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Böse
01 Genesis
Etwas unterschied mich immer von den anderen und es war nicht der Glaube an Gott, der in dieser heidnischen Zeit einer Glühbirne im Mittelalter gleicht. Nein. Es war mein Verstand, wie ich dachte, wie ich fühlte. Und genau an jenem Unterschied drohte ich zu zerbrechen. Ich flüchtete mich in die Bibel; schließlich in meine eigene Welt, die mir eine zeitlang das gab was ich brauchte. Nur eine zeitlang...
02 Die Geburt des Boten
Unter den Schlägen meines Vaters, unter den Demütigungen meiner Freunde und unter der Abkehr meiner Mutter, rief ich nach Hilfe. ich sehnte mich nach den süßen Gesängen der Engel, nach ihrem strahlenden Lächeln und dem reinen Glanz ihrer Augen, der Nacht und Finsternis durchbrechen konnte. Doch die Engel erhörten mich nicht, ihre Flügel breiteten sich nicht über mir aus und das Leben ging in Pein und Qual an mir vorüber. Ich versuchte mich zu erlösen, mit Klingen und Stricken, doch auch der Tod kam nicht zu mir und so erwachte ich an jedem Morgen neu, ausgepeitscht und verhöhnt. Die Engel lachten über mich; die Menschen spieen mich an.
03 Sündenfall, Fluch und Verheißung
Ich zerbrach; mein Verstand zerbrach und die Musik, das Lebensgefühl meiner Welt; verhallte in den unendlichen Weiten meiner malträtierten Seele. Ich verwarf alle Hoffnungen, alle guten Gedanken und verachtete alle Blinden, Tauben und Lahmen, die noch daran glaubten. Freiheit beginnt im Kopf...und nur noch dort sah ich mich.
Ich lebte einst das Leben eines Katholiken. eines Frommen, eines Menschen, der die Worte Gottes und die Lehren seines Sohnes befolgte. Doch Schmerz und Pein ließen mich an einem dunklen Ort verweilen. An einem Ort, dessen Existenz die Kirche leugnet. Aber an jenem erlangte ich die wahre Sicht der Dinge. Erkannte den Sinn des Seins und sah den Weg meines Lebens vor mir liegen. Ich sagte Guten Tag. Ich grüßte den Teufel in mir. Ich wendete mich ab. Verabschiedete mich von den Engeln und beschritt den Pfad, der mich in die Freiheit führte.
04 Berufung des Suchenden
Des Nachts, in Schweiß gebadet, hörte ich aus der Dunkelheit eine Stimme. Sie verkündete meine Erlösung und ich sah das Bild eines Engels, der im strahlenden Licht der alles überflutenden Sonne auf einem Hügel stand und seine weißen Schwingen scheinbar unendlich in die Welt hinausstreckte. Die Stimme flüsterte: „Es gibt Menschen. Es gibt Engel und es gibt Teufel. Die Menschen sind eine Laune, ein Unglück das über uns gekommen ist. Sie können dir nicht helfen. Engel sind eingebildete Geschöpfe, die sich in der Herrlichkeit des Einen sonnen. Und wir. Die Teufel, sind die Gefallenen, die nicht dem Wahn der gedachten Freiheit folgen, die sich nicht den Regeln der anderen unterwerfen. Wir können und wir werden dir helfen.“
Das Bild um mich herum verschwand und ich fand mich in einem Feld voll blühenden Mohns wieder. Eine rote Masse aus Blüten, als blute die Natur, als blute Mutter Erde. Wind strich über das Feld und der rote Mohn tanzte unter dem weißen Himmel, getaucht in die Farbe von reinem Schnee. Aus ihm fiel der Regen. Schwarz wie die Nacht. Seine dicken Tropfen nässten mein Haar und brachen die Blätter des Mohns. Nur rot, nur weiß, nur schwarz.
Wieder sprach die Stimme.
„Reiße nieder deine Mauern, die du selbst erbaut. Im Schweiße stehend sind sie erstanden und sollten dich auf ewig schützen. Doch was folgte war die Isolation und darauf die Leere.
Du denkst sie gibt dir Platz, doch erdrücken wird sie dich. Denn die Erfüllung liegt hinter deiner kranken Seele und noch hinter deinen faulen Träumen. Fliehen kannst du auch nicht mehr, denn deine Gitter hast du selbst geschmiedet. Du hoffst auf Glück und andere, doch erwarten wird dich die Einsamkeit. Bäume dich auf, noch einmal, höre auf deinen Willen, stärker als dein verkümmerter Verstand und scheue deine Angst. Breche Siegel und Schlösser und lauf hinaus. Das Paradies wird dich nicht erwarten, doch selbst die Hölle ist mehr als das Nichts.
Folge den Stimmen!“
In meinem Kopf hörte ich eine Musik. Aber keine Instrumente, sondern Verse und Reime, vorgetragen von Kindern und Chören aus hellen, unschuldigen Stimmen.
„Mache dich auf“, sprachen die Stimmen, „erklimme den Hügel und töte den Engel. Ist sein Blut vergossen, ist deine Seele frei.“ Und so machte ich mich noch in der gleichen Nacht auf den Weg, die versprochene Freiheit zu erlangen und den Engel aus dem Himmel zu holen. Wie das Pflücken einer überreifen Frucht...
05 Unter Kindern wandelt der Suchende
Mein Weg führte mich durch die Gänge meines Hauses, dessen weiße Wände mich an das Bild des Engels erinnerten. Es war ruhig und nur hier und dort waren Stimmen zu hören. Ich sah jetzt die Engel, wie sie gelassen durch mein Heim irrten. Ich sah auch die Teufel, wie sie mir zulächelten und mir Mut machten. Doch ich suchte nicht irgendeinen Engel, sondern den in Menschengestalt, geboren im Geschlecht des Herrlichen und die Kinder kündeten von seiner Gegenwart, denn ihre Stimmen wurden lauter.
Eine Tür sprang auf und hinaus trat eine Frau. Sie trug ein blaues Hemd und ihre Haare fielen wirr um ihr Haupt. Ich sah sie lange an, genau wie sie mich und dann erkannte ich es. Die Kinderstimmen bestätigten es. Sie war der Engel in der Haut eines Menschen. Mit ihrem Tod würde meine Seele die Freiheit erlangen. Ich packte sie fest, und nahm sie mit in mein Arbeitszimmer. Meine starke Hand unterdrückte ihre Schreie und die Teufel begannen sich um mich zu scharen. Sie warteten...
06 Das Strafgericht
Sie zeterte. Sie kämpfte. Sie flehte. Ihr Verstand arbeitete, doch nie würde sie den Sinn erkennen. Sie glaubte wahrscheinlich, dass der Wahnsinn über mich gekommen sei, doch ich hatte eine Mission zu erfüllen. Das Böse waren die Engel und ich hatte geschworen, das Böse zu bekämpfen. Sie war das Siegel. Sie war das Schloss. Ich musste es brechen, denn dann war die Freiheit mein. Kein Mensch konnte uns hören. Kein Mensch konnte uns sehen und so nahm ich im Zwielicht eine Klinge zur Hand und führte ihre Spitze langsam über die Haut des Engels. Tränen liefen aus ihren Augen und stoßweise drang ihr Atem durch die laufende Nase. Ich fühlte mich gut. Ich spürte, wie sich mein Geist füllte, mit der Liebe der Teufel und der unsagbaren Freiheit, die langsam an Form gewann. Um mich herum sammelten sich nun die Gestalten der Engel und der Teufel. Beide machtlos in diese Welt einzugreifen. In den Gesichtern der Engel stand Entsetzen und Missgunst, während die Teufel tanzten und sich im Kreise drehten. Kinderstimmen begleiteten ihren Tanz. Ich fühlte ein Lächeln, ein Grinsen, ein Lachen, denn die Frau gebar ihr wahres Antlitz. Flügel wuchsen aus ihrem Rücken und das Grün ihrer Augen wich einem strahlenden Gold. Ihr Anblick spottete jeder Beschreibung, die manifestierte Herrlichkeit, doch ebenso jämmerlich war ihre Existenz. Wie sie da saß, gefesselt. Nass von eigenen Tränen und Rotz.
Die süße Spitze des Messers ritzte Linien in die weiße Haut. Rein und unschuldig war sie schon lange nicht mehr und die Sühne dessen, die Vergeltung dessen, kam nun über sie in der Gestalt des freiheitssuchenden Menschen, der zu den Teufeln sprach und der die Kinder hörte.
Langsam fuhr ich mit der Klinge ihren Unterarm hinauf, folgte der Stimme ihres Blutes, hinauf bis an die Kehle. Dort drang der Stahl mühelos durch die Haut, durch das dünne Fleisch und zertrennte die Ader. Blut ergoss sich aus ihrem Hals. So rot wie Mohn floss es über ihre Haut, so weiß wie Schnee. Ich betrachtete ihr Gesicht, voller Angst und Entsetzen. Das Gold der Augen verblasste, das Leben wich. Die Frucht war gepflückt. Die Engel verschwanden in Trauer. Die Teufel blieben und ergötzten sich am toten Körper des gefallenen Boten, während die Kinderstimmen langsam, einem Echo gleich, verhallten.
07 Die geheime Offenbarung des Suchenden
Es klopfte.
Und die Tür öffnete sich einen Spalt breit. Tageslicht flutete herein und in diesem Licht tauchte ein Kopf auf.
„Sir. Es wird Zeit. Wir haben schon zehn Uhr.“
Ich warf die Klinge zu Boden. Der metallische Ton wurde vom Blut gedämpft.
„Sir. Sie müssen wirklich damit aufhören. Wer war es diesmal? Ihre Sekretärin, ihre Köchin?“
Ein weiterer Mann kam auf mich zu. Schwarzer Anzug, schwarze Krawatte und ein weißes Hemd. Bei genauerer Betrachtung fand ich ein rotes Muster in seinem Schlips und ich konnte ein heiseres Lachen nicht verbergen. Es war der Außenminister.
Ich begrüßte ihn.
„Ah! Wie sieht es aus. Sind wir mit den Friedensverhandlungen schon voran gekommen?
Aber alles der Reihe nach. Waren sie schon in der Kirche?
Ich hoffe, sie haben einige Münzen in den Klingelbeutel geschmissen, denn Gott braucht einen neuen Engel.“ Er wusste darauf nichts zu erwidern und verbarg seine peinliche Ahnungslosigkeit hinter einem heuchlerischen Lächeln.
Die beiden Männer schritten gemeinsam durch die langen Gänge des weißen Hauses. An der Fußspitze des Präsidenten klebte ein kleiner Tropfen roten Blutes. Der Mann, der ihn vorhin aus seinem Arbeitszimmer herausgeholt hatte, kam nun eilig hinter ihm hergelaufen.
„Entschuldigen sie, Mr. President.“ Er beugte sich nieder und wischte den Fuß mit seinen bloßen Händen ab. Noch bevor er sich wieder erhob, deutete er mit einem Nicken zu den anderen Männern des Secret Service, die darauf in das dunkle Zimmer eilten, um aufzuräumen. Der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika ist über jeden Zweifel erhaben; wurde ihnen eingebläut und alles was seiner Integrität im Wege stehen könnte, müsse vor den Augen der Öffentlichkeit verborgen werden.
Noch bevor der Tag zuende ging, waren die Gespräche über die Friedensverhandlungen im nahen Osten beendet und als schließlich die Nacht über Washington hereinbrach, lag der Präsident schlafend in seinem Bett und träumte von roten Wiesen, die im Sonneschein vor ihm lagen. Kinderstimmen sangen ihm dabei ein Lied: „Nur noch wenige und du bist endlich frei!“