freund besuchen sollte. Er wohnte in der gleichen Straße, wo auch seine Eltern wohnten. Marcus und er kannten sich seit der Grundschule und waren bis zum Abitur eng befreundet gewesen.
Es war kalt geworden und in den glatten, zugefrorenen Pfützen spiegelte sich das gelbe Licht der Wintersonne. Jacob erreichte sein Elternhaus, ging über die gepflasterte Einfahrt, schloss die Tür auf und stellte die Tasche in den Flur. Er mochte den Geruch der Wohnung. Jacob ging in die Küche und fand auf dem großen, hellen Tisch einen Zettel, den seine Mutter geschrieben hatte. Seine Eltern waren auf einem Spaziergang und würden erst gegen vier Uhr zurück sein.
Jacob hatte seine Jacke noch nicht ausgezogen. Er aß im Stehen einen der Äpfel, die im Herbst gepflückt worden waren, und die sein Vater im Keller lagerte. Es waren gute, säuerliche Äpfel von den Bäumen im Garten und als Jacob aus dem Küchenfenster sah, stellte er fest, dass die Bäume groß geworden waren. Jetzt, in der trockenen Kälte und ohne ihre Blätter, sahen sie grau und zerbrechlich aus.
Jacob verließ die Wohnung um selbst einen Spaziergang zu machen, bog nach links ab und da sah er in der Ferne Marcus. Beide winkten gleichzeitig, liefen aufeinander zu und gaben sich die Hand.
„Jacob, wie geht’s?“
„Gut, danke. Und dir?“
„Auch gut, danke. Ist ja echt Zufall, dass wir uns treffen, oder?“
„Stimmt. Sollen wir ein Stück laufen und nachsehen, ob das Dorf immer noch so schön bürgerlich ist?“
Marcus lachte. Er und Jacob hatten sich immer über die Spießigkeit im Dorf lustig gemacht, bevor sie weggegangen waren. Ihnen schien es immer so, als ob in dieser Gegend nur Beamte und Ärzte wohnten, die mit Altbauwohnungen und knorrigen Ahornbäumen in den Straßen zufrieden waren und nie etwas anderes als das Dorf kennen lernen würden.
„Das sollten wir tun. Ich wette, nichts hat sich verändert. Vielleicht ist die Kastanie auf!“ erwiderte Marcus.
Jetzt lachte Jacob. „Gute Idee, lass uns gehen. Ich könnte ein Bier vertragen. Das ist zwar nicht gerade weihnachtlich, aber so oft sehen wir uns ja nicht. Außerdem war ich schon ewig nicht mehr in dem Laden.“
Marcus und Jacob liefen die Straße entlang, auf der sie als Kinder häufig gespielt hatten. Die Ahornbäume auf beiden Seiten waren groß und ihre Zweige berührten sich über der Straße. Wie Spinnennetze hingen sie mehrere Meter über dem Asphalt.
Es war sehr kalt und Jacob putzte sich die Nase. Die Luft wurde zu dichten Wolken, wenn er ausatmete. Die beiden bogen links in die kleine Einkaufsstraße ab. Marcus grinste und zeigte auf die Weihnachtsbeleuchtung in den Bäumen. Es waren Lichtschläuche, die wie rote Schlangen in den kahlen Ästen lagen.
„Das sieht wie immer ungewollt komisch aus. Das ist also schon mal wie immer, “ sagte Marcus.
Jacob fühlte sich gut, er mochte die Straße und die kleinen Läden. „Die Geschäfte sind auch die gleichen. Der Fahrradladen ist auch noch da. Weißt du, ob der alte Raschewski den noch betreibt? Der muss mittlerweile achtzig sein, “ sagte er.
„Ich denke, schon“, murmelte Marcus, „Dieser fiese Kerl. Ich habe mein Praktikum in der neunten Klasse bei ihm gemacht. Er ist bei jeder Kleinigkeit ausgeflippt, und hat Werkzeuge an die Wände geschmissen.“
„Ich weiß, ich habe das mal beobachtet, als ich dort etwas kaufen wollte.“
Sie kamen zur Kastanie. Die Kneipe war geöffnet und Marcus hielt die Tür auf. Jacob stand einen Augenblick alleine im Eingang und schaute sich um. Er kannte den Wirt nicht, der gerade Bier zapfte und durch seine Lesebrille auf das Glas blickte. Er hatte eine glänzende Glatze und an den Seiten weißes Haar. An der Theke aus dunklem Eichenholz saßen zwei Rentner und vor ihnen standen leere Schnapsgläser und Bier. Sie drehten sich nicht um und blickten auf die Gläser im Regal hinter dem Wirt. An einem Tisch saß eine Frau, die ungefähr fünfzig Jahre alt sein musste. Die anderen Tische waren frei und das Holz glänzte. Neben der alten Dartscheibe klebten Bilder von Fußballspielern und einige Poster von Kunstausstellungen.
„Willst du noch lange so stehen bleiben? Dann gehe ich wieder.“
Jacob drehte sich um und Marcus lächelte ihn freundlich an und hob dabei eine Augenbraue.
„Oh, Entschuldigung, sollen wir uns an die Theke setzen?“
„Nein, lass uns den Tisch hinten in der Ecke nehmen“, schlug Marcus vor und Jacob nickte.
Sie zogen ihre Jacken aus, hängten sie auf die Stuhllehnen und setzten sich. Der Wirt rief den beiden von der Theke aus zu. „Tag zusammen, was wollt ihr haben? Plätzchen oder Lebkuchen habe ich nicht.“ Er grinste.
„Wir hätten gerne zwei Pils“, erwiderte Marcus.
„Kommt sofort, wollt ihr sonst noch was? Ich habe noch Erbsensuppe da.“
Marcus sah Jacob fragend an und leckte sich ironisch mit der Zunge die Lippen. Jacob schüttelte mit dem Kopf. „Für mich nicht.“
„Nein danke, nur die zwei Pils.“
„Vernünftig, Jungs, das ist anständig von euch, dann könnt ihr mit mir einen trinken.“ Die Frau am Tisch schaute zu Marcus und Jacob herüber und hustete, während sie sprach. „Weihnachten ist doch zu nichts zu gebrauchen, oder? Seid ihr von hier?“
„Wir sind hier aufgewachsen“, erklärte Jacob.
„Scheißort zum Großwerden. Ihr wohnt bestimmt nicht hier, oder? Nur zum Besuch, hab ich recht?“ Sie hustete erneut heftig.
„Stimmt, einmal im Jahr sind wir hier. Immer passend zum Gänsebraten, “ sagte Marcus und versuchte, die Frau zum Lachen zu bringen. Sie schaute verächtlich zu ihm herüber und blickte dann Jacob an. „Erzählt der immer so einen Scheiß?“
Jacob lächelte. „Nein, er wollte nur nett sein.“
„Er soll bloß seine Klappe halten.“
Die Frau stürzte den Schnaps herunter, der vor ihr stand, und zog ihren Mantel an. Sie ging zur Theke und schüttete wortlos Münzen aus ihrer Geldbörse vor den Wirt. Einige rollten herunter und fielen in das Spülbecken. Die beiden Rentner sahen immer noch auf das Regal hinter der Theke und schwiegen.
Mit einem „Blupp!“ imitierte Marcus die Münzen und grinste. Jacob schaute zur Theke. Der Wirt schwieg und verabschiedete die Frau.
„Tschüss, Marie.“
Die Frau erwiderte die Verabschiedung nicht. Sie schwankte etwas beim Gehen, öffnete die Tür und verschwand. Kalte Luft zog in den Raum.
„Was war das denn? Wieviel Frust muss man haben?“ Marcus steckte sich eine Zigarette an und schüttelte den Kopf.
„Das war die Pech-Marie. Sprecht nicht so abfällig über sie.“ Der Wirt hatte das Bier fertig gezapft und stellte es zwischen Marcus und Jacob auf zwei Bierdeckel. Er zog einen Bleistift hinter seinem Ohr hervor und machte zwei Striche auf einen Deckel.
„Danke“, sagte Marcus. „Wieso nennen Sie sie Pech- Marie?“
Der Wirt legte seine Hände auf eine Stuhllehne, beugte sich ein Stück nach vorne und blickte Marcus und Jacob viel sagend über die Lesebrille hinweg an.
„Kennt ihr die Geschichte nicht?“
„Nein.“
„Im vergangenen Frühjahr hat sich ihr Bruder das Leben genommen.“ Marcus schaute den Wirt skeptisch an und war unzufrieden mit seiner Erklärung. „Ich will ja nicht respektlos sein, aber das ist doch kein Grund, hier so aufzutreten.“
„In ihrem Fall schon, wisst ihr, sie hat alles verloren. Sie hatte sonst niemanden.“
„Deswegen...Pech-Marie!“ Marcus malte mit seinen Fingern Anführungszeichen in die Luft.
„Wollt ihr die ganze Geschichte hören?“ fragte der Wirt, der in redseliger Laune zu sein schien.
Jacob nickte und Marcus sagte: „Wenn Sie Zeit haben.“
Der Wirt setzte sich mit schnellen Bewegungen auf den Stuhl, auf den er sich zuvor aufgestützt hatte.
„Kennt ihr den Friedhof am Ende der Straße?“
„Ja, kennen wir. Um ehrlich zu sein, haben wir da immer Verstecken gespielt, als wir klein waren, “ antwortete Jacob. Der Wirt verzog sein Gesicht, aber man sah ihm an, dass er sich auf die Geschichte der Frau konzentrierte.
„Der Friedhof spielt eine tragische Rolle in der Geschichte. Aber ich will von vorne anfangen. Der Bruder von Marie hieß Friedrich. Er hatte eine Frau kennengelernt, die auch von hier stammt und Elisabeth hieß. Die beiden waren verheiratet und hatten einen Buchladen, der gegenüber dem Friedhof lag. Das Merkwürdige war, dass sie es dort überhaupt aushalten konnten. Auf dem Friedhof lag der Vater von Elisabeth begraben. Und der war Assistent von dem Auschwitz- Arzt Mengele. Wißt ihr davon?“
Jacob erinnerte sich. Seine Eltern hatten ihm davon am Telefon erzählt. Damals waren alle empört gewesen und einige Bewohner hatten den Buchladen boykottiert. „Ja, das weiß ich noch ungefähr, ich habe davon gehört – hieß die Frau Elisabeth Weiß?“
„Ja, genau das ist die Frau. Jedenfalls waren wir hier immer erstaunt, dass die beiden es in dem Laden aushielten mit dem ganzen Getratsche im Dorf und dem Grab von Elisabeths Vater direkt vor der Nase.“
Jacob trank von seinem Bier. Marcus hatte seins fast geleert und sah dem Wirt in die Augen, die er zusammenkniff, während er sich erinnerte. Ab und zu schaute er nach oben, als ob die Geschichte an der Wand geschrieben stand.
„Elisabeth hielt den Tratsch nicht so gut aus wie ihr Mann. Friedrich blieb sehr ruhig während der gesamten Zeit und der kleine Laden warf wohl genug Geld ab. Nach ein paar Monaten hatte sich die Lage beruhigt und auch die Sturköpfe im Dorf hatten andere Themen für sich entdeckt. Den meisten war es ohnehin egal gewesen.
Aber Elisabeth war völlig aufgelöst. Sie bekam Depressionen und saß nur noch im Lager des Ladens und regelte die Finanzen. Sie bestellte Bücher, recherchierte und packte Lieferungen aus, die an die Hintertür geliefert wurden. Sie hatte Tausende von Büchern in den Händen, ohne auch nur ein einziges davon selbst zu verkaufen. Merkwürdig, was?“
Marcus wackelte mit seinem leeren Glas, Jacob hatte ebenfalls sein Bier ausgetrunken. Der Wirt stand wortlos auf und ging zur Theke. Er kam mit einer Flasche Kirschwasser und drei Gläsern zurück und lächelte gönnerhaft. Er füllte sie und die drei tranken bedächtig. Jacob fühlte den fruchtigen Schnaps in seinem Mund und ein warmes Gefühl im Magen.
„Der tut gut“, sagte Marcus zufrieden.
„Der ist von mir, den verkaufe ich nicht. Aber es ist ja Heilig Abend. Aber zurück zu der Geschichte: Elisabeth Weiß saß oft bis nach Ladenschluss im Büro und machte die Abrechnungen. Wenn nichts mehr zu tun war, zog sie die Gardinen in den Ladenfenstern zu und sortierte mit einer Taschenlampe die Bücher in den Regalen. Sie zögerte die Zeit heraus, um auf dem Weg nach Hause niemandem begegnen zu müssen, obwohl ihre Wohnung nur wenige Meter entfernt lag. Dieses Verhalten änderte sich auch nicht. Viele sagen, dass Sie mit Friedrich kein Wort wechselte. Die beiden bekamen aber trotzdem zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen. Die sind jetzt zwei und drei Jahre alt und wohnen nicht mehr hier.“
„Wieso nicht?“ Marcus war ungeduldig und rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Er steckte sich eine neue Zigarette an.
„Jetzt wartet ab... Das Erstaunliche war, dass Elisabeth eine Affäre hatte und bis heute weiß auch niemand, wer eigentlich der Vater der Kinder ist. Und den Mann, mit dem Elisabeth diese Affäre hatte, kennt auch niemand. Die beiden trafen sich anscheinend immer an der Hintertür des Ladens und saßen dann im Büro. Dort war auch eine Matratze, die Friedrich dort hineingelegt hatte, damit sich seine Frau darauf ausruhen konnte. Friedrich war die ganze Zeit über sehr bemüht gewesen und er blieb, wie gesagt, sehr ruhig und zeigte viel Verständnis für seine Frau. Das war sehr beeindruckend, denn er erzählte mir einmal, er würde gerne mal alleine verreisen, nach Afrika oder woanders hin. Er war oft hier in der Kneipe und reagierte sehr gefasst auf Anspielungen von irgendwelchen Betrunkenen, die sich lustig über Elisabeth machten, weil sie wie eine Einsiedlerin lebte. Er sagte dann nichts und man merkte, dass ihm das nichts ausmachte. Er liebte seine Frau sehr. Und das war wahrscheinlich auch der Grund, weshalb alles so endete.“
Der Wirt schüttete allen dreien Kirschwasser nach und wischte seine Lesebrille mit einem blauen Tuch ab, das in seiner Brusttasche steckte. Jacob bemerkte die Ringe auf dem Tisch, die die Gläser hinterließen.
„Was ist passiert?“ fragte Jacob.
„Die Affäre mit dem unbekannten Mann wurde von niemandem bemerkt. Keiner wusste es, obwohl es lange Zeit so gegangen sein muss. Eine Woche nach Neujahr dieses Jahres war Elisabeth wieder mit ihrem Liebhaber im Büro. Und da kam Friedrichs Schwester in den Laden. Die Frau, die vor einer halben Stunde noch hier war, Marie – sie wollte ein Buch abholen, das ihr Bruder für sie zurückgelegt hatte. Die Tür stand wohl offen und so trat sie ein ohne zu klopfen. Als sie die beiden sah, war sie völlig fassungslos. Die beiden lagen nackt auf der Matratze und tranken Wein. Sie rannte aus dem Laden und zur Wohnung von Friedrich und Elisabeth. Sie erzählte es ihrem Bruder, der daraufhin völlig durchdrehte. Er nahm die ganze Wohnung auseinander, während die Kinder im Bett lagen, sie müssen das alles mitbekommen haben. Vielleicht ist es ihr Glück, dass sie noch so klein waren.“
Der Wirt goss wieder Kirschwasser in die Gläser.
„Manchmal glaube ich, diese Geschichte ist viel zu unwirklich, um sie für wahr zu halten“, sagte er, nachdem er sein Kirschwasser getrunken hatte.
„Bis jetzt kann ich das alles nachvollziehen, zumindest die Reaktion von Elisabeths Mann Friedrich“, sagte Marcus. Der Wirt sah ihn nicht an, sondern schaute wieder mit zusammengekniffenen Augen an die Wand.
„Ich glaube, das kann jeder. Aber dann ist die Katastrophe passiert. Als Elisabeth nach Hause kam, war Marie schon wieder gegangen und hatte die beiden Kinder mitgenommen, damit sich ihr Bruder mit seiner Frau ungestört über die Sache unterhalten konnte. Aber es gab keine Unterhaltung oder einen Streit oder etwas Ähnliches. Friedrich saß in der Küche, als Elisabeth in die Wohnung kam. Er hatte eine Flasche Wein aufgemacht. Keiner weiß, ob das Ganze geplant war. Seine Frau kam in die Küche und dann schlug Friedrich ihr mit der vollen Weinflasche ins Gesicht. Auf dem Boden muss sich eine Riesenpfütze aus Wein und Blut gebildet haben. Friedrich dachte wohl, Elisabeth sei tot, rief die Polizei an, und erzählte denen, er habe gerade seine Frau umgebracht. Der Polizist konnte noch nach dem Nachnamen fragen, und fuhr sofort mit einem weiteren Polizisten los. Elisabeth war noch nicht tot, aber sie starb, bevor der Krankenwagen kam. Das alles hat mir der Polizist erzählt, der an dem Abend Dienst hatte, als er einmal hier in der Kastanie war. Er sagte, dass sich durch den Schlag mit der Flasche Elisabeths Nasenbein in das Kopfinnere geschoben hätte.“
„Das ist ja grauenvoll. Weiß wirklich niemand, ob es Absicht war?“ Marcus flüsterte beinahe und stürzte das Kirschwasser herunter.
„Nein, das weiß bis heute niemand.“
Jacob war etwas schlecht vom Kirschwasser. Er dachte an seine Eltern. „Sie sagten doch, der Bruder von Marie hat sich das Leben genommen.“
„Das ist der schlimmste Teil der Geschichte. Es ist auch der skurrilste Teil. Friedrich ging in den Buchladen, direkt nachdem er den Hörer aufgelegt hatte. Er suchte einen Stapel Bücher zusammen, nahm aus dem Kofferraum seines Autos, das hinter dem Laden geparkt war, das Abschleppseil und ging auf den Friedhof. Er muss sich wohl auf die Bücher gestellt haben, um sich zu erhängen. Als die Polizei ihn zwei Stunden später an einem Ast einer dicken Eiche hängend fand, lagen unter ihm dicke Bücher, fast alles große Bildbände mit Fotografien aus Afrika und Australien. Das skurrile war, dass die Eiche direkt neben dem Grab von Elisabeths Vater steht. Ihr wisst schon, der Assistent vom Mengele.“
Jacob und Marcus sagten nichts. Der Wirt senkte seinen Kopf und putzte erneut seine Brille. Dann erhob er sich schwerfällig und wankte etwas. Er nahm das Kirschwasser und ging langsam zur Theke.
Marcus sah Jacob mit hochgezogenen Augenbrauen an und drückte dabei seine Zigarette aus. Er zog seine Jacke an. „Ich muss los. Kommst du mit?“
„Sicher.“ Jacob band seinen Schal um, zählte das Geld für das Bier ab und legte es auf den Tisch. Er schaute zur Theke hinüber. Der Wirt zapfte wieder Bier für die beiden alten Männer, die vor ihm saßen und immer noch schwiegen.
„Danke nochmals für das Kirschwasser, es war sehr gut“, sagte Marcus. „Ich habe aber noch eine Frage.“
Der Wirt schaute auf. „Und was?“
„Wo sind denn jetzt die Kinder von Elisabeth Weiß? Sind sie nicht bei der Pech-Marie? Das ist doch ihre Tante, oder? Ich meine, zumindest rechtlich gesehen – selbst, wenn der andere Mann der Vater der Kinder war.“
Der Wirt atmete schwer. Er sah aus, als hätte ihn die Erzählung viel Kraft gekostet.
„Das weiß ich nicht, bei Marie sind sie aber nicht. Man hat mir erzählt, dass sie bei Pflegeeltern sind. Marie konnte den Anblick der Kleinen nicht ertragen. Sie schleppt das alles immer noch mit sich rum. Ihr habt sie ja vorhin erlebt.“
„Allerdings“, erwiderte Marcus, „danke noch mal für den Schnaps, aber wir müssen jetzt los.“
„Ja, danke noch mal, und ein Frohes Fest wünsche ich“, sagte Jacob und er ging mit Marcus zur Tür.
Der Wirt nickte. „Danke, euch auch. Wir sehen uns spätestens nächstes Jahr“, murmelte er.
Die beiden gingen ins Freie. Marcus senkte den Kopf, als sie losgingen. „Mir ist etwas schlecht von dem Kirschwasser. Dir auch?“
„Ja, etwas. Glaubst du dem Wirt die Geschichte? Er sah so traurig und müde aus.“
Marcus hustete und zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht.“
Es hatte angefangen zu dämmern, als Jacob wieder vor der Tür seines Elternhauses stand. Er schloss die Tür auf. Es war warm in der Wohnung und Jacob hörte seinen Vater in der Küche.

 

Hallo georg79,

Jacob stieg aus dem Bus, der in der Parallelstraße zu seinem Elternhaus hielt. Er schulterte die schwere Reisetasche und sah auf die Uhr. Es war zwei Uhr mittags und er war erst um vier mit seinen Eltern zum Kaffeetrinken verabredet. Es war Heilig Abend und in den Straßen waren nur wenige Passanten unterwegs. Jacob überlegte, ob er noch einen alten Freund besuchen sollte. Er wohnte in der gleichen Straße, wo auch seine Eltern wohnten. Marcus und er kannten sich seit der Grundschule und waren bis zum Abitur eng befreundet gewesen.
Der erste Absatz wirkt unlebendig und ein wenig wie ein Schulaufsatz.
Schon der erste Satz mutet seltsam an, Jacob stieg aus dem Bus – okay. Aber wozu muss ich wissen, dass der in einer „Parallelstraße“ hält? So ein unwichtiges Detail gleich im ersten Satz, der doch die Visitenkarte jeder Geschichte ist?
Er schulterte die schwere Reisetasche – da könnte man zum Beispiel, sich überlegen, wie man das „schwere“ in die Handlung mit einbaut, damit man nicht nur schreibt „Schwer“; sondern dass der Leser das auch sieht. Zum Beispiel: Er wuchtete die Reisetasche über seine Schulter und sah mit gebeugtem Rücken auf die Uhr.
Dann die nächsten Sätze sind so ein „Es war“: es WAR zwei Uhr Mittags und er WAR … Es WAR Heiligabend … WAREN nur wenige Passanten; dann überlegt er noch (aber von außen wird das gezeigt), dann wird gesagt, wo er wohnt, und Marcus und er WAREN befreundet.
Da entsteht keine Dynamik, da bewegt sich nichts.

Er mochte den Geruch der Wohnung.
Damit kann ich als Leser nichts anfangen, irgendeinen Hinweis wie die Wohnung riecht, brauch ich schon.

Okay, das war rein handwerklich nix. Die Rahmenhandlung ist völlig uninteressant, da passiert gar nix. Und die eigentliche Geschichte wird dann als Botenbericht aus dritter Hand erzählt, zusammengefasst und gerafft, ohne sinnliche Erlebnisse, da kommen überhaupt keine Bilder auf. Die beste Passage der Geschichte ist, wenn die beiden in die Kneipen kommen und der Pech-Marie begegnen. Aber sobald der Wirt dann anfängt aus dritter Hand die Geschichte in der Geschichte zu erzählen, wird’s auch wieder schwächer. Vorschlag: Jacob und Markus fliegen aus der Geschichte raus, der Wirt fliegt raus, alles fliegt raus und der Kern der Geschichte, die Geschichte, die der Wirt erzählt, wird auch richtig erzählt. Direkt, und nicht indirekt. Da braucht es keinen Erzählrahmen dazu.

Gruß
Quinn

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom